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Antonio Muñoz Molina von Katja Schickel

11. Internationales Literaturfestival Berlin 2011

 

Der spanische Schriftsteller stellte seinen neuen Roman vor: Die Nacht der Erinnerungen, eine kluge und bewegende Geschichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg, über den Zusammenbruch aller Sicherheit, die schiere Gewalt und die Notwendigkeit des Erinnerns.

Fünfundsiebzig Jahre nach seinem Beginn ist der Spanische Bürgerkrieg immer noch ein heikles Thema, der feine, aber tiefe Riss durch die Gesellschaft spürbar, die Fronten sind verhärtet. Bis heute empfindet die spanische Rechte Franco nicht als Diktator - kein Wunder, viele, darunter die einflussreichsten Familien, haben unter ihm profitiert und sind daher nach wie vor sehr dankbar. Die Spanische Republik gab es bereits seit 1931, ein seltenes Staatsgebilde im damaligen Europa, und nur der Militärputsch der extremen Rechten gegen sie führte schließlich zum Bürgerkrieg. Das ist keine Meinung, insistiert Muñoz Molina im Gespräch, das ist eine historische Tatsache. Keine Seite will jedoch Verantwortung übernehmen für die Grausamkeiten, Verbrechen und Morde, die während des Krieges begangen wurden. Im Roman heißt es einmal: „Die Verzweiflung belagerte die Stadt.“ Keine Stadt war jemals zuvor dermaßen zerbombt worden wie Madrid. Die Falangisten hatten kräftige Unterstützung durch die deutschen Nazis und die italienischen Faschisten, die Republikaner wurden von der Sowjetunion Stalins unterstützt, die, über das militärische Kräftemessen mit dem nationalsozialistischen Gegner hinaus, den Spaniern auch die richtige ideologische Linie beibringen wollte. Muñoz Molina betont, dass die Republikaner politisch heterogen waren. Unter der Fahne der Republik hatten viele Platz: Sozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten, die in Spanien traditionell stark waren. Die einzelnen Regionen waren nicht einheitlich entwickelt, und in jeder gab es daher andere Projekte. Die Kommunisten führten schon bald einen internen, ideologischen Kampf, der die republikanische Einheitsfront zunehmend schwächte und zersetzte. Es siegten nicht nur die gegnerischen Waffen, gesiegt hatten darüber hinaus auch ein extremer Dogmatismus, der Terror, das Grauen und die Angst. Mindestens 1,2 Mio. Tote hat der Krieg gefordert, noch heute findet man Massengräber. Spanien, das war der Traum von Freiheit und Egalität vieler Menschen aus der ganzen Welt, und dieser Mythos hält sich bis heute. Für Jahrzehnte blieb es ein zerrissenes, unfreies Land. Aber vor allem war es das strategische Übungsfeld einer neuen Kriegsführung, das Austesten des eigenen wie des gegnerischen Potentials - am Vorabend des 2.Weltkriegs.

