LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com



„In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, 
wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin.“ *


Bewegte Sprache
Vom ›Gastarbeiterdeutsch‹ zum interkulturellen Schreiben
Herausgegeben von Natalia Shchyhlevska und Carmine Chiellino
288 S., geb., Thelem 2014
49,80 €, ISBN: 978-3-942411-60-8












Begriffe gab es schon viele für das, was beispielsweise Marjana Gaponenko, Marica Bodrožić, Andrea Karimé, Sudabeh Mohafez oder die sich zur Chick-Lit alla turca zählenden Hatice Akyün und Sibel Susann Teoman schreiben oder Dotschy Reinhardt und Cejka Stojka oder Katja Petrowskaja, Olga MartynovaNino Haratischwili und  Terézia Mora (Mora-Das UngeheuerTerezia Mora-Grenzen) oder etwa Abbas Khider, Saša Stanišić, Zafer Şenocak, Zehra Çırak, Serdar Somuncu, Osman Engin und Navid Kermani, um hier nur einige wenige zu nennen (andere werden im Buch ausführlich vorgestellt): „Ausländerliteratur“, „Gastarbeiter- , „Migranten-“ oder „Minderheitenliteratur“, „interkulturelle“, „multikulturelle“, „deutsche Gastliteratur“, „Literatur ohne festen Wohnsitz“, „Literatur der Fremde“ oder noch diffuser: „nicht nur deutsche“. Wozu sie offensichtlich lange nicht zählten, wird landläufig „Deutsche Literatur“ genannt. Das ändern sie gerade. ks


Der vorgestellte Band widmet sich der Frage, unter welchen Voraussetzungen interkulturelle Literatur in Deutschland entsteht und untersucht, wie sich der kreative Umgang mit der deutschen Sprache durch drei Autorengenerationen entwickelt hat. Die Beiträge würdigen die Sprachleistungen der jeweiligen AutorInnen und weisen zugleich durch gezielte Analysen auf wiederkehrende Grundtendenzen im Umgang mit der deutschen Sprache hin. Dabei ist besonders von Interesse, wie sich die deutsche Sprache unter dem Einfluss der Literatur interkultureller AutorInnen entwickelt und verändert. Literatur-, Sprach- und Translationswissenschaftler aus mehreren Ländern analysieren wiederkehrende Erzählstrategien und literarische Phänomene in den Werken zahlreicher AutorInnen mit unterschiedlichen Herkunftssprachen und -kulturen.



Aus dem Vorwort von Carmine Chiellino – Natalia Shchyhlevska

Im Jahr 2015 werden sechzig Jahre vergangen sein, die deutsche Sprache und Einwanderer zusammen verbracht haben. Für die deutsche Sprache in Deutschland ist dies die längste zusammenhängende Erfahrung mit Einwanderern. Von den Einwanderungen aus dem 19. Jahrhundert unterscheidet sich diejenige der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusätzlich durch die breite Vielfalt der Kulturen und Sprachen, die in engste Berührung mit der deutschen Sprache kamen.


Aus diesem Zusammentreffen, das als ein befristetes Kennenlernen geplant war, ergab sich im Laufe von sechzig Jahren ein vernünftiges, fruchtbares Zusammenleben und -wirken. Die Einwanderer haben ihren Beitrag hierzu geleistet, indem sie ihr Leben der deutschen Sprache mehr oder weniger freiwillig anvertraut haben. Bekanntlich nahm die Mehrheit der Einwanderer aus den 1950er und 1960er Jahren eine schlichte, minimalistische Beziehung zur deutschen Sprache auf, dennoch verbrachten sie den Hauptteil ihres Alltags mit ihr. Durch die Generation der Kinder und Enkelkinder räumten sie der deutschen Sprache naturgemäß immer mehr Raum in ihrem Familienleben ein.


Wie das Leben der Einwanderer sich auf die deutsche Sprache auswirkte und was daraus entstand, wurde kaum Gegenstand von Forschungsarbeiten, die mehr erbracht hätten als den sich fast von allein bestätigenden Befund, dass ein Teil der Einwanderer sich beim Erwerb der deutschen Sprache intensiver engagieren sollte. Man könnte dieselbe Forschungsarbeit weniger ethnozentrisch angehen und sich dabei zum Beispiel folgende Frage stellen: Wie viel Sprache braucht ein Einwanderer, um seinen deutschen Alltag würdevoll zu gestalten?

