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Antje Rávic Strubel - Eine Rückreise 


Es gibt in unserem Land und auf dieser Welt ein Übermaß an Vergewaltigungen und Brutalität, die sich gegen Frauen richten, und doch wird das fast nie als Problem des Bürgerrechts oder als Menschenrechtsproblem betrachtet, nie als Krise oder auch nur als ein Muster. Gewalt hat keine Rasse, keine Klasse, keine Religion oder Nationalität, aber sie hat ein Geschlecht. Rebecca Solnit



Land und Meer sind in ein rosablaues Licht getaucht, als das Flugzeug abhebt, das Abschiedsgeschenk Helsinkis, eine grandiose Ausnahme. Von Oktober bis Dezember war es grau. Jetzt werden die Tage länger, aber Wälder und Seen, über die der Schatten des Fliegers gleitet, sind schneebedeckt. Die Ostsee ruht unterm Eis. „Und nicht mehr zu sprechen, das dauert ein Leben zu sagen.“ Diese Zeile Gunnar Björlings geht mir durch den Kopf, ein Finnland-schwedischer Dichter, der eine der großen Entdeckungen ist, die ich meinem halben Jahr in Helsinki machte. Melancholie erfasst mich.

Ich bin hier zu Hause gewesen. Damit meine ich den Ort, der in meinem Inneren einen Widerhall findet. Der Ort, an dem ich mit mir selbst im Einklang bin, an dem das Gefühl des Unbehaustseins in der Welt abklingt. Nicht immer stimmt mein Zuhause mit dem Ort überein, an dem ich eine feste Adresse habe, in einem Sportstudio angemeldet bin und Steuern zahle. Aber immer bin ich dort zu Hause, wo ich nicht bin, wo die Definitionen, derer ich mich bedienen muss, sobald ich spreche, fließend sind, wo ich Zuschreibungen entgehe, die mich von der Mitte der Gesellschaft aus zur Randerscheinung machen, zur anderen, um deren Rechte noch immer im Abgleich mit dem einen, scheinbar ewigen Recht gestritten werden muss; Auftritt der Nischenbewohner in einer weitgehend von älteren, westdeutschen weißen Männer geregelten Realität. Denn auch in Zeiten, in denen die Vorsilbe post vor allen gedanklichen Umstrukturierungsbemühungen den Anschein von Gelingen geben, setzen die gesellschaftlichen Strukturen den hetero-normativen Mann weiterhin in der Rolle des universalen Menschen ein. Im seltenen Fall einer Diskussionsrunde, Talkshow oder Expertendebatte, in der nicht in der Mehrzahl Männer sitzen, kommt sofort die Frage auf: „Ist heute Frauentag?“ Und wie groß ist die Überraschung, wenn die, deren Herkunftsland nicht Deutschland ist, über das Gesundheitssystem oder die Energiewende debattieren statt über Integration. Fremde Erscheinungen wie diese lösen Alarm aus; Schatten, welche die strahlenden Bastionen von Familie, Sicherheit, Werten oder Männlichkeit verdunkeln.

Ich könnte Augen und Ohren verstopfen, ich könnte Schlupflöcher suchen, mich in einer Subkultur einrichten, wozu gibt es Großstädte? Ich könnte im Privaten verweilen, wo Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit nur mehr Zitate sind, inszenatorisch verwendet im Spiel des Begehrens. Und nicht mehr zu sprechen. „Deine Hand ist in der Zukunft“, sagte ein Fremder in einer Bar in Hakaniemi zu mir, einem nüchternen Viertel Helsinkis. Aber was nützt mir eine Hand, wenn Kopf und Körper gegenwärtig bleiben müssen?, denke ich, während wir die Schärenküste überfliegen in Richtung offenes Meer.

