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Im Arbeitslager Workuta – Ein Fragment

Aus dem Nachlass von Horst Bienek

Vorgestellt von Volker Strebel



Horst Bienek: Workuta.

Mit einem Nachwort des Herausgebers Michael Krüger.

80 S., geb., € 14,90.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013. ISBN-13: 9783835312302









Horst Bienek (1930-1990) hat sich vor allem mit seiner Gleiwitzer Familiensaga einen Namen gemacht. In vier Romanen war er in das Oberschlesien seiner Kindheit zurückgekehrt, beschrieb das Neben- und Miteinander der Deutschen und Polen, das er selbst erlebte hatte.


Als 15-jähriger ist Bienek in der Nachkriegszeit gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Er lebt in Ostberlin, begeistert sich für Literatur, Kunst und Kultur – eine Leidenschaft, die ihn zeitlebens begleitet. Aus heiterem Himmel wird er als 21-jähriger am 8. November 1951 in Ostberlin verhaftet. Es folgen Haft, Verhöre und eine Verurteilung, ohne dass er einen Anwalt hinzuziehen darf. Das Urteil lautet: Zwanzig Jahre Gefängnis. Der Vorwurf: Spionage!

Der vorliegende Text aus dem Nachlass von Horst Bienek belegt, dass sich der Schriftsteller zu seinem Lebensende hin erstmals diesen Geschehnissen in reflektierter Weise widmet, um sie in literarischer Form aufzuarbeiten. In seiner pointierten Weise der Beschreibung nimmt Bienek die Leser mit in die nächtliche Zelle und zu den Verhör-Räumen. Absurde Situationen, die den Delinquenten einschüchtern und Angst erzeugen sollen. Das Gerichtstribunal stellt eine Farce dar, bei der Franz Kafka noch hätte dazulernen können.

Kontakte zur Außenwelt sind nicht erlaubt, selbst die Wochentage den Häftlingen nicht bekannt. Und dann setzt Unruhe ein: „Stiefel knallten lauter als sonst. Ein Laufschritt war zu vernehmen. Die Posten riefen sich etwas zu, was wir nicht verstanden. Es waren russische Wörter, die mußten etwas zu bedeuten haben“. Auch Bienek wird aus seiner Zelle geführt und einem Transport zugeteilt. Dass es letztendlich nach Russland geht, ahnen die Gefangenen erst während der Fahrt in der Eisenbahn. Die erste Station ist das berüchtigte Butyrka-Gefängnis in Moskau. Hier finden sich Häftlinge aus den verschiedensten Ländern und aus allen sozialen Schichten. Die Butyrka, schreibt Bienek, „war ein Querschnitt durch die Sowjetunion und aller der von Stalins Geheimpolizei NKWD beherrschten Länder“.

Mit einem neuen Transport, der wochenlang unterwegs ist, gelangt Bienek mit seinen Schicksalsgenossen in das verrufene Workuta, das am Polarkreis liegt. Entsetzt stellen die Gefangenen fest, dass in der Baracke Wanzen sind: „Die Pritsche war dick mit Wanzen besetzt, wie eine Bienentraube“.

Es folgen endloses Schuften im Bergwerk unter widrigsten Bedingungen, Hunger, Quälereien und maßlose Niedertracht. Besonders leiden politische Häftlinge wie Bienek unter den kriminellen Häftlingen, deren Skrupellosigkeit sich auch die Wachmannschaften zunutze machen.

In diesem Umfeld exzessiver struktureller Gewalt gedeihen Korruption und moralische Verwahrlosung. Der junge Bienek sieht sich zudem drohender sexueller Gewalt ausgesetzt, der er nur dank der Unterstützung einiger Kameraden entgeht.



Bemerkenswert ist die Vielzahl an Charakteren, die Bienek unter diesen widrigsten Umständen dennoch kennenlernt. Neben Anhängern der polnischen Heimatarmee Armia Krajowa, die gegen die Deutschen gekämpft hatten und von der Roten Armee später entwaffnet und entweder hingerichtet oder nach Sibirien geschickt worden waren, lernt Bienek Mitgefangene aus dem Baltikum kennen und einen Stationsarzt, der gut Deutsch spricht und gerade gegenüber den Deutschen sehr aufmerksam ist: „Ich glaube, er konnte immer noch nicht begreifen, warum die Deutschen die Juden ausrotten wollten. Aber er sprach davon, daß die Russen antisemitisch seien, es schon immer gewesen waren, und daß der NKWD jetzt wieder neue Pogrome vorbereitet“.

Nach fast vier Jahren kommt Bienek frei und siedelt sich in Westdeutschland an. Es ist bemerkenswert, dass Bienek in seinen Romanen, Erzählungen und auch Gedichten eine literarische Heimkehr in seine oberschlesische Kindheit aufbereitet, über seine Erlebnisse im sowjetischen Arbeitslager Workuta aber kaum ein Wort verliert.


Die politischen wie auch literarischen Ereignisse in den Ländern des real existierenden Sozialismus verfolgt er hingegen intensiv und kommentiert sie in kritischen Artikeln, Rezensionen und Stellungnahmen. Bienek ist ein Brückenbauer aus Leidenschaft, der sich den verfolgten und zurückgedrängten Stimmen aus Mittel- und Osteuropa widmet. Er ist der erste Gastdozent für Poetik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der im Wintersemester 1986/1987 fünf Vorträge hält, die seine Erlebnisse reflektierten und in ihrer künstlerischen Verarbeitung auslotet. Unter dem Titel Das allmähliche Ersticken von Schreien sind diese aktuellen wie brisanten Vorlesungen über „Sprache und Exil heute“ 1987 als Buch erschienen. Es sind jene elektrisierenden Jahre, in welchen in der Sowjetunion Michail Gorbatschow die Richtmarken „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestrojka“ (Umbau) ausgibt, nach denen eine radikale Reform des „realen Sozialismus“ durchgeführt werden sollen.