Die Antwort könnte lehrreicher als vermutet ausfallen und weniger defizitär sein, als es bis heute regelmäßig vorgeführt wird. Hierzu bedarf es eines risikofreudigen Forschungsansatzes, um herauszufinden, was die Einwanderer durch die Umorganisation ihres Lebens in die deutsche Sprache der Bundesrepublik hineingetragen haben. Denn erst hierdurch wurde es möglich, sich auf Deutsch kompetenter über interkulturelle Abläufe im deutschen Alltag auszudrücken, und dies war wahrhaftig keine geringe Leistung der Einwanderer!


Zugleich würde es einem leichter fallen, sich das Zusammenwirken von Einwanderern und deutscher Sprache als einen paritätischen Austausch von Vorschlägen und Gegenvorschlägen vorzustellen, d.h. als eine kontinuierliche gemeinsame Suche, um die unvermeidbaren Veränderungen in der deutschen Gesellschaft und im Leben der Einwanderer zu erfassen und ihnen Ausdruck zu verleihen. Bei einem solchen ausstehenden und wünschenswerten Unterfangen sollte die gesamte Spannweite des Prozesses berücksichtigt werden und zwar von den allerersten Sätzen, mit denen die Einwanderer der deutschen Sprache Nähe zu ihrer ethnischen und kulturellen Andersartigkeit abgetrotzt haben, bis hin zu wissenschaftlichen Abhandlungen, wie sie auch im vorliegenden Band zu lesen sind.

Die Komplexität eines solchen Unterfangens erlaubt oder empfiehlt jedoch vorerst, gezielte und bereichsdefinierte Explorationen des gesamten Forschungsfeldes vorzunehmen. In enger Beziehung mit ihren langjährigen Partnern von der Università degli Studi di Bari Aldo Moro – Pasquale Gallo und Ulrike Reeg – und der Universidad autonoma de Madrid – Ana Ruiz – sowie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz –Marion Grein, Dieter Lamping und Natalia Shchyhlevska – hat sich die Forschergruppe parola vissuta (Augsburg) – Adrian Bieniec, Carmine Chiellino, Raluca Dimian-Hergheligiu, Szilvia Lengl und Chantal Wright – dazu entschieden, das Zusammenwirken von Einwanderung und deutscher Sprache anhand der literarischen Produktion interkultureller AutorInnen herauszuarbeiten.


Zeitlich betrachtet deckt die interkulturelle Literatur in deutscher Sprache kaum die gesamte Spannweite des Forschungsfeldes ab, weil sie erst Ende der 1970er Jahre aufgekommen ist. Dennoch bietet sie genügend Forschungsmaterial, um exemplarisch herauszuarbeiten, wie das Zusammenwirken von Einwanderung und deutscher Sprache thematisiert wurde und zu welchen Ergebnissen es führte.


Zweck des internationalen Workshops Sprache der Interkulturellen Literatur, der am 2.-3. Dezember 2011 am Deutschen Institut der JGU stattfand 1, war keineswegs, eine allgemeingültige Aussage anzustreben, sondern vielmehr die Vielfalt der Ansätze herauszuarbeiten, die von AutorInnen mit unterschiedlicher kulturellen Herkunft erfolgreich erprobt wurden. Daher galt es bei der Auswahl der AutorInnen so viele Herkunftssprachen und -kulturen wie möglich zu berücksichtigen und durch die Auswahl ihrer Werke eine möglichst breite Gattungsvielfalt zusammenzutragen.

Die ReferentInnen wurden gebeten, sich der Grundfrage anzunehmen und anhand der gesamten Entwicklung im Werk eines/r Autors/in zu untersuchen und darzustellen, mit welchen Strategien bzw. Vorschlägen ihr Autor/ihre Autorin sich die deutsche Sprache als Mittel ihrer/seiner kreativen Arbeit angeeignet hat. Zugleich sollte dabei herausgefunden werden, wo ihre/seine Sprachen im ständigen dialogischen Austausch standen. Die Beiträge des Workshops sind in diesem Band versammelt.

