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Auguste Hauschner

*12.2.1850 Prag
+10.4.1924 Berlin

Erzählerin, Verfasserin von Romanen, Novellen, überwiegend Erzählungen, Gattin des Fabrikanten und Malers Bruno Hauschner (+1910), geb. Sobotka

Einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammend, lebte Hauschner seit ihrer Heirat 1879 in Berlin und unterhielt einen literarischen Salon, in dem neben ihrem Onkel Fritz Mauthner u.a. Gustav Landauer, Maximilian Harden, Max Liebermann und seit 1914 Max Brod, den sie während eines ihrer zahlreichen Prag-Aufenthalte kennen gelernt hatte, verkehrten.

Sie engagierte sich für die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden und der Frauen (so z. B. im Zyklus Frauen unter sich, 1901) und schrieb naturalistische, gesellschafts-kritische Romane, u.a. den Doppelroman Die Familie Lowositz (1908-1910) und den Roman Rudolf und Camilla (1910). Beide Romane beinhalten autobiographische Elemente aus Hauschners Prager Jugendzeit und zeichnen scharfsichtig das Milieu des Prager deutschjüdischen Großbürgertums mit seinen von Gründermentalität, Religions- und Wertverlust bestimmten Konflikten [Stölzl 1979: 87] nach. Im Mittelpunkt stehe die vom Materialismus der Väter entäuschte, seelisch heimatlose junge Generation, die gleichfalls angezogen wie abgestoßen sei von der tschechisch-demokratischen Welt und der nichts bleibe als ein Wandern zwischen den Milieus, die Existenz eines halben Menschentums [ebd.]. Beide Romane wurden vom damaligen Publikum als gesellschaftskritische Analysen der damaligen Prager Verhältnisse verstanden.

 

Werke

  • Novellen

    • Doktor Ferenczy, 1895

    • Die Unterseele, 1898

    • Daatjes Hochzeit, 1902

    • Der Tod des Löwen, 1916

    • Erste Liebe, 1919

    • Nachtgespräche, 1919

    • Der Versöhnungstag, 1919

  • Romane

    • Abschied, 1897

    • Lehrgeld, 1899

    • Kunst, 1903

    • Die sieben Naturen des Dichters Clemens Breißmann, 1905

    • Zwischen den Zeiten, 1906

    • Der Tod des Löwen, 1906

    • Die Familie Lowositz, Roman in zwei Bänden, I 1908, Rudolph und Camilla; II 1910

    • Die große Pantomime, 1913

    • Die Siedlung, 1918

    • Die Heilung, 1922

  • Sonstiges

    • Frauen unter sich, 12 Dialoge, 1901

Weiterführende Literatur

  • Fürst, R.: Eine deutsche Dichterin aus Böhmen, in: Deutsche Arbeit 3 (1904).

  • Frank, E.: Auguste Hauschner und ihr Kreis, in: Sudetenland 10 (1968).

aus: Prager deutsche Literatur, www.geo.uni-bonn.de/.../kafka?...prager_deutsche...autoren

 

 

 

AUGUSTE HAUSCHNER, DIE URGROSSMUTTER DER PRAGER

DEUTSCHEN LITERATUR

von Ingeborg Fiala-Fürst (Olomouc)
Unwissenschftlich und eher wie ein Märchentitel klingt die Überschrift dieses Beitrags. Folgerichtig müsste der erste Satz heißen: »Es war einmal eine Auguste Hauschner, und die hatte

viele Enkelkinder.«

Da ich tatsächlich eine Abneigung verspüre gegen ausgeklügelte, Zeilen lange Überschriften

wissenschaftlicher Arbeiten, die bereits an sich ein kryptisches Rätsel darstellen, verharre

ich bei der märchenhaften Ur-Großmutter-Gestalt und der sagenhaften Ur-Großmutter-Theorie,

die ich dem Olmützer Germanisten Ludvík Václavek verdanke, der in den 80er Jahren bei

einem Vortrag der Prager Germanistin Gabriela Veselá (aus deren Hauschner-Aufsatz ich dankbar

Informationen bezog1) dieses Attribut für die Prager Schriftstellerin kreierte.

Urgroßmütter scheinen über gewisse stereotype Eigenschaften zu verfügen, die es erlauben,

eine soziologisch aufwertbare Kategorie der Urgroßmütter zu definieren.

Erstens: Von Urgroßmüttern pflegt man in der Regel – als Enkel oder gar Urenkel – nicht

viel zu wissen. Man kennt noch den Namen, man hat ein paar vergilbte Fotografien gesehen.

In Familien, die ihre Historie bewusst pflegen, werden von der Urgroßmutter ab und zu Geschichten

erzählt. Da erscheint dann vor den Augen des Enkels eine alte Dame (denn nie wird

sie jung gedacht), die – da sie noch im »goldenen Zeitalter« vor den schrecklichen Kriegen lebte

– Verkörperung von Harmonie, Güte, Familientradition, aber auch Gelehrtheit und Scharfsinnigkeit

(»ist es nicht in Meyers Konversationslexikon zu finden, fragen wir die Großmutter«

– pflegte mein hoch gebildeter Großvater zu sagen) und außerdem die beste Bridgespielerin

weit und breit war. Mehr als diese verklärten Umrisse bleibt normalerweise nicht haften.

Zweitens aber fühlt man sich in der Kette der Geschlechter der Urgroßmutter verbunden,

man ist ihr Erbe, sei die Erbschaft bewusst oder unbewusst empfunden.

Vom Leben der Auguste Hauschner (die selbst keine leiblichen Enkel hatte, sondern am 10.