Ich bin auf dem Weg zurück in ein Land, das eben very gerMAN ist, wie die amerikanische Kulturkritikerin Luce Ovide sagte in Anspielung auf die in den Fünfzigerjahren angesiedelte Serie Mad Men. In eines der rückschrittlichsten Länder Europas, wie eine schwedische Freundin angesichts der vielen (west-)deutschen Vollzeit-Hausfrauen bemerkte in einem Staat, der wundersamerweise noch immer die bürgerliche Kleinfamilie steuerlich stützt, statt durch Unterstützung des Einzelnen verrostete Hierarchien auszuhebeln und der Vielfalt des Zusammenlebens gerecht zu werden. Ich kehre zurück auf diesen außergalaktischen Planeten, wie finnische Wissenschaftlerinnen am Kolleg der Universität Helsinki befanden, als sie erfuhren, dass der Begriff der Rabenmutter noch zum aktiven Wortschatz gehört.

Ich kehre zurück in ein Land, für das ich mich im Ausland rechtfertige. Rechtfertigungen, die nicht selten zu Verrenkungen führen. Wie erkläre ich denn eine Institution wie die Akademie der Künste, die mit ihren sechzig Männern und sechs Frauen schon lange keine Realität mehr abbildet, oder die Akademie für Sprache und Dichtung mit zweihundertfünfzig zu fünfzig? Sollte nicht wenigstens die Kunst – ihrer Zeit voraus – gesellschaftliche Möglichkeitsformen beherrschen: Avantgarde, statt retrogarde? Wie erkläre ich eine Formulierung wie „bekennende Feministin“, die offenbart, dass es in Deutschland als rufschädigend oder geschmacklos gilt, feministisch zu sein, wenn eine urdemokratische Regung solchen Kampfeswillen nötig hat? Ist Deutschland nicht demokratisch? Wie rechtfertige ich ausgerechnet jetzt, dass Deutschland mit Indien gleichauf liegt? Der Anteil an Frauen in Vorständen beträgt in beiden Ländern zwei Prozent.

Die New York Times fand vor nicht allzu langer Zeit eine unangenehme Begründung für diese rückwärtsgewandten Strukturen. In Deutschland sei man das Abbild der Hitler-Familie noch immer nicht losgeworden: „Female mother cult and male fraternity. These mental stereotypes have not yet been culturally processed and purged.“ – Das ist seltsam in einem Land, das seine Geschichte von Totalitarismus und Diktatur so vorbildlich aufarbeitet, dass sich auch in gebildeten, bürgerlichen Kreisen eine Ermüdung breitmacht, die das Israel-Bashing schon wie eine salonfähige Auflockerungsübung wirken lässt.

Die Ostsee ist wolkenverhangen, die Sicht wird schlechter. Ich schlage zur Einstimmung die deutschen Zeitungen auf: Die Normalität von Herrenwitzen und sexueller Belästigung ist ins Kreuzfeuer geraten. Die mainstreamige Israel-Kritik steht unter Generalverdacht. Und eine Berliner Wissenschaftlerin am finnischen Kolleg scheint nicht nur bei mir, sondern bei der deutschen Öffentlichkeit Gehör gefunden zu haben, als sie erzählte, dass viele ihrer Freunde anderer Herkunft oder Hautfarbe regelmäßig festgenommen werden, auf der Straße, im Park; ohne Anlass, aber nicht ohne Grund: wo multiethnische Freundeskreise oder Arbeitskollektive große Ausnahme sind, gibt es ein Rassismus-Problem. Die Anlässe für jede der heiß geführten Debatten sind entweder skurril (Broder als Rabbi-Flüsterer), vergleichsweise harmlos, wie einst die Weigerung Rosa Parks, im Bus aufzustehen, oder sie setzen an der falschen Stelle an (man müsste nicht nur Lindgren, sondern einschließlich der Bibel die gesamte Literaturgeschichte umschreiben).

Aber was da aus den Zeitungen dringt, kündet von einem: In diesem Land tut sich etwas! Unzählige Einzelereignisse, viele von ihnen schwerwiegender, sind diesen Anlässen vorausgegangen. Aber nur scheinbar sind sie ohne Konsequenzen geblieben. Denn durch die Wiederholung ist ein neues Sehen entstanden, das sich auf einmal Bahn bricht, denke ich, als die Wolkendecke unter mir aufreißt. Jede Wiederholung ist immer auch eine Abweichung. Sie geht über das Wiederholte hinaus, weil die Zeit, in der sie stattfindet, eine andere ist. „Wiederholung ist eine Erinnerung in Richtung nach vorn“, sagt Kierkegaard. Sie ermöglicht Veränderung.