Madrid 1936: Ignacio Abel, ein erfolgreicher Architekt, der sich am Bauhaus orientiert, gerade mit Planung und Bau einer Universitätsstadt, einem Vorzeigeprojekt der neuen Republik, beauftragt, und vom Autor als pragmatischer Idealist vorgestellt wird, glaubt an demokratische Erneuerung durch sozialen Fortschritt, Bildung und gute Architektur. Sein Credo stammt aus einer Abhandlung über sie: Das Reine, Richtige, auf den Punkt Gebrachte, die Synthese. Er, aus einfachen Verhältnissen stammend, hat in den katholisch-konservativen Geldadel eingeheiratet, was ihn zwar finanziell unabhängig macht, aber ständig mit einer degoutanten Verwandtschaft konfrontiert; seine Ehe ist nicht unangenehm, und er liebt seine beiden Kinder. Als die junge Amerikanerin Judith Biely in sein Leben tritt, ist es um ihn geschehen. Judith ist blond, schön, elegant und jüdisch, eine attraktive junge Frau. Trotz einiger Hindernisse beginnt eine leidenschaftliche Affäre, die ihn und alle seine bisherigen Übereinkünfte über den Haufen wirft. Sie treffen sich in entlegenen Gegenden, in Bars und billigen Stundenhotels, später in einer Pension, in Kinos, wo die jeweilige Wochenschau über Berlin berichtet und über Moskau, über Militärparaden und den Rest der Welt, auch über Madrid. Nach dem Selbstmordversuch seiner Frau, die das Verhältnis entdeckt hat, setzt sich die zutiefst erschrockene Judith ab. Ignacio sucht sie überall in der Stadt und realisiert erst jetzt den Ernst der politischen Lage, die er in seinem Liebesrausch vorher kaum wahrgenommen hat. Madrid ist belagert, überall sind bewaffnete Menschen unterwegs, Kirchen und Läden brennen, exekutierte Leichen liegen auf den Straßen. Er begegnet seinem alten Bauhaus-Lehrer Karl Ludwig Rossmann (!), der als Fremder desillusioniert durch Madrid irrt, auf der Flucht ist, weil er sich tödlich bedroht fühlt und ihn dringend um Hilfe bittet, doch Abel will in nichts verwickelt werden. Später erfährt er von dessen Tod, Gewissensbisse quälen ihn. Seine Selbstsucht und Ignoranz ekeln ihn an. Während um ihn herum die Welt zu Bruch geht, hat er nur sich und sein gebrochenes Herz bedauert. Er hat kläglich versagt, die Gelegenheit, Menschlichkeit zu zeigen, verpasst. Immer wieder entdeckt er Gesichter, die er einmal kannte - sie sind entstellt, zertrümmert, mit Blut bedeckt. Einem Erschießungskommando entkommt er selbst nur knapp; mit einer Einladung nach Amerika gelingt es ihm, Spanien zu verlassen. Das ganze Land ist in unheilvoller Bewegung, alles ist auf der Flucht: waren es früher die Bilder der Armen, der Hungernden mit ihren aufgeblähten Bäuchen, denen die Republik ein lebenswertes Leben versprochen hatte, und die Ignacio nicht verdrängen konnte, sind es jetzt die Flüchtlinge mit ihren schäbigen Koffern, der zerschlissenen Kleidung, den kaputten Schuhen, die sich vor jeder Uniform fürchten. Nach seiner Ankunft in den Staaten versucht er Judith zu finden, er glaubt, sie als Beweis zu brauchen, dass er noch lebendig ist, kein Deserteur, kein Verschwundener, den die Erde verschluckt hat wie einen Leichnam, als könne nur sie seine Existenz beglaubigen. Und das herbeigesehnte Wunder geschieht, sie werden sich treffen: in der Nacht der Erinnerungen. Die Nacht des Totalitarismus bricht gerade über Europa herein. Sie hätten Zeit gebraucht, wie die Republik auch, aber die gab es nicht. Alles, was einmal Gegenwart war, ist längst dementiert und von den Realitäten eingeholt. Die Zeiten haben sich geändert, die Verluste sind nicht benennbar. Es ist mehr als eine Aussprache: Es geht um den Ursprung, den Anfang und das Ende von Liebe; die ungültig gewordenen Pläne und Versprechen, um persönliche Versäumnissen, Misstrauen und Eigennutz – um den Krieg, im Kleinen wie im Großen, um das Eingeständnis vollkommener Machtlosigkeit angesichts von Fanatismus und entfesselter Gewalt, das menschliche Versagen angesichts der vielen Toten - und immer wieder um die Frage, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, um die eigene Schuld. Der Autor bedient sich filmischer Mittel. Oft beginnt er mit einer Totalen und zoomt dann auf eine Person oder Menschengruppe, deren Erscheinungsbild, Körperhaltung, Mimik und Gestik er detailliert beschreibt. Was zunächst wie eine Engführung erscheint, ist eine Erweiterung des Blicks bis in die Gedankenwelt hinein, in der sich die Zeiten an keine Reihenfolge halten müssen. Es braucht keine künstlich erzeugten Rückblenden oder Vorgriffe. Ein Blick über die Stadt, das reiche Zentrum mit den großzügigen Avenidas, Parks und Plätzen, führt in enge Gassen, an die Ränder der Stadt, in denen die Armen leben; ein Schwenk über üppige oder karge Landschaften, fokussiert weiß getünchte Häuser oder graue Katen der Fronarbeit leistenden Bauern. Bald werden es Schlachtfelder sein, die Straßen Kriegsgebiet. Er entwirft Panoramen, aus denen er einzelne Figuren herauslöst, aus der Menschenmenge die einzelne Person: vom Allgemeinen zum Konkreten. Ignacio kann in den vielen Bildern keine Wahrheit  entdecken; nicht einmal ein Foto als Erinnerungsstütze hat eine Geschichte, ist lediglich eingefrorener Augenblick; es sind die Gegenstände, mit denen sich Menschen umgaben, die sie in Händen hielten, die körperliche Nähe auch in der Distanz herstellen, weil nur durch sie Individualität und Lebendigkeit aufscheinen. Muñoz Molinas Porträts geben nicht nur das Individuelle seiner Protagonisten wieder, sie zeichnen darüber hinaus ein genaues Bild der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen, aus denen Ideologien wurden, die Hunderttausende dazu brachten, für sie zu kämpfen und zu töten.