April 1924 kinderlos starb) weiß die Enkel-Nachwelt wahrlich nicht viel zu berichten: Einem gut

bürgerlichen, angesehenen jüdischen Haus entstammend, ist sie am 12. Februar 1850 in Prag

als Auguste Sobotka geboren – die unterschiedlichen Angaben zum Geburtsjahres in verschiedenen

Quellen entspringen wohl dem Umstand, dass sie »ihr Geburtsdatum ängstlich verschwieg

«2, wie es wohl damals Mode war. Einer ihrer geistigen Enkel, Max Brod, bringt den Familiennamen »Sobotka« (der auf tschechisch »Samstag« bedeutet) in Verbindung mit der

geistigen Bewegung im Judentum des 17. Jahrhunderts um Sabbatai Zwi.3 Auguste Sobotka

heiratete mit 21 Jahren den kunstinteressierten Fabrikanten Bruno Hauschner und zog mit ihm

nach Berlin. Sicher hatte sie es v.a. ihren eigenen Kunstinteressen (sie widmete sich eifrig dem

Klavierspiel) aber auch ihrem Mann – und vielleicht noch dem berühmten Cousin Fritz Mauthner

(der, 1849 im böhmischen Horitz geboren, seit 1876 ebenfalls in Berlin lebte) zu verdanken,

dass sich um ihr Haus in der stillen Seitengasse Am Karlsbad 25 Künstler scharten, Musiker,

Maler, Schriftsteller, Tänzer, Schauspieler. Nach dem Tode Bruno Hauschners, 1890, vertieften

sich noch die vielfachen Verbindungen Auguste Hauschners zur Berliner Künstlerwelt, ihr

Wohnzimmer mit zwei Klavieren wurde zum regelrechten »Künstlersalon«, der den »Glanz der

alten Salons«4 neu entstehen ließ.Wohl in dieser Zeit, da sie sich – gerade 40jährig – in die

neue »Witwen-Etappe« ihres Lebens einfinden musste, entstand um sie der Großmutter-Mythos:

Hoch symptomatisch beschreibt sie der Herausgeber der Briefe an Auguste Hauschner,

Martin Beradt:

Ihre Freunde kannten sie nur alt: eine hochgewachsene Frau von gerader Haltung, in

schwarzem oder grauem Kleid, das Haar schon von einem stumpfen Grau, im Gesicht

nur noch der Nachglanz ihrer Jugend, die Augen freilich lebhaft, die Hände, die aus

Spitzen- oder Fallärmeln hervortraten, greisenhaft – aber wie viele küßten in den

Briefen, die hier folgen, diese Hände, wieviele dankten ihr für die Stunden, in denen

sie dieses Gesicht betrachten durften! Sie hatte einen feinen, klugen, aber zugleich

lebhaften und leidenschaftlichen Geist. Ihr Urteil über Menschen, vernichtend in seiner

Skepsis, hinderte sie nicht, den Umgang mit ihnen zu suchen.Sk Mit einem scharfen

Blick für ihre Schwächen und unabhängig genug, sie in der Unterhaltung preiszugeben,

opferte sie sich gleichzeitig für die Menschen auf – sie sah keinen Widerspruch

darin: für die Erkenntnis gibt es keine Grenzen, aber auch nicht für das Herz.(5)


Tatsächlich scheint neben dem altklugen scharfsinnigen Blick die aus Lebenserfahrung erwachsene

Hilfsbereitschaft die Haupteigenschaft Auguste Hauschners gewesen zu sein. Die 2.

Herausgeberin der Briefe, die Pragerin Lotte Bloch-Zavrel, schreibt in ihrem Einführungswort:

Der Gefahr, ausgenutzt zu werden, wich sie nie aus, ja man kann sagen, sie suchte sie

[...] Wie unendlich viele sind mit ihren Sorgen zu ihr gekommen, die zu den ganz ganz

seltenen gehörte, die sich die Sorgen der anderen wirklich zu ihren eigenen machte,

bis zur Opferung ihres Schlafes, ihrer Arbeit und schließlich ihrer Gesundheit.(6)

Die Briefe an Auguste Hauschner, herausgegeben 5 Jahre nach ihrem Tode (ihre eigenen Gegenbriefe wollte die Autorin nicht publizieren lassen), Briefe von Berühmtheiten wie Fritz

Mauthner, Hermann Sudermann, Max Liebermann, Gustav Landauer, Maximilian Harden, Norbert

Jaques, Romain Rolland, Arthur Schnitzler, Ludwig Thoma, Thomas Mann, Stefan Zweig,

Alfred Klaar,Martin Buber, Siegfried Jacobson, Max Brod, sind tatsächlich voller Dankbarkeit –

für erwiesene Hilfeleistungen (so wurde z.B. Gustav Landauer über Jahre hinweg von Auguste

Hauschner finanziell unterstützt), für Vermittlung in Künstlerkreisen, für Besprechungen der

neuesten Werke in Literaturzeitschriften oder einfach fürs warme Herz und das zum Zuhören

geneigte Ohr.

Die Briefe an Auguste Hauschner sind überhaupt eine willkommene Quelle, den Lebensumständen

und -schicksalen der alten Dame näher zu kommen. Man erfährt vieles über ihre

geistige Entwicklung – so war ihr Fritz Mauthner stets behilflich bei der Auswahl der philosophischen Lektüre und engagierte den jungen Landauer als zeitweiligen Privatdozenten für

seine Cousine – man erfährt vieles über ihre Lektüre, die sie in unzähligen Besprechungen und

Rezensionen bearbeitete, man erfährt über ihr Engagement in charitativen und künstlerischen

Vereinen.

Zum Glück ist man »als Familienforscher« aber nicht nur auf Zeugnisse Fremder angewiesen,

so lehrreich sie auch sind, denn die »Großmutter« hinterließ selbst Zeugnisse ihres geistigen

Lebens und ihrer Entwicklung in der Gestalt ihrer Romane,Novellen und Dramolette, denn

sie war Schriftstellerin. Trotz der Autorenschaft von mehr als 15 Büchern7 wurde sie jedoch

bereits im Jahr der Herausgabe der Briefe, 1929, »vom Lesepublikum schon vergessen«8, nicht

minder von der gelehrten Germanistik. In älteren Literaturgeschichten, vornehmlich denen,

die sich dem deutschen Schrifttum der böhmischen Länder widmen,werden noch einige ihrer

Werke aufgezählt, sie wird in die Nähe der böhmischen Schriftstellerinnen Bertha von Suttner

und Ossip Schubin gerückt, wobei sie von Gabriela Vesela nach Verdienst »die weitaus modernste

und originellste Schriftstellerin dieser Trias«9 genannt wird, von dem Schweizer Kritiker