Plötzlich gehen einem die Augen auf, das Normale erscheint als Extrem. Dominique Strauß-Kahns sexueller Übergriff oder Michel Friedmans Verwicklung in Frauenhandel gilt nicht länger nur als Charakterschwäche Einzelner innerhalb des Üblichen. Abbildungen barbusiger Frauen oder in Unterwäsche pornografisch enthüllter weiblicher Körper auf Zeitungen oder Plakaten, die mich schon immer daran erinnerten, dass ich jederzeit verdinglichbar bin, konsumierbares Objekt, manchmal mit Preisschild versehen (Plakate, auf denen zum Coffee to go auch ein Schwanz für 5,99 Euro angeboten würde, wären ein Äquivalent), machen nun vielen klar: Zwischen einer dem Käuferblick dargebotenen nackten Frau und einer versklavten besteht nur ein gradueller Unterschied. Grell sticht der Zynismus einer Zeitung ins Auge, die den Verweis auf ihre Frauenfeindlichkeit für hochreflektierte, selbstironische Eigenwerbung hält. Der Jux, so begreifen jetzt nicht mehr nur ausländische Gäste, wurzelt in Menschenverachtung und Entwürdigung der Frau und des Mannes.

Dass dieses neue Sehen genug Menschen ergreift, um eine allgemeine Wahrnehmungsänderung zu bewirken, hat vielleicht mit einer Gegenwart zu tun, die stärker und unmittelbarer als früher gespeist wird von den Flammenherden anderswo: Vergewaltigung, Folter und Mord an der Inderin im Bus, Übergriffe auf Frauen auf dem Tahir-Platz, die den Freiheitsgedanken des „arabischen Frühlings“ ein für alle Mal zunichtemachten, Zwangsheirat, Ehrenmorde, der Klaps auf den Hintern oder verbale Anzüglichkeit, denke ich, all das wirkt von hier oben beinahe so eng verbunden wie am Computer, wo sich Entfernungen in ein paar Klicks auflösen. Was sich in Deutschland als Sexismus äußert, ist ebenso Teil einer zerstörerischen patriarchalen Umklammerung des gesamten Globus, wie die starke Reaktion darauf: Die autoritäre Selbstermächtigung, andere zu kontrollieren, trifft auf die Selbstermächtigung der anderen zu sprechen.

Nicht mehr sprechen zu müssen, denke ich, als die Anschnallzeichen erlöschen, das wird allerdings noch mehr als ein Leben dauern zu sagen, lieber Gunnar Björling.


© mit freundlicher Genehmigung der Autorin; Erstveröffentlichung: 15.02.2013, welt.de



Antje Rávic Strubel, *1974 in Potsdam, macht nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studiert danach in Potsdam und New York Literaturwissenschaften, Psychologie und Amerikanistik. In New York arbeitet sie nebenbei als Beleuchterin an einem Off-Theater, seit 2001 als freie Schriftstellerin.

 



Wenn ich schreibe, versuche ich, mir das eigene Denken (nicht das Wissen) sehr genau anzusehen. Um dann Sätze zu bilden. Und zu zweifeln. Und mit den Zweifeln Sätze zu bilden. Und zu hoffen, dass die Sätze tragen.

 

Werke - Einzelveröffentlichungen
Offene Blende. Roman. dtv, München 2001. ISBN 3-423-24251-5.
Unter Schnee. Episodenroman. dtv, München 2001. ISBN 3-423-24277-9.
Fremd Gehen. Ein Nachtstück. Marebuch, Hamburg 2002. ISBN 3-936384-01-0.
Tupolew 134. Roman. C. H. Beck, München 2004. ISBN 3-406-52183-5.
Kältere Schichten der Luft. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007. ISBN 978-3-10-075121-8.
Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest. dtv, München 2007. ISBN 978-3-423-24622-4.
Gebrauchsanweisung für Schweden. Piper, München 2008. ISBN 978-3-492-27556-9.
Sturz der Tage in die Nacht. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011. ISBN 978-3-10-075136-2.
Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg. Piper Taschenbuch, München 2012. ISBN 978-3-49-227604-7.