 

Eröffnet wird der Band mit einem historischen Überblick über die interkulturelle Sprache in der deutschen Literatur. 
Dieter Lamping widmet sich Adelbert von Chamissos interkultureller Lyrik und fokussiert die Zweisprachigkeit dieses Vorläufers der interkulturellen Literatur in der Wahrnehmung Thomas Manns. Die Annahme der Sprachgebundenheit geistiger Äußerungen, die dem ethnischen und linguistischen Konzept der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert zugrunde lag, kennzeichnet die Äußerungen Manns über die Bedeutung der Muttersprache und über den Sprachwechsler Chamisso. Anhand einiger Indianer-Gedichte hebt Lamping einerseits den kosmopolitischen Charakter dieser Lyrik hervor, andererseits weist er auf Differenzen zwischen Chamissos Standpunkt und der heutigen Interkulturalitäts-Forschung hin.


Carmine Chiellino geht der Frage nach, ob das Gastarbeiterdeutsch als solidarische Sprache für die Einwanderer und für eine interkulturelle Literatur in deutscher Sprache aufgefasst werden kann. Hierzu skizziert er die kultur-historische und gesellschaftlich-politische Situation der 1970er Jahre, weil in dieser Zeit zum ersten Mal die Zeitbegrenzung der Einwanderung nach Deutschland hinterfragt wurde. Im zweiten Schritt betont Chiellino die besonderen Bedingungen für die Entstehung der interkulturellen Literatur in Deutschland, da sowohl die Muttersprachler als auch die Eingewanderten angesichts der neuen Situation sprachlos waren: Anders als die interkulturelle Literatur in französischer oder englischer Sprache musste die deutschsprachige leeres Blatt beschreiben, da es weder eine zu bewältigende Kolonialgeschichte noch eine gemeinsame daraus resultierende Sprache gab. Die Entstehung der deutschen interkulturellen Sprache verfolgt Chiellino anhand der Amtssprache, der Schlager- und Liedermacher, der deutschen Literatur der 1960er und 1970er Jahre, der Sprachtendenzen in der Forschung und Publizistik und schließlich anhand der Werke debütierender interkultureller AutorInnen.


Weitere Beiträge stellen Fallstudien zur Sprache der interkulturellen Literatur dar. Ana Ruiz widmet sich dem Werk José F. A. Olivers, dessen interkulturelle Sprache aus dem andalusischen Spanisch und dem alemannischen Dialekt konstituiert wird. Als Merkmale der interkulturellen Dichtersprache Olivers nennt Ruiz einen „durch die Gattungswahl geförderten Verdichtungsprozess“, eine geringe Referentialität, die sich in einer extremen Zahl der Wortneuschöpfungen äußert, und eine außerordentliche Wechselwirkung zwischen der deutschen und spanischen Sprache. Im zweiten Teil des Beitrags analysiert Ruiz das ästhetische Sprachkonzept Olivers, das von drei „Säulen, die die Spezifizität dieser interkulturellen Sprache ausmachen“, getragen wird: interkulturelle Lautstimme, interkulturelle Metaphorik und interkulturelle Intertextualität.


Adrian Bieniec gibt zuerst einen kurzen historischen Überblick über polnische Exilautoren und ihr Changieren zwischen der Muttersprache und dem Schreiben in der Sprache der Fremde. Im nächsten Schritt folgt er dem rezeptionsästhetischen Ansatz, um die hochkomplexen Vorgänge des Übersetzens und Sich-Verständigens zwischen dem/der Autor/in eines mehrsprachigen Textes und dem/der Leser/in zu skizzieren. Vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse geht er auf Radek Knapps Erzählband „Franio“ ein und hinterfragt dessen Erzählstrategie und somit die schriftstellerische Leistung des Autors als Kulturvermittler. Bieniec postuliert Knapps „Strategie einer synchronisch aufgebauten Erzählsprache“ als eine, die das im Polnischen verortete Gedächtnis des Autors im Deutschen sprechen lässt.


Pasquale Gallo konzentriert sich auf sozio-kulturelle und intertextuelle Schichten in Feridun Zaimoglus Texten „German Amok“ und „Kanak Sprak“. Er verifiziert den kolonialen Ursprung der beiden Titelwörter “Kanak” und “Amok” und arbeitet ihre historische Tiefe und künstlerische Produktivität bei Zaimoglu aus, um zu veranschaulichen, wie Kolonialgeschichte durch den Gebrauch einzelner Wörtern thematisiert wird. Die Tragweite dieser Wörter für Form und Inhalt der Texte Zaimoglus wird im Kontext der intertextuellen Bezüge zu Stefan Zweigs Erzählung „Der Amokläufer“ erörtert. Gallos Beitrag sensibilisiert für die Bedeutung der Fremdwörter in Werken der interkulturellen Literatur, weil diese nach Überzeugung des Autors „keine leeren Behälter sind, sondern dicke Geschichtsstränge mit sich tragen.“


