Auf dem Weg zur Demokratie
Luboš Jurík, Schriftsteller aus der Slowakei, schildert in seinem Roman den dramatischen Kampf Alexander Dubčeks für einen freien, menschlichen Sozialismus
Luboš Jurík, Der kurze Frühling des Alexander Dubček
Deutsch von Eva und Simon Gruber
Anthea-Verlag, jpc
599 S., € 16.90; ISBN-13: 9783899983012
Von Volker Strebel
Landläufig dient das Jahr 1968 als Synonym für die studentischen Proteste in den westeuropäischen Ländern. Seinerzeit hatte das von Alexander Dubček (1921–1992) eingeleitete tschechoslowakische Reformexperiment des „Prager Frühlings“ gesamteuropäische, ja weltweite Aufmerksamkeit und Begeisterung hervorgerufen. Während sich im Westen, nicht nur für linksorientierte Zeitgenossen im Reformvorhaben des „Prager Frühlings“ eine realpolitische Alternative für moderne Industriegesellschaften andeutete, verbanden die Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs die politischen Ereignisse in der ČSSR mit Hoffnungen auf Freiheit und die Aussicht auf eine vorsichtige Ablösung seitens der sowjetischen Hegemonie.

Staroměstské náměstí, Franz Goess
Der slowakische Schriftsteller Luboš Jurík unternimmt in seinem Buch Der kurze Frühling des Alexander Dubček einen überzeugenden Versuch, die Vorgänge des „Prager Frühlings“ von 1968 aus der Sicht Alexander Dubčeks zu bündeln. Dabei werden die gesellschaftlichen Hintergründe und innerparteilichen Vorgänge ebenso geschildert wie die bitteren Jahre im Anschluss an die gewaltsame Niederschlagung des Reformexperiments, als der abgehalfterte Alexander Dubček seinen Lebensunterhalt in der staatlichen Forstverwaltung verdienen musste und von der Staatssicherheit rund um die Uhr beschattet wurde.
Da Luboš Jurík die Form des Romans gewählt hat, kann er die packenden wie auch dramatischen Ereignisse im Politikerleben Alexander Dubčeks dialogisch aufbereiten und zudem in geschickt gewählten Rückblenden zum Leben erwecken. Ausgangspunkt ist der Krankenhausaufenthalt Dubčeks, als er im Herbst 1992 in Folge eines Autounfalls in das Prager Klinikum Na Homolce eingeliefert worden war. In Gesprächen mit seinem behandelnden Arzt, der engagierter Zeitzeuge der Ereignisse des „Prager Frühlings“ war, werden Schritt für Schritt entscheidende Etappen in Dubčeks Leben verhandelt. Für zusätzliche Spannung sorgen kritische Nachfragen des Arztes, nachdem er eine zunächst gewahrte Distanz aus Respekt vor der berühmten Persönlichkeit wie auch aus Sorge um den gesundheitlichen Zustand überwunden hat. Ein vollkommen anderer Zugang zu den verhandelten politischen Vorgängen wird durch die junge Schwester des Krankenhauses vermittelt, die keinerlei Ahnung von der historischen Bedeutung Alexander Dubčeks hat. Alexander Dubček sieht sich in seinen Gesprächen mit ihr gezwungen, in einer Art Perspektivwechsel jener jungen Generation gerecht zu werden, die in der ideologisch manipulierten Zeit der „Normalisierung“ herangewachsen war.
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21. August 1968
| | Prag
| | c) Josef Koudelka
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Den von Luboš Jurík inszenierten Dialogen und Monologen liegen neben ausgewerteten Dokumenten und Archiven zudem Berichte beteiligter reformkommunistischer Persönlichkeiten wie etwa von Zdeněk Mlynář, Ota Šik, Jiří Pelikán und anderer zugrunde, auf die er zurückgreifen konnte. Auf diese Weise können im vorliegenden Roman die Hintergründe, die zum Reformvorhaben eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ führten, in plastischer Weise gestaltet werden. Die politischen und ökonomischen Schwierigkeiten in der ČSSR waren zum Jahreswechsel 1967/1968 in einer Weise angestaut, dass eine neue Führung innerhalb der Kommunistischen Partei unabdingbar war. Mit Alexander Dubček an der Spitze waren die Hoffnungen auf ein kommunistisches Urgestein gesetzt. Da Dubčeks Eltern als begeisterte Kommunisten solidarisch am Aufbau des neuen sozialistischen Systems beteiligt sein wollten, hatte Alexander Dubček Kindheit und frühe Jugend in der Sowjetunion verbracht. Somit waren Dubček, neben der Begeisterung für die Errichtung einer gerechteren Welt zugleich die Schattenseiten des kommunistischen Systems bekannt. Diese Dialektik kennzeichnete zugleich seinen politischen Weg, einerseits loyal zu den Zielen des Sozialismus zu stehen und andererseits die Deformierungen, ja Verbrechen, schrittweise aufarbeiten zu wollen. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, in seinem Land einen modernen Sozialismus zu entwickeln, der ökonomisch effizient, kulturell aufgeschlossen und zugleich den Menschenrechten verpflichtet ist.