 

Übersetzungen
Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens. Roman. Claasen, Berlin 2006. ISBN 978-3-546-00405-3.
dies.: Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben. Roman. Claasen, 2008. ISBN 978-3-546-00409-1.
dies.: Blaue Stunden. Ullstein, Berlin 2012, ISBN 978-3-550-08886-5.

 

Hörspiele
Kältere Schichten der Luft, Deutschlandfunk, 2006
Tupolev 134, Südwestrundfunk, 2007
Klappersteine, Deutschlandfunk, 2009
 

Herausgeberschaften
Zeitzonen. Literatur in Deutschland 2004. Edition Selene, Wien 2004. ISBN 3-85266-233-8.

 

Viele Auszeichnungen und Stipendien, u. a.: Ernst-Willner-Preis, Roswitha-Preis, Hermann Hesse- Preis, Nominierung zum Preis der Leipziger Buchemsse; Stipendium der Villa Aurora - Los Angeles, Stipendium im Atelier Müllerhaus – Lenzburg, Schweiz.


Leseprobe

Gebrauchsanweisung für Brandenburg von Antje Rávic Strubel


Es schien das Abendrot / Auf diese sumpfgewordne Urwaldstätte /

wo ungestört das Leben mit dem Tod / Jahrtausendlang gekämpfet um die Wette. Nikolaus Lenau


Gärtner und Schweiger


An einem sonnigen Samstag im Oktober, das Laub der Obstbäume färbt sich, Apfelrot leuchtet weit über die Plantagen im Havelland, verkündet der Sprecher im RBB-Radio gut gelaunt: „Was immer sie heute auch machen, ob Sie die Hecke verschneiden, die Rosen anhäufeln, ob Sie auf Ihrem

Grundstück das Laub harken oder Holz für den Winter schlagen; hören Sie uns!“

Die Märker hören das, stopfen sich ein kleines Radio in die Tasche ihrer Wattejacken, die Füße in erdverklebte Gummistiefel und marschieren aufs brache Feld. In anderen Regionen gehen die Leute an einem milden, sonnigen Herbsttag vielleicht spazieren, sammeln Kastanien oder sitzen bei heißer Schokolade mit Rum in Decken gewickelt auf ihrer Veranda; in Brandenburg können sich selbst Radiomoderatoren ihre Hörer an einem solchen Tag nur beim Werkeln in Garten oder Hof vorstellen.

Für Neulinge ist das nicht so einfach. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein schönes Grundstück erworben, wollen Ihren ersten ruhigen Samstag in der frischen Landluft genießen, und dann kreischen rechts und links die Sägen los. Der Nachbar hinter ihnen schmeißt seinen benzinbetriebenen Rasenmäher an, in den Hecken klappern die Scheren, ein Häxler frisst kiloweise totes Holz, und selbst die distinguierten Leute auf der anderen Straßenseite haben sich in ihre alten Jeans gesteckt und hocken in den Bäumen, um Äste auszusägen. Das Laub rieselt Ihnen direkt in die Schokolade. Und schon ist es da, das schlechte Gewissen! Sie werden die Schokolade schneller trinken, und ehe zwei Wochen vergehen, werden Sie glauben, dass auch Ihre Hecke dringend verschnitten werden muss. Ich würde aus diesem Grund anregen, dass alle, die in Brandenburg ihren Wohnsitz anmelden, zur Begrüßung eine Heckenschere oder eine Kreissäge geschenkt bekommen. Das wäre ein erster Schritt in Richtung Integration.