Dem Werk Zé do Rock widmet sich Ulrike Reeg und untersucht die Rolle der Mehrsprachigkeit für die Sprachinszenierung und Selbstdarstellungen des Autors. Hierzu erläutert sie kurz sprachbiografische Aspekte, um im nächsten Schritt gesprochensprachliche Phänomene, sprachliche Varietäten und kontaktkulturelle, auf Mehrsprachigkeit zurückzuführende Handlungssituationen zu analysieren und aus linguistischer Perspektive zu erläutern. Varietäten der fiktionalisierten Mehrsprachigkeit – Ultradoitsh, „siegfriedisch“, „kauderdeutsch“, „winglish“ –, die das sprachästhetische Konzept des Autors kennzeichnen, werden im Hinblick auf ihr Zustandekommen verifiziert, weil so zum einen Interaktionsstrategien in Zé do Rocks Texten offen gelegt werden und zum anderen sein „Prinzip der sprachlichen Dekomposition und Rekonfiguration“ aufgezeigt wird. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse sind für die Rezeption der Werke Zé do Rocks, insbesondere seiner autobiografisch angelegten Texte, von zentraler Bedeutung.


Marion Grein, die in Japan aufgewachsen ist und Japanisch spricht, nähert sich dem Werk Yokô Tawadas mithilfe der von Carmine Chiellino vorgeschlagenen Terminologien Sprachlatenz und parola vissuta („gelebte Worte“), wodurch es ihr gelingt, die von Tawada stets thematisierte Distanz zwischen Deutsch(land) und Japan(isch) als eine inszenierte Verfremdung der Autorin darzustellen. Diese wird durch die Heranziehung einer Publikation Tawadas auf Japanisch veranschaulicht, da so einige von der Schriftstellerin behauptete Differenzen zwischen beiden Sprachen – Realisierung der Persönlichkeitsentwicklung, Genuszuweisung zur Personifizierung der Gegenstände – hinterfragt werden können. Der Beitrag verdeutlicht, dass Sprachwechsel für die Wahrnehmung der sprachlichen und kulturellen Konzepte sensibilisiert, was seinerseits „inszenierte Verfremdung“ zu einem interkulturelle Literatur kennzeichnenden Stilmittel avancieren lässt.


Natalia Shchyhlevska analysiert die Romane „Zwischenstationen“ und „Schimons Schweigen“ Vladimir Vertlibs im Hinblick auf intertextuelle Referenzen und ihre sprachlich-kulturellen Dimensionen. Anhand der die thematische und sprachliche Ebenen sowie die Erzählstruktur des Romans „Schimons Schweigen“ prägende Referenzen auf das Lied „Zwei Schicksale“ von Wysozkij veranschaulicht sie die zentrale Bedeutung der interkulturellen Intertextualität im ästhetischen Konzept Vertlibs. Im zweiten Teil analysiert sie die Verwendung literarischer Mehrsprachigkeit und ihren Formen in diesen Romanen, weil dadurch „Synchronisierung als Technik des interkulturellen Schreibprozesses“ herausgearbeitet wird. Shchyhlevska resümiert, dass literarische Mehrsprachigkeit als Stilmittel verwendet wird, da dadurch der Zerrissenheit der Migration eine neue interkulturelle und kulturverbindende, synchrone Sprachwelt gegenübergestellt werden kann.


Raluca Dimian-Hergheligiu verifiziert Herta Müllers und Paul Celans „Wege der Problematisierung der Beziehung zwischen Sprache und Visualität“. Hierzu zieht sie Essays „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (Müller) und „Edgar Jené und der Traum vom Traum“ (Celan) heran. Die darin enthaltene Autorenreflektion über die unvollkommene Relation zwischen Wort und Bild analysiert Dimian-Hergheligiu im Hinblick auf Gemeinsamkeiten im reflexiv-poetischen Denken beider Autoren und beschreibt so auf verschiedenen Ebenen Parallelen zwischen Müllers und Celans Werken. Dabei hebt sie „dieselbe Neigung zur poetischen Inszenierung der metaphorischen Visualität“ sowie „eine gemeinsame Manier, die visuellen Metaphern zu konstruieren“ als besondere Gemeinsamkeit zwischen Müller und Celan hervor.