J.V.Widmann wird ihr allerdings Ebner-Eschenbach als Muster »der bleibenden Literatur«10

vorgezogen. In ihrem Erstling, der Novellensammlung Doktor Ferency (1895) werden Einflüsse

des Naturalismus diagnostiziert, der Einfluss Zolas wird auch in späteren Werken festgestellt,

so z.B. im Arbeiterroman Zwischen den Zeiten (1906); bei der dramatischen Bearbeitung der Lebensweise der niedrigsten Berliner Schichten in der Skizze Armut aus der Sammlung Frauen

unter sich (1901) wird ihr gar »Hauptmannsche Kraft« (11) zugebilligt (trotz des eigentlichen Misserfolges der Wiener Premiere 1903). Die häufigen Bearbeitungen des Künstler-Themas lassen

sie in der Nachbarschaft der neuromantischen Anfänge Thomas und Heinrich Manns erscheinen,

wobei ihren Romanen allerdings nur »Unterhaltungswert« und »geringe Bedeutung« zugesprochen

wird. Einzig der Roman Die große Pantomime (1913) aus dieser Themensparte wird

von dem Literaturhistoriker Rudolf Wolkan als »trefflich geschrieben« gelobt, er lässt auch

noch die zwei Novellen Daatjes Hochzeit (1902) und Der Tod des Löwen (1916) als »ergreifend

und mit starker Kraft gezeichnet«12 gelten. Josef Mühlberger, der in seiner kurzen Abhandlung

über Hauschner innerhalb seiner »Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen« vielfach

von Wolkan abschreibt, widmet sich eingehender nur dem Problem der Emanzipation der Geschlechter, dem »Ringen der Geschlechter um- und gegeneinander«13, das Hauschner als eine

der ersten ernst zu nehmenden feministischen Schriftstellerinnen fast in jedem Text aufgreift

und bearbeitet. Dem belesenen Enkel, der feministisch bereits vieles gewöhnt ist, gehen tatsächlich

manchmal die Augen über ob den gewagten Äußerungen, die von Hauschner den

Frauengestalten am Anfang des Jahrhunderts in den Mund gelegt werden: So kämpft die begabte

Malerin Thyra Johannsen in der Skizze Kunst (Frauen unter sich) um das Recht der Frau,

sich der Kunst frei widmen zu dürfen,welche Freiheit bereits am ersten Hindernis zu scheitern

droht: Denn es gehört sich nicht, dass eine anständige Frau einen Akt, einen nackten Körper

zeichnet, geschweige denn eine Studienreise nach dem verruchten Paris unternimmt, wozu

Johannsen ihre Freundin Maurer überreden will. Die zynisch-witzige Johannsen kämpft im

heiligen Zorn gegen ihre verspießerten Artgenossinnen, die einer verlogenen Moral nachhängen,

doch verliert sie ihren Kampf, denn ihre bereits gewonnen gewusste Freundin verrät die

eigenen künstlerischen Ambitionen, die moderne Kunst an sich und sogar ihre Freundin um

der Verlobung willen. Fast alle Frauen bei Hauschner verlieren ihren Kampf um Selbstbestimmung

trotz scharfer feministischer Töne, die sehr oft mit sozialkritischen verbunden sind:

Nach schweren seelischen Kämpfen und psychischen Schiffsbrüchen finden sie sich in die Männerwelt ein, die ihnen höchstens die Rolle der Ehefrau, der Mutter und der Geliebten zubilligt.

In ihrer weiblichen Kampfentschlossenheit sind sie aber durchaus würdige Ahnfrauen der oft

viel weniger sympathischen feministischen Figuren unserer Zeit.

Viel mehr zum Lebenswerk Auguste Hauschners bietet die germanistische Nachwelt nicht. Die

These scheint also zu stimmen: Man pflegt von den Urgroßmüttern nicht viel zu wissen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich – wie Lotte Zavrel bezeugt – Auguste Hauschner hat

»ungern fotografieren, und, obgleich sie die Freundin vieler Künstler war, fast nie zeichnen

oder malen lassen.«14 Trotz der Absenz vergilbter Fotografien wirkte die vergessene Urgroßmutter

aber im Gemüt jener Enkel weiter, die allesamt mit ihrem dichterischen, journalistischen

und übersetzerischen Werk das bunte Phänomen der Prager deutschen Literatur bildeten.

Persönlich kannten sie wohl all die literaturbeflissenen Jünglinge des Arco-Kreises,Werfel,

Urzidil, Kisch, Fuchs, Pick,Winder nicht; lediglich die älteren, Franz Kafka, Felix Weltsch, Oskar

Baum hätten von ihrem Freund Max Brod Näheres von der erstaunlichen, gutherzigen alten

Dame in Berlin gehört haben und in den Lesungen Auguste Hauschners in der Prager Urania

zugegen gewesen sein können und kannten wohl ihren Namen. Ein größeres Interesse an

einer schreibenden, vor geraumer Zeit in Prag geborenen Frau wäre bei den um 40 Jahre jüngeren

Prager Dichtern, die seit dem Anbruch des Expressionismus das Prager literarische Feld

beherrschten, auch eher erstaunlich, denn nichts war den jungen, mit starkem Generationsgefühl

ausgestatteten Prager Dichtern ferner als ein ernstes Interesse an der neuromantischen

ersten Prager Dichtergeneration der Concordia, zu der Auguste Hauschner mit ihrem

Geburtsjahr 1850 gehörte. Die alten Dichterpäpste, etwa Fritz Adler und Hugo Salus wurden

von den Jüngsten höchstens milde belächelt und ansonsten für einigermaßen »verflossen«

und uninteressant gehalten. Und doch – hätten sie die Romane Hauschners gekannt, hätten

sie sich vielleicht gewundert, inwieweit die Stoffe, die von der späteren Literatur-geschichtsforschung für signifikant »pragerisch« und typisch gerade für die letzte Prager dichterische Generation erklärt wurden, bereits vorgebildet sind im Werk der »Urgroßmutter« Auguste Hauschner.