Ein Kurs in Gartenarbeit könnte zusätzlich angeboten werden, ist aber nicht unbedingt nötig. Das läßt sich auch nachbarschaftlich regeln. Da kommt gern der Dirk von nebenan „ma auf’n Sprung vorbei“ und erklärt den Einsatz von ökologischem Düngemittel oder den Gebrauch einer Bügelsäge. Man darf nur keine ausgefeilten Gebrauchsanweisungen erwarten. Es geht hier nicht wie in anderen Landstrichen um die Freude am Reden oder um die Selbstdarstellung des Redners, sondern es geht allein um die Sache. Was, wie, wozu. Dafür reichen gewöhnlich Drei-Wort-Sätze. Die aber haben es in sich. Sie enthalten die Essenz langjähriger Erfahrung und werden von Nachbar zu Nachbar ganz im Sinne der alten Weisheit tradiert: „Nich labern, rannklotzen.“

Sich kurz zu fassen, ist eines der wesentlichen Prinzipien eines brandenburgischen Gesprächs. Die Themenvielfalt ist so groß wie überall; worauf es ankommt, ist, sie mit dem kleinstmöglichen Wortaufwand zu bewältigen. Schließlich hat der Mensch ja noch andere Sachen zu tun. „Jeht

allet seinen jeordneten Gang, wa. Na denn: rinnjehaun!“ Sich kurz zu fassen, bedeutet auch, sich nicht aufzudrängen. Die größte Peinlichkeit der nicht mehr ganz jungen Brandenburger wäre es, im

Mittelpunkt zu stehen. Bei den ganz Jungen, die übers Internet mittlerweile an die internationale Selbstdarstellungsplattform facebook angeschlossen sind, ist diese Art der Zurückhaltung zwar schon verwässert, aber wenn sie das Internet mal ausschalten, löst auch bei ihnen zu viel Aufmerksamkeit für die eigene Person noch Schamgefühle aus. Diese charakterliche Eigenart reicht weit in die feudalen Zeiten zurück. Schon der Soldatenkönig (Friedrich I.) schwieg vornehm über seine Taten, wie die ausländische Presse nach einer bekannt gewordenen Geldspende des Königs an die Armen lobend bemerkte. Taten zählen mehr als Worte, Handgriffe mehr als Bekenntnisse. Brandenburger halten ihre Taten sowieso für die besten und sind überzeugt, daß alle anderen das auch so sehen (wenn nicht, sind sie ihrer Taten nicht wert). Wozu es also an die große Glocke hängen? Das ist auch Fontane schon aufgefallen: Die Märker „haben in hervorragender Weise den ridikülen Zug, alles, was sie besitzen oder leisten für etwas ganz Ungeheures anzusehen.

Eine natürliche Folge früherer Ärmlichkeit, wo das Kleinste für wertvoll galt.“ Treue, Ehre und Pflichterfüllung, das sind Tugenden, die sich den Menschen in preußischen Landstrichen eingeprägt haben. Stilles Rackern, statt lautem Deklamieren. Schweigen und Arbeiten. Diese Maxime hatte schon der Soldatenkönig (Friedrich Wilhelm I.) vorgegeben. Seinen Sohn (Friedrich II.) ließ er wissen: „Der liebe Gott hat euch auf den Thron gesetzt nicht zum Faulenzen, sondern zum Arbeiten.“ Marlene Dietrich war ebenfalls der Überzeugung, dass ihr Erfolg nicht ihrer Schönheit zu verdanken sei, sondern dem zähen preußischen Arbeitsethos. Ohne Disziplin kein Star. Dass sie sich, als die Schönheit am Verfliegen war, in die eigenen vier Wände zurückzog, können nur Ahnungslose für Eitelkeit halten. Für Preußen ist klar: sich vierzig Jahre Exil aufzuerlegen, zeugt von eiserner Charakterstärke. Die Pflicht zu unterhalten beinhaltet eben auch, das Publikum nicht mit eigenen Schwächen zu belästigen.