Luboš Jurík lässt Alexander Dubček über sein zähes Ringen mit Genossen in den eigenen Reihen berichten, die bedingungslos den Vorgaben der Sowjetunion ergeben waren. Die damals geführte Diskussion, ob der Reformkommunismus einen Verrat darstellt, oder im Gegenteil die eigentliche Entfaltung der sozialistischen Idee darstellt, wird im vorliegenden Roman an Dubčeks Krankenbett ebenso erneut entfaltet, wie der zuweilen vernehmbare Vorwurf politischer Naivität.
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... in Prag 1968 | | ... in Dresden | | Irgendwo in der DDR |
Zugleich wird das Tauziehen innerhalb der sozialistischen Bruderstaaten dargestellt, das bereits Ende März 1968 auf dem „Dresdner Tribunal“ zu einem ersten unangenehmen Höhepunkt gelangte. Besonders die Vertreter der DDR und Polens, Walther Ulbricht und Władysław Gomułka, überraschten durch ihren vehementen Auftritt gegen die „konterrevolutionären“ Vorgänge in Prag. Unter Führung des sowjetischen KP-Chefs Leonid Breschnew wurden Dubček und seine Reformer zusehends unter Druck gesetzt.
Die Invasion bewaffneter Truppen in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 traf Alexander Dubček ins innerste Mark. Auch hier werden Einblicke in interne Vorgänge bereitgehalten, wie etwa den abenteuerlichen Abtransport von Dubčeks Führungsmannschaft und die sich anschließenden Verhandlungen im Moskauer Kreml, die eher einer Erpressung ähnelten. Mit dem sogenannten „Moskauer Protokoll“ erhofften sich die Reformer noch Möglichkeiten, wenigstens das Schlimmste im eigenen Land verhindern zu können. Wer 1968 Dubčeks Ansprache an das Volk nach der Rückkehr aus Moskau gehört hat, wird sie nie vergessen. Gegen Tränen kämpfend, um Haltung bemüht – ein Stammeln mit quälenden Pausen. Die folgenden Monate sollten zeigen, dass dem Zwangsdiktat nicht zu entkommen war. Schrittweise wurden die Reformkommunisten entmachtet und in der von Gustáv Husák verantworteten Phase der „Normalisierung“, die zwanzig Jahre andauerte, bespitzelt, bedroht und politisch diskreditiert. Moskautreue Genossen wie Vasiľ Biľak oder Alois Indra hoben immer wieder hervor, dass sie Alexander Dubčeks Reformpolitik für unprofessionell und abenteuerlich gehalten hatten.
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... in der Menge | | mit Nachfolger Gustáv Husák |
Auch aus der politischen Isolation heraus verteidigte Alexander Dubček den sozialistischen Charakter seiner Reformpolitik. Er beharrte darauf, dass ein System, das in Friedenszeiten als Maßnahme einer vorgeblichen Konsolidierung mit einer halben Million Soldaten und rund 6.300 schwerbewaffneten Panzern in ein souveränes Land einmarschiert, jeglichen Anspruch auf Seriosität verwirkt hat. Um die hundert tschechoslowakische Staatsbürger verloren in diesen Tagen und Monaten ihr Leben, mehr als 500 waren zum Teil schwer verletzt worden.
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Dubčeks letzte Rede 1968 | | Comeback 1989 | |
Zu Wort kommen die bitteren zwanzig Jahre im Anschluss an den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in der ČSSR ebenso wie Dubčeks Hoffnungen, die sich an Michail Gorbatschows Reformpolitik in der UdSSR ausrichteten. Mit besonderer Genugtuung durfte Alexander Dubček im November 1988 an der Universität zu Bologna ein Ehrendoktorat entgegennehmen. Der damalige Rektor Fabio Roversi-Monaco begründete die Entscheidung mit den Worten:
„Wir verleihen Alexander Dubček diesen Ehrentitel im selben Geiste, wie wir ihn Menschen verliehen haben, denen es gelungen ist, ihre Nationen auf dem Weg der Demokratie zurückzuführen“.

Dubček war bewusst, dass es sich bei der Universität Bologna um die älteste Universität Europas handelte. Hier schließen sich auch die Schicksalswege, zumal es sich bei Dubčeks Reformpolitik, bei allen Fehleinschätzungen, die es gegeben haben mag, in letzter Konsequenz um eine Unternehmung handelte, die dem europäischen Gedanken der Humanität und Zivilisation geschuldet war.
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Alexander Dubček... | | ... mit Václav Havel, 1990 |
© Volker Strebel, mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung: www.literaturkritik.de
Weitere Texte von Volker Strebel: Kafka in Kalpadotia; Josef Capek; Noch einmal Vaculik; Günter Kunert; Daniil Granin, Roman; Arbeitslager Workuta; Emil Hakl; Literatur-slowakisch; Ahoj und guteReise; Vaclav Havel