»Auguste Hauschners erzählerische Kunst war immer dann am stärksten, am persönlichsten,

wo sie im Heimatboden, in Prag wurzeln blieb«15 schreibt Gabriela Veselá und spielt dabei

auf den zweiteiligen Prager Roman Die Familie Lowositz (1908) und Rudolf und Camilla (1910)

an sowie auf die Novelle Der Tod des Löwen (1916). Gerade Letztere, die in düsteren Farben, expressiv, dynamisch, leidenschaftlich, in so »unheimlicher Bewegung« den letzten Tag des melancholischen Herrschers am Hradschin, Kaiser Rudolf II. zeichnet, dass man »in der Nacht

nach der Lektüre an wilden Träumen«16 leiden kann, rückte deren Verfasserin über Generationsgrenzen hinweg in die Gemeinschaft der Prager deutschen Autoren, die in einem kurzen

Zeitraum von 1914 bis 1917 eine stattliche Reihe von Romanen und Novellen erschienen ließen,

die alle das zeitgenössische oder historische Prag zum Thema und gar zur Hauptgestalt haben,

und somit den Mythos der »unheimlichen, dämonischen Stadt der Verbrecherintelligenz und

des menschen-schöpferischen Mystizismus«17 begründeten, der als Paradigma bis heute gültig

blieb. Das Prag des Golems ist gemeint, denn Gustav Meyrinks erster Roman aus dem Jahre

1915 ist der berühmteste und mustergültig in dieser Reihe. Ihm stofflich verwandt Leppins

Roman Severins Gang in die Finsternis (1914), Egon Erwin Kischs Der Mädchenhirt (1914), Brods

Tycho Brahes Weg zu Gott (1915), ErnstWeiß' Der Kampf (1916), Meyrinks 2. Roman Die Walpurgisnacht (1917) und eben Hauschners Der Tod des Löwen. Die ungewöhnliche Fülle der Prager Stoffe auf einem so kleinen zeitlichen Raum gab Anlass zu Betrachtungen über den »Prager

Roman«, »Prag als Stoff«, »Prag als literarische Stadt«,18 in denen die Prager deutsche Literatur

zwar als ein kompliziertes und differenziertes, aber trotzdem wohl überschaubares und definierbares

Ganzes erscheint. Zur Betonung dieser scheinbar selbstverständlichen Tatsache zwingt mich die positivistische Forschung, die seit der Entdeckung Kafkas mit Vorliebe einzelne Autoren der Prager Literatur aus dem historischen, kulturellen und räumlichen Kontext herauslöst, an dem Terminus ›Prager deutsche Literatur‹ herum kritisiert, und diese Literatur auf schriftstellerische Einzel-Existenzen reduziert. Ohne die Überzeugung von tieferen gedanklichen, stofflichen und stilistischen Zusammenhängen innerhalb des Geflechts der Prager deutschen Literatur wäre die Ur-Großmutter-Theorie nicht zu postulieren, alle Ähnlichkeiten, die Auguste Hauschner mit ihren geistigen Enkeln verbinden als reine »Zufälle« zu werten.

Rein zufällig und eher verwunderlich wäre es dann z.B., dass der um 34 Jahre jüngere Max

Brod in seinen literarischen Essays und Memoiren Der Prager Kreis (1966) der alten Berliner Dame so viel Platz widmet: Über 15 Seiten erstrecken sich seine Erinnerungen, seine liebenswürdigen Beschreibungen der stets Verehrten, der stets Gewürdigten, hinzu gesellen sich die Analysen einiger ihrer Werke, wobei Brod v.a. auf jene Texte sein Augenmerk richtet, die sich im

»Stoffkreise«19 mit seinen eigenen Werken trafen, die Familie Lowositz mit seinen Jüdinnen,

Der Tod des Löwen mit Tycho Brahes Weg zu Gott, der sozialutopische Roman Hauschners Die

Siedlung mit seinem Großen Wagnis. Sich auf Hauschner selbst berufend führt Brod die Ähnlichkeiten auf die Wirkung des gemeinsamen Prager Milieus zurück, damit mit Rudolf Wolkans

Charakteristik der Familie Lowositz übereinstimmend: »Es ist kennzeichnend für die Art, wie

sich bei einem Prager Schriftsteller deutsche, tschechische und jüdische Einflüsse begegnen

und einen Romantypus schaffen, der in seiner Eigenart eben nur hier möglich ist.«20 Brod verfolgt

seine Sache weiter, vergleicht Hauschners Beziehung zum Tschechentum und Judentum

mit der eigenen (oder der seiner Generation), stellt dabei graduelle Unterschiede fest, die später

von der Literaturgeschichte tatsächlich als typische Entwicklungslinien von der ersten zur

3. Generation der Prager deutschen Literatur erkannt wurden: Brod lobt Hauschners ehrliche

Bemühung, »dem Tschechentum gerecht zu werden« und von der »Intoleranz ihres Lehrmeisters

Mauthner weit abzurücken«, konstatiert aber trotzdem, dass »ihr die Tschechen immer

fremd und unheimlich blieben«, dass sie die »Tschechen und Deutsche nur als miteinander

kämpfende, um die Hägemonie [!] in der Stadt ringende Völker« kennt. Dagegen betont er

seine eigenen »klaren, unmissverständlichen Bemühungen um die Zusammengehörigkeit des

deutschen und des tschechischen Volkes in Böhmen«, um die Deklaration eines »deutlichen

Friedensschlusses«. Das lange Kapitel über Auguste Hauschner endet mit dem Abdruck von

Brods Bericht über die Kunstausstellung Frühling in Prag (1907), in dem v.a. die – die nationalen

Grenzen überschreitende – Zusammenarbeit der Prager tschechischen und deutschen bildenden

Künstler hervorgehoben wird. (Der mit der Materie der Prager deutschen Literatur vertraute

Leser denkt zugleich an die unermüdliche Bestrebung der Generationsgenossen Brods

um Annäherung der Kulturen beider Völker Böhmens, die sich in Manifesten der jüngsten Generation, in Berichten und Essays über tschechische Kunst für deutsche Leser, in der Übersetzer-

Tätigkeit, in der gezielten Wahl tschechischer Stoffe äußerte, und die die Prager deutsche

Literatur in die Rolle der Vermittlerin in Mitteleuropa stellte.)