Manche mögen sich fragen, wo da der Spaß bleibt. „Watt jibt‘s n hier zu lachen?“ war eine Formulierung, die eine befreundete amerikanische Übersetzerin schlagartig verstummen ließ, nachdem sie in lockerer Runde in ein für hiesige Verhältnisse ungewohnt lautes Lachen ausgebrochen war. Dass der Urheber dieses Kommentars das keinesfalls aggressiv, sondern vielmehr als gutherzige Erwiderung gemeint haben könnte, dass er etwa hatte sagen wollen: wie schön, dass du dich so freust oder es mag zwar nicht so aussehen, aber auch ich lache gerade aus Leibeskräften, bezweifelt sie bis heute. Betrachtet man Inschriften auf Grabsteinen der vorletzten Jahrhundertwende, die gelegentlich noch auf alten Dorffriedhöfen stehen, kann tatsächlich der Gedanke aufkommen, die Menschen dieser Region hatten rein gar nichts zu lachen. Das Leben der Verblichenen scheint die reine Qual gewesen zu sein. Abgerackert und geschunden, finden sie erst in ihrem unterirdischen Bretterverschlag ein bisschen Ruhe.

„Wer in Beruf und Pflicht wie du gestorben / Hat Leben sich durch seinen Tod erworben“, heißt es. Oder: „Mühe und Arbeit war ihr Leben, / Ruhe hat ihr Gott gegeben.“ Und lieben darf nur, wer schon im Sterben liegt: „Wer treu gewirkt / Bis ihm die Kraft gebricht / Und liebend stirbt, / Ach, den vergisst man nicht.“

Bei Menschen aus genussverwöhnteren Landstrichen kann da schon die Frage aufkommen, was eigentlich so schlimm sei an der Entvölkerung Brandenburgs, wenn die Leute sich hier sowieso nur zu Tode schuften. Da hocken diese Eigenbrötler auf ihrem Stück Land, so die Idee der Ortsfremden, werfen die Trecker an und drehen die Kreissägen auf, was aber eigentlich nur dazu dient, das Schweigen nicht hören zu müssen, das dröhnend über der Landschaft liegt. Die Leute sind unempfindlich, reisefaul, stur und kommunikativ so karg wie ihre märkischen Felder. Solcherart üble Nachrede müssen sich die Bewohner des Märkischen schon jahrhundertelang gefallen lassen. In einer Schrift aus dem 17. Jahrhundert heißt es, die Märker wären „unfreundliche Leute.“ Und ein Jahrhundert später wird ihnen ein „Hang zum Räsonnieren“ nachgesagt. Noch Peter Ensikat glaubte sich in Brandenburg in einem „Flachland der Gefühle“.

Das einzige, was an all diesen Einschätzung deutlich wird: sie kommen von Leuten, die keine Ahnung haben. Als Insider weiß man um die tiefe Skepsis, die den Brandenburgern eigen ist.

Die Skepsis gilt allem Menschlichen, speziell seinem Ausdruck, der Sprache. In der Melkanlage, am Hochofen oder auf dem Gurkenflieger wird nicht gequatscht, denn Quatschen kostet Energie. Und fürs Zwischenmenschliche taugt die Sprache nicht, weil die Worte nie so tief reichen, wie beim Brandenburger die Gefühle sitzen. „Da redet der Mund dahin, und das Herz weiß nichts davon.“ So lautet eine Weisheit aus der Gegend von Prenzlau. Smalltalk beherrscht hier niemand. Das Ideal heißt: wortloses Verstehen. Je wortloser zwei Menschen beieinander sind, desto inniger ist ihr Verhältnis. Wortkargheit ist also weder ein Zeichen für Stumpfsinn noch ein Zeichen dafür, daß die potentielle Gesprächspartnerin für unsymphatisch befunden würde. Es ist ein Zeichen von Glück. Erst im gemeinsamen Schweigen sind die Missverständnisse aufgehoben, gibt es keine Unsicherheit und keine Skepsis mehr. Nur ein Zugereister kann auf den nutzlosen Gedanken kommen, alles auszudiskutieren. Man macht die Dinge doch gemeinsam durch, wozu also noch groß drüber reden? Was sich zusammenschweigt, hält ewig. „Keiner ist in Treue stärker als der alte Uckermärker.“ So sagt es der Volksmund.


© Leseprobe: Piper Verlag; s. auch: www.antjestrubel.de;

Fotos: dtv/Zaia Alexander, S.Fischer/Zaia Alexander, Piper Verlag.



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