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Der verleugnete Völkermord


„Dies ist ein Weg, von dem es keine Heimkehr gibt“ -  Armin T. Wegner, November 1915 in Ras al-Ayn, heutiges Nordsyrien



Guttstadt, Corry (Hg.)
Wege ohne Heimkehr
Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen 

Unter Mitarbeit von Seyda Demirdirek und Elke Hartmann
204 S., geb., Abb., Assizaition A Verlag, 2014
19,80 E; ISBN 978-3-86241-440-6

 








 

Die Herausgeberin Corry Guttstadt hat eine Anthologie mit erstmals übersetzten literarischen Texten über den Genozid an den Armeniern vorgelegt, die auch der historischen Aufarbeitung dienen kann. 
Von Gerd Bedszent



 

Der Massenmord an der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1915 und 1916 gilt in der historischen Forschung als Völkermord. Die Militärführung des Osmanischen Reiches nutzte damals den weltkriegsbedingten Ausnahmezustand, um sich einer ungeliebten Minderheit zu entledigen. Der Sammelband thematisiert diesen angeordneten Massenmord und liefert zugleich äußerst lesenswerte Streiflichter aus der hierzulande zu Unrecht wenig bekannten armenischen Nationalliteratur.

Zweiundzwanzig literarische Texte – Auszüge aus Reportagen, Autobiographien, Tagebüchern und historischen Romanen – schildern das Leben der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich und die dann losbrechende Welle der Vernichtung. Die Qualität der Beiträge ist sehr unterschiedlich – sie reicht von Werken der Weltliteratur bis hin zu Zeugnissen Überlebender ohne jeden literarischen Anspruch. Die Mehrzahl dieser Textauszüge liegt erstmals in deutscher Übersetzung vor.

In einer Einleitung liefert der Schweizer Historikers Hans-Lukas Kieser eine kurze Geschichte der Armenier-Verfolgungen im Osmanischen Reich. Der zunehmende Verfall des mittelalterlichen Feudalreiches im 19. Jahrhundert rief eine Kette einander ausschließender Nationalismen hervor. Die Entstehung von Nationalstaaten auf einstigem osmanischen Herrschaftsgebiet, besonders auf dem multiethnischen Flickenteppich Balkan, war von einer ganzen Reihe bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen und ethnischer Säuberungen flankiert. Die Vertreibung der einstigen türkischsprachigen Oberschicht aus den neu entstandenen Staaten beförderte die Entstehung eines türkischen Nationalismus. Mit der Machtergreifung der aggressiv-nationalistischen Jungtürken im Jahre 1908 und dem im Sommer 1914 erfolgten Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutschlands war die Katastrophe vorprogrammiert. Die osmanische Militärführung befahl im Mai 1915 die planmäßige Deportation der armenischen Bevölkerung in die syrische Wüste. Kieser weist nach, dass etwa 1 bis 1,4 Millionen Menschen dem Hunger, den Strapazen und den mit der Vertreibung einhergehenden Massakern zum Opfer fielen. Die Ursache für den Völkermord sieht Kieser in der Bereicherungssucht der türkischen Oberschicht – die Deportationen waren von einer Welle krimineller Enteignungen flankiert.

 

   

Armenien 1915

 

Deportationszüge in die syrische Wüste


Von den literarischen Beiträgen des Bandes sei die Reportage Ein Spaziergang durch die Stadtteile Istanbuls des armenischen Journalisten Hagop Baronyan aus dem Jahre 1880 besonders erwähnt. Der Autor liefert hier eine grandiose humoristische Schilderung der sich im gesamten Osmanischen Reich ausbreitenden und in verschiedene soziale Schichten ausdifferenzierenden armenische Bevölkerung. Den Völkermord des Jahres 1915 erlebte der begnadete Satiriker nicht mehr.