Parallel zu dieser Thematik charakterisiert Brod Hauschners Zugang zum Judentum als

recht indifferent und lau: »Von dem Judentum [ihrer Helden] weiß die Dichterin nur zu sagen,

dass sie ›nicht eigentlich wussten, wohin sie gehören‹ mit all der Pein, die in diesen wenigen

Worten beschlossen ist.«21 Demgegenüber beschreibt er den eigenen wohl bekannten Weg

vom Indifferentismus zum Zionismus, den er mit mehreren Prager Autoren gemeinsam ging,

erinnert sich seiner vergeblichen Versuche,Auguste Hauschner zum Zionismus zu »bekehren«.

Sehr bald stellt sich heraus, dass Brod den großen Raum von 15 Seiten, das Schrifttum und die

Gestalt Auguste Hauschners benutzt, um die eigene menschliche und schriftstellerische Entwicklung in den beiden wichtigsten Themen der Prager deutschen Literatur – der Beziehung

zum Tschechentum und zum Judentum – zu zeichnen, und um seine, die letzte Prager deutsche

dichterische Generation, von den vorherigen abzuheben und zu charakterisieren.

Der zu Opfern bereiten Auguste Hauschner hätte dieser »freundschaftlicher Missbrauch«

sicher nichts ausgemacht, enthält er doch das Bekenntnis des Enkels zur Großmutter. Trotzdem

tut aber Brod der von ihm Verehrten Unrecht, denn im Roman Die Familie Lowositz gestaltet

Auguste Hauschner sicher mehr als nur die Umrisse der »um die Hägemonie in der Stadt

ringeneden Völker«, und vom Judentum ihrer Helden weiß sie sicher mehr zu sagen, als »[...]

dass sie nicht eigentlich wussten,wohin sie gehören«.

Der Haupt- und Titelheld des zweiteiligen Romans, Rudolf Lowositz, ist eine ideale Figur,

um mit ihrer Hilfe alle Nuancen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Dreivölkerstadt

Prag zu demonstrieren, denn am Anfang des Romans ist er etwa 17 – und fähig und begierig

alles in sich aufzunehmen, was ihm seine Umgebung bietet. Von einem Milieu ins

andere wird der Held von der Autorin geführt: Aus dem Bürgerhaus seiner durchaus bemittelten,

jüdischen, deutsch assimilierten Familie, (dem die Familienhäuser seiner jüdischen Freunde

ähnlich sind), ins jüdisch orthodoxe Haus seiner Großmutter, in die vornehme Wohnung

seines dumm fröhlichen nicht-jüdischen adeligen Klassenkameraden, aus dem k.u.k. Österreichischen Gymnasium in die Synagoge zum Religionsunterricht und am Nachmittag in den luftigen Garten des Freidenkers Dr. Markus, der – selbst Jude – ihm auf modernste didaktische Art

Englisch, die östlichen Philosophien, die christliche Ethik beibringt und den Geschichtspessimismus Schopenhauers verleiden will, aus den von deutschen Couleur-Studenten besiedelten Kneipen ins tschechische Nationaltheater, das im Rausch des tschechischen Nationalstolzes mit Smetanas Libuse feierlich eröffnet wird, aus dem dunklen Hausflur, von den schüchternen,zaghaften Küssen seiner ersten Liebe unter die schamlos enthüllten Fenster des Bordell-Viertels in der Nähe der Synagoge, und schließlich in die kräftige Umarmung der rothaarigen tschechischen Sängerin Milada. Die Autorin lässt keine »Ausbildungsstätte« ihres jungen Helden außer Acht, denn der Roman Die Familie Lowositz ist ein Bildungsroman klassischer Prägung mit allen Vor- und Nachteilen dieser Gattung. Zu den Nachteilen gehört der ziemlich große zeitliche Raum von etwa 10 Jahren,22 der zu umfassen ist, was die Autorin in einer Art sprunghaften Erzählens bewerkstelligt. Nie verweilt sie länger bei den Gedanken und Launen ihrer Helden, sondern jagt atemlos den Erlebnissen und Ereignissen nach,wobei das errungene Bildungsgut manchmal zu bloßen Schlagwörtern und Schemen verkümmert. Die Kunst der schemenhaften Zeichnung, die in der Charakteristik der Nebenfiguren zur Meisterschaft geführt wird, und auch der äußeren, knappen Beschreibung der mit Leitmotiven ausgestatteten Hauptfiguren zu Gute kommt, vereitelt in diesem Punkte das Einfühlen des Lesers in die Psychologie der Helden.Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum die Hauptfiguren, Rudolf und Camilla, von der Kritik für »im Wesentlichen unsympathisch« gehalten wurden, und der Autorin mangelnde Sympathie für ihre Helden und »nüchterne, skeptische, prüfende und sezierende Betrachtung von Studienobjekten«23 bescheinigt wurde – was v.a. in Bezug auf den 2. Teil des Romans einfach nicht stimmt. Dieser gehört aber bereits einer anderen Gattung an, nämlich dem psychologischen Roman, die es sowohl der Autorin als auch dem Leser erlaubt, sich in das innere Leben der Helden einzufühlen – viel besser, als dies im Bildungsroman möglich ist. Das 2. Fehlurteil der Kritik, der Roman sei »relativ handlungsarm«24 entspringt der gleichen Quelle: Mitnichten ist der Familie Lowositz Handlungsarmut vorzuwerfen, im Gegenteil verfolgt ein Ereignis das andere, so dass besonders im letzten Drittel des Romans ein chronologisch nachfolgender Absatz den vorherigen schon widerlegt und negiert und es gesteigerte Aufmerksamkeit des Lesers erfordert, sich im Mosaik des Geschehens noch zu orientieren.Was dem Roman fehlt, ist ein zentraler Hauptkonflikt, von dem sich alle Ereignisse im geschlossenen Kreis

abwickeln würden. Doch dies ist bei einem linear angelegten Bildungsroman nur eine Selbstverständlichkeit.