Chantal Wright beruft sich auf den Übersetzungstheoretiker Antoine Berman und den Literaturwissenschaftler Viktor Shklovsky, um Franco Biondis Stil in englischer Übersetzung nachzuspüren. In ihrer stilistischen Analyse von Biondis Romans „In deutschen Küchen“ hebt sie “morphological liberties” und „defamiliarisation“ (die von Shklovsky entwickelte Technik „остранения“, Verfremdung) als zentrale Techniken des Autors hervor. Anhand eines selbst übersetzen Kapitels aus dem Roman veranschaulicht Wright diese Vorgehensweisen Biondis und erläutert die Möglichkeiten der Bewahrung der das Original prägenden Fremdheit des Textes in der Übersetzung. Der Beitrag akzentuiert dadurch die Notwendigkeit, Übersetzer/innen für die stilistischen Besonderheiten interkultureller Werke zu sensibilisieren.


Im abschließenden Artikel trägt Szilvia Lengl anhand des Romans „Totalschaden“ von Que Du Luu Beispiele für den Verzicht auf das kulturelle Gedächtnis zusammen, um so den Preis der Loyalität zu beschreiben. Lengl stellt die These auf, dass „die Autorin ihre ‚erste‘ Sprache aus dem Geschehen ausklammert bzw. diese dem Protagonisten verweigert“ und so den Versuch der Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft unternimmt. Patrick Müller, die Hauptfigur des Romans, wird als „limitiert“ dargestellt, weil ihm Erinnerungen an eine andere Sprache und an ein anderes kulturelles Gedächtnis von der Autorin regelrecht verweigert werden. Lengl resümiert, dass die Ausklammerung der Interkulturalität und die bedingungslose Assimilation „eine Art Nischenexistenz“ erschaffen und „nur als temporäre Lösungsansätze“ fungieren.


Im Zusammenwirken dieser Beiträge lassen sich folgende erste Aussagen über die Sprache der interkulturellen Literatur und über die Techniken des interkulturellen Schreibens formulieren: Wechselwirkung zwischen der deutschen und der latenten Sprache, Verdichtungsprozesse (Ruiz), die „Strategie einer synchronisch aufgebauten Erzählsprache“ (Bieniec), historische Tiefe und „dicke Geschichtsstränge“ einzelner Wörter (Gallo), Sprachinszenierung und Selbstdarstellungen des Autors sowie das „Prinzip der sprachlichen Dekomposition und Rekonfiguration“ (Reeg), „inszenierte Verfremdung“ (Grein), interkulturelle Intertextualität und Synchronisierung der Sprachen (Shchyhlevska), „poetische Inszenierung der metaphorischen Visualität“ (Dimian-Hergheligiu), „morphological liberties” und „defamiliarisation“ (Wright), Verzichts auf das kulturelle Gedächtnis und Ausklammerung der Interkulturalität (Lengl). Es sind erste Ergebnisse und als solche verdeutlichen sie die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen auf diesem Gebiet unter intensiver Beteiligung interkultureller Wissenschaftler/Innen. […]



1 Der Workshop wurde von Natalia Shchyhlevska organisiert und fand im Rahmen der Honorarprofessur Carmine Chiellinos am Zentrum für Interkulturelle Studien an der JGU Mainz im Wintersemester 2011/12 statt.


* Da dil auf Türkisch zugleich Sprache und Zunge bedeutet, ist diese Bemerkung einer der ersten Sätze in Emine Sevgi Özdamars berühmter Erzählung Mutterzunge, die um das Thema Sprach- und Identitätsverlust kreist (aus dem 1993 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen gleichnamigen Erzählband).


© Text: Thelem Verlag, mit freundlicher Genehmigung der Autorin und Herausgeberin Natalia Shchyhlevska.

© Fotos: Thelem (Titel); zeit.de (Gastarbeiter-Empfang); wikimedia.org (Chamisso); bosch-stiftung.de (Oliver, Vertlib, Que Du Luu); sirene.at (Knapp); Ekko von Schichow (Zaimoglu); lesefutter.org (de Rock); markuskirchgessner.de (Tawada); lebenswege.rlp.de (Biondi). 

12VIII2014



Tweet