Interessant sind auch die wunderbar lyrischen Kindheitserinnerungen Die Gärten von Silahtar der armenischen Schriftstellerin Zabel Yesayan. Die Autorin dokumentiert darin aus kindlicher Perspektive die Reaktionen ihres familiären Umfeldes auf die in den 1890er-Jahren im Osmanischen Reich losgebrochenen armenierfeindlichen Pogrome. Dem Massenmord von 1915 konnte Zabel Yesayan sich durch Flucht entziehen, wurde als sowjet-armenische Schriftstellerin später aber Opfer der stalinistischen Säuberungen.

Der Text Die Welt lebt. Und Van lebt des armenischen Schriftstellers Gurgen Mahari lässt die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der armenischen Minderheit unmittelbar vor den befohlenen Massendeportationen noch einmal auferstehen. Die armenische Bevölkerung der ostanatolischen Stadt Van lehnte sich 1915 gewaltsam gegen die angeordneten Zwangsdeportationen auf. Der Aufstand endete mit einem Desaster; die überlebenden Einwohner flüchteten vor der Rache der Osmanen ins Russische Reich. Gurgen Mahari überlebte den Exodus, wurde aber unter Stalin für achtzehn Jahre nach Sibirien verbannt. Für seine ungeschminkte Darstellung der sozialen Verhältnisse vor dem Exodus und die kritische Hinterfragung der Rolle der armenisch-nationalistischen Daschnaken-Partei wurde der Autor zu Lebzeiten heftig angefeindet. Es wird bis heute selten thematisiert, dass die Daschnaken bis zum Ausbruch der organisierten Gräuel enge Verbündete der herrschenden Jungtürken waren. Maharis Roman Brennende Obstgärten, aus dem der abgedruckte Auszug stammt, ist bis heute Objekt kontroverser Debatten. [Anm.: Die Dachnaken verbündeten sich, um die „alten Ordnung“, die despotische Herrschaft des Sultans und seiner Lakaien, zu brechen. 1908 konnten sie nicht wissen, was 1915-16 geschehen würde. Red]

 

   

Hungernde Kinder 1915

 

Lager 1915

 

Bei den Schilderungen des Massenmordes selbst sei hier insbesondere auf die auszugsweise abgedruckten Erinnerungen der Überlebenden Palladzo Captanian und des deutschen Sanitätssoldaten Armin T. Wegner verwiesen, die Plünderungen und Vergewaltigungen, das Grauen der Todesmärsche und das massenhafte Sterben in den Lagern ungeschminkt wiedergeben. Palladzo Captanian überlebte dank einer Verkettung von Zufällen und ging nach dem Krieg in die USA. Wegner wurde zum überzeugten Kriegsgegner und erlebte nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland Gefängnis, Folter und Lagerhaft. [red. Anm.: 1915-16 war Wegner als Sanitätssoldat der osmanischen Armee Augenzeuge des Völkermords an den Armeniern und beschrieb in seinem Tagebuch das Los der vielen Hunderttausend Deportierten, die der sichere Tod erwartete; hierzu: Armin T. Wegner, Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste, Ein Lichtbildvortrag. Hg. Andreas Meier. Wallstein Verlag Göttingen 2011. ISBN: 978-3-89244-800-6]

 

   

Botschaft des deutschen Botschafters Metternich

 

 Enver Paşa

 

Und natürlich enthält der Band auch einen kurzen Auszug aus dem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh. Franz Werfel hat in seinem Werk dem erfolgreichen Widerstand einiger armenischer Küstendörfer gegen die osmanischen Truppen ein literarisches Denkmal gesetzt – das Buch ist daher bis in die Gegenwart hinein der türkischen Rechten verhasst. Das in dem Sammelband abgedruckte Kapitel Zwischenspiel der Götter schildert ein Treffen zwischen Johannes Lepsius und dem osmanischen Kriegsminister Enver Paşa. Der Versuch des deutschen Theologen, den bereits angelaufenen Massenmord zu stoppen, scheiterte. „Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus gibt es keinen Frieden“, lässt Werfel den ministerialen Völkermörder das Gespräch beenden.