Der Bildungsroman erfordert aber eine eingehende Beschreibung der Milieus, in die der

Held, das leere Gefäß, eingeführt wird. Und das ist der Vorteil dieser Gattung, denn nichts kann

Auguste Hauschner besser als eindrucksvoll, trefflich und suggestiv das Milieu schildern, so

dass ein »historisch getreues Bild der böhmischen Hauptstadt um 1880 entsteht«.25 In der

Brief-Sammlung ist ein Schreiben enthalten, das Hauschner als Vorwort zum 2. Teil des Romans

benutzte. Ein – nach Hauschners eigenen Angaben – junger, sich kritisch betätigender

Prager Student (man ist allerdings geneigt nach der Lektüre des ersten Satzes: »Sehr verehrte

gnädige Frau! Es geschieht nicht ohne Absicht, dass ich sie mit meinem Dank für die Übersendung

ihres neuen Romans etwas zu lange warten ließ; ich hätte ihnen nämlich diesen Dank gern gleich gedruckt übersendet [...]«, hinter den Initialen »L.St.« den späteren geschichtenumwobenen Redakteur des Prager Tagblatts Ludwig [Lutz] Steiner zu vermuten),26 schreibt: Ich habe einige ruhige Pfingsttage auf dem Lande dazu verwendet, um die Familie Lowositz mit Muße zu lesen, und ich muss aufrichtig gestehen, dass mich dieses Buch geradezu persönlich berührt, fast möchte ich sagen getroffen hat, wie selten ein Roman.

Dieser Rudolf Lowositz ist ja ein Typus, dem wir alle, wir deutsch-jüdischen jungen

Prager angehören... Dieselben Stimmungen, derselbe Seelenzustand. Unter derselben

Umgebung leben wir, uns alle drücken dieselben dumpfen Verhältnisse [...] Es

ist ja geradezu aus unseren Seelen heraus geschrieben! Fast auf jeder Seite gibt es Stellen, bei deren Lektüre man förmlich zusammen zuckt. Und Gedankengänge, die so oft einen still, halb unbewusst, verfolgten, haben Sie hier ausgesprochen. Ich bitte es nicht für eingebildet zu betrachten,wenn ich gestehe, dass ich beim Lesen oft darüber staunte, wie genau ich hier abgezeichnet bin...

Im Roman werden 2 tschechisch nationale Festivitäten beschrieben, der 450. Sterbetag von Johannes Hus im Jahre 1865 und die Eröffnung des tschechischen Nationaltheaters 1881.

Demnach müsste der Roman einen Zeitraum von 16 Jahren umfassen, was jedoch mit den Angaben zum Alter der Helden, das im Laufe des Erzählens allerhöchstens um acht Jahre höher wird, nicht übereinstimmt. Offensichtlich ist der Autorin ein Fehler in der Datierung des Hus-Festes unterlaufen, oder es war ihr die Beschreibung der militant festlichen Atmosphäre dieses

Feiertages so wichtig, dass sie ihn in die 70er Jahre verlegte.

Und so lebt der 1908 ins Leben gerufene Rudolf Lowositz (demnach ein Zeitgenosse Brods und

Kafkas) den realen Enkeln das vor, womit sie sich selbst in der typischen Atmosphäre Prags

auseinanderzusetzen hatten – im Bereich der jüdischen Assimilationsproblematik, des Zusammenlebens der drei Völker in Böhmen, im Bereich des erwachten Geschlechts. Der germanistische Urenkel hält damit ein Buch in der Hand, das die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe der Werke der letzten Prager deutschen Generation besser erklärt als 10 Bände jeglicher Kafka-Kommentare.

Der »Auszubildende«, Rudolf Lowositz ist von Anfang an ausgestattet mit dem Bildungsgut

der jüdischen Aufklärung: Er liebt Heine und liest Schiller, seines Freundes Otto Feldstein

Begeisterung für Schillers Moralideale kann er allerdings nicht ungebrochen teilen, er beteiligt

sich an Familiengesprächen über Napoleon Bonaparte, »der als erster den Juden Gleichberechtigung

gegeben hat« (FL 19),28 das Fest um Joseph II., dem seine jüdische Familie den »Ehrentitel

eines Judenfreundes gab« (FL 328), animiert den Verschlossenen sogar zu einer Ansprache

vor der feierlichen Versammlung der deutschen Studenten. Noch während der Kundgebung

wird ihm aber klar: »Was sag ich da? Ich lüge! Wir Juden haben Kaiser Joseph nie besessen. Unser

Ahnherr war er nie.Wir haben gar kein Vaterland.« (FL 337) Denn ein einfacher Assimilant

ist Rudolf nicht, trotzdem er das aufgezwungene Gesellschaftsspiel vielfach mitmacht, sich

über das »Mauscheln« seiner Schwester Mathilde mokiert, das Wort »Jude« vor Andersgläubigen

nie ausspricht, und sich dem orthodoxen Judentum seiner Großmutter entfremdet

fühlt. Seine Teilnahme am Pessach-Fest im Hause der Großmutter (das übrigens mit großer

Kenntnis der Materie beschrieben wird) wertet er als Verrat an seiner Unabhängigkeit und

gleichzeitig leidet er darunter, »dass ihn die Gemeinschaft mit seinen Blutsverwandten so bedrückte

« (FL 65). Seinem Vater, der eigentlich kein streng gläubiger Jude ist, sondern nur darauf

hält, »sich an hohen Feiertagen mit Jehova gut zu stellen und sich durch Befolgung der

Gebete seine Gunst zu sichern« (FL 63), wirft er Unaufrichtigkeit vor – zwangsläufig muss man

an dieser Stelle an Kafkas Brief an den Vater denken – ebenfalls kann er Otto Feldsteins Andacht

nicht verstehen, mit der er im Tempel einen Thora-Abschnitt vorlas: »›Wie bringst du's

nur zustande, mit solcher Andacht vorzulesen? Du hast doch von dem Zeug kein Wort verstanden.‹

Feldstein hatte aufgelacht. ›Eben deshalb. Ich denk dabei an ein Gedicht von Schiller.‹«

(FN 114) Gegen offene antisemitische Attacken des Mathematik-Lehrers Krasa währt er sich

aber entschlossen und unerschrocken, sich den Hass des Lehrers und die Missbilligung der jüdischen Klassenkameraden zuziehend, denn sein »Benehmen erschwere ihnen noch die Stellung

« (FN 42). Vom Freidenker Markus fordert er die Aufklärung darüber, »was unseren Glauben

eigentlich so verhasst macht« (FL 52) und entscheidet sich schließlich für eine Art Privatreligion,

die auf der Basis der christlichen Morallehre fußt. Auch dieser private Glaube schützt

ihn aber nicht vor Erschütterungen der unglücklichen Liebe zu Hermine und vor dem Schock

ob dem Selbstmord der psychisch labilen Mutter. Und so kräftig hell, leichtsinnig und einfältig

wie sein dummer, arischer Klassenkamerad von Leschner ist er nun einmal nicht, sondern voll

von grübelnder, überlegener Klugheit, die letzten Endes seiner jüdischen Abstammung entspringt.