Der spanische Originaltitel: La noche de los tiempos lautet wörtlich übersetzt eigentlich 'Die Nacht der Zeiten' - und um verschiedene Zeitebenen geht es auch im Roman. Im Spanischen ist es allerdings eine Redewendung und meint etwas sehr lange Zurückliegendes, ein Damals, an das man sich nicht mehr genau erinnern kann oder will - etwas weit genug Entrücktes, um es verklären zu können, auch flapsig wie unser: Anno dazumal oder Es war einmal (aber ohne das folgende Märchen!).

Antonio Muñoz Molina: „Die Nacht der Erinnerungen“. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, geb., 1004 Seiten

Bio-Bibliographisches: *1956 im andalusischen Úbeda , Journalismus-Studium in Madrid und Kunstgeschichte in Granada. Arbeit in der Stadtverwaltung, 1986: Debütroman Beatus ille (dt. Beatus ille oder Tod und Leben eines Dichters, 1989) über die Suche eines jungen Doktoranden nach den Spuren eines im Bürgerkrieg zum Tode verurteilten republikanischen Dichters. 1987: Durchbruch mit dem Roman Un invierno en Lisboa (dt. Der Winter in Lissabon, 1991), einer Mischung aus Liebesgeschichte, Krimi und Hommage an die Jazzmusik. 1991: International bekannt wurde der Autor durch den autobiografisch geprägten Roman El jinete polaca (dt. Der polnische Reiter, 1995), Literaturpreis Premio Planeta. Es ist die Rekonstruktion der Geschichte von Mágina, seinem fiktiven Geburtsort in Andalusien. Muñoz Molinas besonderes Interesse gilt dem Spanischen Bürgerkrieg, dem Franquismus und der anhaltenden inneren Zerrissenheit der spanischen Gesellschaft.
Sein belletristisches Werk – zwanzig Romane und Erzählbände – ist in zwanzig Sprachen übersetzt, vielfach preisgekrönt (u. a. Premio de la Crítica, 1988, Premio Nacional de Narrativa, 1988 und 1992) und zum Teil verfilmt worden. Essaybände und Artikel und Blogeinträge. 1995 Berufung in die Real Academia Española. Muñoz Molina lebt mit seiner Frau Elvira Lindo in Madrid und New York City, wo er von 2004 bis 2006 das Instituto Cervantes leitete. - Die anderen, ins Deutsche übersetzten Bücher sind bei Rowohlt Berlin erschienen.

Sein Satz: Mir hat es nicht gereicht nachzulesen, wie diese Welt war; da ich sie nicht selbst erlebt habe, musste ich sie erfinden.

 

 

 

 



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