Als erstmals – ganz offiziell anlässlich der Feiern zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution - von Verbrechen die Rede ist, die unter Stalins Herrschaft begangen worden sind, wendet sich Horst Bienek an die Öffentlichkeit. In einem Offenen Brief vom 07. November 1987 an den Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, fordert er seine Rehabilitierung.


Wegen seines frühen Todes ist es Horst Bienek leider nicht mehr vergönnt gewesen, den Aufhebungsbeschluss der Obersten Militärstaatsanwaltschaft vom 01. September 1994 erleben zu dürfen. Dort wird unter Hinweis auf die spärlichen Anschuldigungen festgestellt, „daß Bienek, Horst unbegründet aus politischen Gründen verurteilt wurde“. Erst damit ist Bienek offiziell rehabilitiert!


© Text: Volker Strebel; Fotos: Wallstein Verlag, tlz.de; goldenline.pl 



(…) Es war still im Saal. Keiner wagte weiter zu sprechen. Nun stand der Mann doch auf. Er sagte: Sie haben viele Bücher geschrieben, haben wir gehört. Warum haben Sie nicht über Workuta geschrieben?
Ich schwieg. Ich wußte nicht zu antworten. Diese Frage hatte mir auch noch keiner gestellt. Ich habe in vielen Städten, auch im Ausland, aus der Zelle gelesen, und die Zuhörer sagten manchmal, wie schrecklich, wo haben Sie diese Zelle erlebt, und wie haben Sie das überstanden. Aber nach Workuta hat bisher keiner gefragt.
Ich bin nach Haus gefahren. Ich habe mich an den Schreibtisch gesetzt. Es waren 35 Jahre seitdem vergangen. Und seit 35 Jahren war mir das nicht mehr so nahe gewesen.
Ja, jetzt war es vor mir, als sei es erst gestern geschehen.
Ich wußte, jetzt muß ich darüber schreiben.“ (Auszug: Workuta, Wallstein Verlag)

 


Horst Bienek (1930-1990) war Schriftsteller, Künstler und Filmemacher. In den 1960er-Jahren arbeitete er u.a. beim Hessischen Rundfunk und als Lektor bei dtv, ehe er ab 1968 als freier Schriftsteller in München lebte. Bis 1990 leitete er die Literaturabteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Neben zahlreichen anderen Preisen erhielt er den Wilhelm-Raabe-Preis und den Jean-Paul-Preis.
 

Romane: Traumbuch eines Gefangenen,1957; Nachtstücke, 1959; Gleiwitzer Kindheit, 1965; Werkstattgespräche mit Schriftstellern;1962; Die Zelle; 1968, Bakunin. Eine Invention, Carl Hanser, München, 1970; Solschenizyn und andere Aufsätze, 1972; Die Zeit danach,1974; Gleiwitz. Eine oberschlesische Chronik in vier Romanen, Die erste Polka,1975; Septemberlicht, 1977; Zeit ohne Glocken,1979; Erde und Feuer, 1982; Gleiwitzer Kindheit. Gedichte aus 20 Jahren, 1976; Beschreibung einer Provinz. Aufzeichnungen, Materialien, Dokumente, 1983; Königswald oder die letzte Geschichte,1984; Der Blinde in der Bibliothek; 1986, Das allmähliche Ersticken von Schreien;1987: Reise in die Kindheit, 1988; Birken und Hochöfen. Eine Kindheit in Oberschlesien, 1990; Workuta. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Wallstein-Verlag, Göttingen 2013

Ausgewählte Gedichte: Bericht (Die Purga zerstört den Pfau, die Rose, die Sonne); Der Mythos Zeit (Der Mythos Zeit zerbricht in Scherben)

Hörspiele: Sechs Gramm Caratillo, HR 1960, Solo-Hörspiel mit Klaus Kinski; Einzelzelle DLF, 1966); Das Gesicht, das mein Gesicht gefangen hält, WDR, 1982.

Verfilmungen: Die Zelle (1970), Drehbuch und Regie: Horst Bienek; Die erste Polka (1978), Regie: Klaus Emmerich; Schloß Königswald (1987), Drehbuch: Horst Bienek, Regie:Peter Schamon



Empfehlenswerte Veranstaltungen (s. auch Spots):

17.05. - 01.09.2013, Ausstellung, Berlin

Gulag – Spuren und Zeugnisse 1929 – 1956. Eine Ausstellung der Gesellschaft Memorial in Moskau, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, www.dhm.de

Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, Mitte


11.09.2013
, 20.00 Uhr, Buchvorstellung und Gespräch, Berlin
Horst Bienek, Workuta, Christoph Links im Gespräch mit dem Herausgeber Michael Krüger
Erst kurz vor seinem Tod hat der Autor Horst Bienek angefangen, sich mit seinen Erfahrungen im russischen Gulag auseinanderzusetzen. Mit Workuta, einem Bericht, aufschlussreich auch über die deutsche Nachkriegszeit, ist ihm eine eindrucksvolle Beschreibung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Lager Workuta gelungen. Michael Krüger, Bieneks langjähriger Verleger und Lektor, hat diesen Bericht herausgegeben und ihn mit einem ausführlichen Nachwort versehen.

Infos: www.lfbrecht.de

Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestr.125, Mitte


16VIII13



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