Vor den Verwirrungen der Jugend, vor dem dumpfen, engen, hasserfüllten Prager Milieu,

das ihm die persönliche Eigenständigkeit verwehrt und ihm auf jedem Tritt Loyalitätsbekundungen

abverlangt, rettet er sich nach Berlin, in das [...] neue Reich, das tatkräftige Hände aufgerichtet hatten, in die Hauptstadt, zu der alle Schaffenden und alle Könner strömten; da mochte die Meinung sich stark und gradlinig entwickeln können. Da mochte man wie von einem hohen Berg,weite Ausblicke in unentdeckte Länder haben... Hier in der Heimat, schien es ihm, habe jeder

Scheuklappen vor die Stirn gebunden, die ihn hinderten, über seinen eigenen Schatten

weg zusehen. Und jeder trage eine Brille vor den Augen, die das Ferne kleinte und

das Nächstliegende über Maß vergrößerte. (FL 326)

Der Gedankengang Rudolfs lässt den Leser sofort an die Prager deutschen Dichter denken, die

noch vor dem 1.Weltkrieg oder unmittelbar danach Prag in Scharen in Richtung Berlin verließen,

in der von Kurt Krolop entdeckten Enquette des Prager Tagblatts »Warum haben sie Prag

verlassen?« ähnliche Gründe angebend. Aber nicht einmal in Berlin ist Rudolf gegönnt, einen

festen Punkt für seine suchende Seele zu finden. Erneut wird er mit verschiedenen jüdischen

Positionen konfrontiert, mit dem radikalen Assimilantentum Otto Feldsteins, der sich nun

Otto Böll nennt und für alldeutsche Ideale militant schwärmt, mit dem Zionismus des Freundes

Becher, der Feldsteins/Bölls leeres Phrasenprangen witzig ironisch enthüllt, mit der Naturphilosophie des Schweden Nils Johannson, der beide Religionen, die jüdische und die christliche als traurig und menschenfeindlich verachtet, mit dem sozialistischen Internationalismus,

der angibt, keine Rassen- und Nationalitätengrenzen zu kennen. Im großen Kampf, den er in

seinem Geist voller »mißtrauender Klugheit und krankgewordener Zuversicht« mitten in der

Natur austrägt, bis an die Wurzel seiner jüdischen Seele fühlend, die »immer auf der Flucht vor

dem übermäßigen Verstand war« (RC 316) (man möge diese Passage z.B. mit Willy Haas' Artikel

Rationalistische und transzendente Morallehre aus den Herder-Blättern 1912 oder mit dem

expressionistischen Manifest Paul Kornfelds Der beseelte und der psychologische Mensch vergleichen), entschließt er sich, sich als »Einziger zu erheben, unabhängig von seiner Herkunft

und Umgebung« zu werden (man denke z.B. an Ludwig Winders Roman Die jüdische Orgel),

und ohne geerbte Geldmittel nach Amerika auszuwandern. Mit diesem utopischen Schluss

verwirft Hauschner bereits 1910 die Idee der europäischen Assimilation der Juden, für die konkretere »Utopie« des Zionismus, die ihr von Max Brod dringend nahe gelegt wurde, kann sie

sich nicht entscheiden.

Einen – für viele dichtende Generationsgenossen Brods – ähnlich mustergültigen Weg, den

Rudolf auf der Suche nach seiner Identität zwischen dem orthodoxen Judentum und dem radikalen

Assimilantentum zurücklegt, irrt er auch in Richtung zum tschechischen Volk: Gesteigerte

Empfänglichkeit für soziale Ungerechtigkeit führt ihn auf den »feindlichen und verbotenen

Boden« (FL 87), in die Wohnung des tschechischen Schulkameraden Ptatschek, in der er einerseits

auf unversöhnlichen, kämpferischen Chauvinismus der jungen, in zwei untereinander

verfeindete Lager aufgeteilten tschechischen Intelligenz stößt, andererseits aber zum Wesen

der Kunst, der Musik durchdringt, und »die Frau« entdeckt. Die tschechische Sängerin Milada,

die Trostspenderin – ihre Arme sind offen,wenn sich Hermine mit einem anderen verlobt – repräsentiert beides, die Kunst und die Liebe, und steht wieder am Anfang einer ganzen Reihe

von tschechischen Geliebten, Dienstmädchen,Ammen,die den deutsch-jüdischen, skepsis- und

vernunftkranken, lebensunfähigen Helden der Prager deutschen Literatur selbstlos den Weg

ins Leben weisen. Paul Eisner hat sie alle abgebildet in seinem Essay Milenky [Die Geliebten]

(1930) und festgestellt, dass es in der Prager deutschen Literatur fast keinen Dichter gibt, der

in seinem belletristischen Werk den Zugang zum tschechischen Volk anders gefunden hätte,

als durch eine tschechische Geliebte. Der Heil bringende Körper Miladas rettet Rudolf allerdings

nicht vor dem Gefühl der Expatriierung aus seiner Heimatstadt (ein überaus typisches

Gefühl für die Prager deutschen Dichter, das Paul Eisner zu der Formulierung der berühmten

Theorie des dreifachen Ghettos veranlasste), das ihn am stärksten angesichts der lauten Kraftdemonstration der Hus-Feier überfällt, er rettet ihn allerdings vor dem blinden Hass eines Otto

Feldstein, der – je mehr dem Judentum entfremdet – desto militanter das Deutschtum vertritt.