Dieser Sammelband ist nicht nur ein literarisches Zeugnis von der Auslöschung einer Kultur und der weitgehenden Ausrottung einer Bevölkerungsgruppe. Zahlreiche in das Buch eingestreuten Anmerkungen und Kommentare versuchen auch, den Lesern die komplizierte historische Situation am Vorabend des Ersten Weltkrieges nahe zu bringen. Das Projekt, auf dem Territorium eines seit Jahrhunderten vor sich hin modernden Feudalreiches bürgerliche Nationalstaaten zu installieren, bildete den Hintergrund der Wellen von Vertreibungen und Massaker.

 

   

Jungtürken erhängen armenische Männer, 1915

 

Nackte Frauenleichen, 1915


Im den Band abschließenden Beitrag von Corry Guttstadt und Ragip Zarakolu wird der Völkermord von 1915 in den Kontext der Entstehung des türkischen Nationalstaates gestellt. Die Zeit vom Zusammenbruch des Osmanenreiches bis zur Gründung der heutigen Republik Türkei im Jahre 1923 war geprägt durch weitere Vertreibungen und 'Ethno-Gemetzel'. Es gab erneut Pogrome gegen überlebende Armenier und eine massenhafte Vertreibung der griechischen Bevölkerungsgruppe – umgekehrt vertrieb Griechenland seine türkischsprachige Minderheit. In der türkischen Geschichtsschreibung erscheint diese Phase als „antiimperialistischer Befreiungskrieg“. Der Krieg wurde von der Oberschicht aber auch deshalb geführt, um geraubtes Eigentum nicht zurückgeben und Kriegsverbrecher nicht betrafen zu müssen. Der Gründungskongress der türkischen Nationalbewegung im Jahre 1919 fand bezeichnenderweise in einer enteigneten armenischen Schule statt. Von führenden türkischen Politikern wird am Gründungsmythos ihrer Republik bis in die Gegenwart hinein festgehalten, was sich auch in Leugnung oder Relativierung des Massenmordes von 1915 äußert.

Eine literarische Anthologie kann die gesellschaftliche Aufarbeitung eines verdrängten und verschwiegenen Völkermordes natürlich nicht ersetzen und sich auch nicht theoretisch mit den Grimassen bürgerlicher Nationalstaatwerdung auseinandersetzen. Sie kann aber, wie jede gute Literatur, den Finger auf offene Wunden legen und versuchen, eine ausstehende historische Aufarbeitung zu befördern. Dies ist der Herausgeberin des Bandes hoch anzurechnen.



© Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20487; Fotos: Assoziation A Verlag; wikipedia; screenshots aus: Aghet - Die Katastrophe; C.Bertelsmann Verlag


 


 

Leider zurzeit nur antiquarisch erhältlich, aber eines der beeindruckendsten literarischen Werk über den Völkermord an den Armeniern, ist der Roman von Micheline Aharonian Marcom, Drei Äpfel fielen vom Himmel, in der Übersetzung von Gesine Strempel, C.Bertelsmann 2002.

Die Autorin beschreibt darin die Deportationen und Massaker aus der Sicht der Frauen, der Jugendlichen und Kinder. Zunächst sind es die Männer, die verschleppt, erschossen, erschlagen und zu Tode gefoltert werden. Mit dem Schmerz und der Angst über das eigene Schicksal und das der Familie hält man die „Noch-Verschonten“ in Schach, aber auch sie werden bald Opfer der Willkür. Mädchen und Frauen werden sexuell missbraucht und – wenn sie nicht ebenfalls brutal getötet werden – zu Sklavenarbeiten verschleppt. Wenn ein Kapitel voller Gewaltandrohungen, Greuel und Vergewaltigungen, Trauer und Verzweiflung endet, beschließt die Autorin es mit einem Satz, der aus einem Lied oder einer Legende zu stammen scheint, der besänftigt und wachrüttelt zugleich, vor allem jedoch zum Weitererzählen ermuntert:


Und drei Äpfel fielen vom Himmel. Einer für den Erzähler.
Einer für den Zuhörer und einer für den Lauscher an der Wand.


s.a.: Genozid an Armeniern

 

10IV15

 



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