Die endgültige Rettung vor den Nationalitätenkämpfen sieht Hauschner wieder in der

»Amerika-Utopie«, in der Gemeinschaft von Menschen vieler Nationen, die ihre Herkunft bewusst

hinter sich ließen.

Die kleine Stichprobe aus dem Prager Roman Die Familie Lowositz sollte zeigen, dass »die

Großmutter« Auguste Hauschner viele Motive und Themen der späteren Prager deutschen Literatur

bereits vorweg genommen und in Rudolf einen Helden konstruiert hat, der mit den realen Prager Enkeln das gemeinsame Erlebnis der »zackigen, schroffen und unheimlichen Stadt« Prag teilt und sich von ihnen nur durch die unterschiedliche Lösung der Konflikte unterscheidet (doch wie entfernt war die Zeit des Exils, als viele der Prager Literaten Rudolfs Weg unfreiwillig antreten mussten, um das Leben zu retten?) – und noch dadurch, dass er eben nicht so schreiben konnte wie Franz Kafka.

Einer erschöpfenden Analyse des Werkes Auguste Hauschners sind wir noch vieles schuldig

geblieben, so müsste man v.a. Camilla, die Schwester Rudolfs, das kleine geknechtete weibliche

Geschöpf, das sich mit allen Zellen ihres Körpers und mit der ganzen Seele nach Liebe

sehnt und in der Gefühlskälte und verlogenen Moral der bürgerlichen Gesellschaft doch nur

auf wache Träume angewiesen ist, um Verzeihung bitten, dass man sie in der »Familienforschung

« keines Wortes würdigte. Doch Camilla gehört bereits einer anderen Familie an, ist

eher die Schwester Daatjes als Rudolfs und somit eher Gegenstand der Feminismus-Forschung.


Doc. PhDr. Ingeborg Fiala-Fürst ist Literaturwissenschaftlerin und -historikerin. Studium der Germanistik in Olmütz, danach Emigration in die BRD und Tätigkeit an Arbeitsstelle für Robert-Musil-Forschung in Saarbrücken; 1992 Rückkehr aus der Emigration, seither Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Germanistik der Palacky-Univ. Olmütz. 1997 Mitbegründerin der Arbeitsstelle für mährische deutschsprachige Literatur innerhalb des Lehrstuhls; 1998 Habilitation und seither Lehrstuhlleiterin. Forschungsschwerpunkte: Prager deutsche Literatur, deutschsprachige Literatur aus Mähren, literarischer Expressionismus, deutschsprachige jüdische Literatur. Vorlesungen und Seminare zu diversen Themen der deutschen Literaturgeschichte; Organisation zahlr. Konferenzen sowie Herausgeberin der Bücherreihe Beiträge zur mährischen deutschsprachigen Literatur im Univ.verlag.


Der Text geht auf ein Referat zurück, das beim Symposion Franz Kafka,Wien und der Prager Kreis, 1994 in Wien gehalten wurde. S.: www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/IFiala-Fuerst2.pdf

Anmerkungen

 

 

1Vesela, Gabriela: »[...] von der schönen Menschlichkeit erfüllt.« Auguste Hauschner. In: Philologica Pragensia, 33. Jg., Nr. 1 (1990), pp. 42-48.1

2 Wolkan, Rudolf: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und den Sudetenländern. Augsburg: Stauda 1925, p. 103.

3 Brod, Max: Der Prager Kreis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, p. 48.

4 Beradt, Martin/ Bloch-Zavrel, Lotte (Hg.): Briefe an Auguste Hauschner. Berlin: Rowohlt 1920, p. 7.

5 Ibid.

6 Beradt/ Bloch-Zavrel 1920, p. 10f.

7 Auswahlbibliografie: Doktor Ferency und andere Novellen (1895); Abschied.

Roman (1897); Die Unterseele. Novellen (1898); Lehrgeld. Geschichteeiner Ehe (Roman, 1899);

Frauen unter sich. Dramatische Skizzen (1901); Daatjes Hochzeit (Novelle, 1902);

Kunst (Roman, 1904); Die sieben Naturen des Dichters Clemens Beißmann (1906); Zwischen den Zeiten (Roman, 1906); Die Familie Lowositz (Roman 1908); Rudolf und Camilla (Roman, 1910); Die große Pantomime (Roman, 1913); Der Tod des Löwen (Novelle, 1916); Erste Liebe. Künstlernovellen (1919); Die Siedlung (Roman, 1919).

8 Vesela 1990, p. 47.

9 Vesela 1990, p. 43.

10 Beradt/ Bloch-Zavrel 1920, p. 46.

11 Fürst, R.: Eine deutsche Dichterin aus Böhmen. In: Deutsche Arbeit 3/1 (Oktober 1903), pp. 99-103, zit. n.Vesela 1990, p. 43.

12 Wolkan 1925, p. 103, p. 145, p. 159.

13 Mühlberger, Josef: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900-1939. München,Wien: Langen Müller 21981.

14 Beradt/ Bloch-Zavrel 1920, p. 12.

15 Vesela 1990, p. 47.

16 Beradt/ Bloch-Zavrel 1920, p. 146.

17 Urzidil, Johannes: Da geht Kafka. 1908 [21910]. Hinter dem Kürzel des Titels folgt im Text die

Seitenangabe.

18 Cf. Krolop, Kurt: Hinweis auf eine verschollene Rundfrage: »Warum haben sie Prag verlassen?«. In: Germanistica Pragensia 4 (1966), p. 50ff.

19 Cf. Beradt/ Bloch-Zavrel 1920, p. 160, p. 187.

20 Wolkan, p. 103.

21 Brod 1979, p. 51, p. 53, p. 58.

23 Vesela 1990, p. 46.

24 Ibid., p. 45.

25 Ibid.

26 Cf. dazu Steiners Rezension der Familie Lowositz in: Prager Tagblatt v. 11.07.1908. München: dtv s.a.

27 Beradt/ Bloch-Zavrel 1920, p. 100ff.

28 Die den Werken Die Familie Lowositz (in der Folge zit. als FL) und Rudolf und Camilla (in der Folge zit. Als RC) entnommenen Zitate stammen aus der Ausgabe Berlin: Egon Fleischel



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