Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod
von Ekkehard W. Haring
„Bedenkt man [...], wie sich Prag aus der geistigen Öde der achtziger Jahre in kurzen drei Jahrzehnten zu einem wahren Literaturzentrum hinaufentwickelt hat, so darf man die frohe Hoffnung hegen, dass auch dem deutschen Drama aus der Stadt im Osten noch Licht und Erlösung kommen wird“, schreibt Josef Körner 1917 begeistert von der jungen Prager deutschen Literatur in der Zeitschrift Donauland. Welcher Art diese Erlösung sein könnte und was sich hinter dem zweideutig betonten „deutschen Drama“ verbirgt, bleibt das Geheimnis des Feuilletonisten. Literarisches Genre oder politisches Votum – gleichwie, beides lässt sich im zwei-nationalen Böhmen ohnehin kaum trennen. Einer der neuen Hoffnungsträger heißt Max Brod. Wie Franz Kafka, Franz Werfel, Otto Pick, Rudolf Fuchs, Oskar Baum und Ernst Weiß ist auch er jüdischer Herkunft. Körner porträtiert ihn so: „Max Brod ist vielleicht nicht der begabteste, gewiß aber der vielseitigste unter den Genossen. Messerscharfen Verstandes und außerordentlich energiebegabt, ein Organisationstalent sondergleichen, ist er zum Führer der Freunde prästabiliert. Er ist zugleich die interessanteste und problematischste Figur seines Kreises. Noch nicht viel über dreißig Jahre alt, hat er schon unzählige Wandlungen hinter sich, und mag man seine lyrischen und erzählenden Erstlinge vom ästhetischen und ethischen Standpunkt aus noch so strenge be- und verurteilen, so wird dadurch der Respekt nur größer, den man den letzten Schöpfungen [...] erweisen muß“ (Körner 1917: 784).
1. Dichtung und sozialer Heilsanspruch
Der Anspruch auf literarische Führerschaft bestand 1917 unumstritten. Für einen Autor, dessen Werk heute in Vergessenheit geraten ist und der bestenfalls als Nachlassverwalter oder problematischer Interpret Kafkas gelesen wird – ein seltsamer Befund (Haring 2001: 312ff.). Das Wirken Max Brods im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist freilich von Beginn an von extremen Widersprüchen durchzogen und exponiert sich da am schärfsten, wo es um raumgreifende Utopien von Erlösung geht. Seine programmatischen Entwürfe sind nicht einfache Plädoyers für eine bessere Welt, sie sind Dokumente messianischer Emphase, in denen sich Avantgardismus und umstürzlerischer Geist mit geradezu kindlicher Sehnsucht nach Operettenflitter mischen. „Ah! Que tout n’est-il opéra-comique!“ ruft so bereits der junge Theaterkritiker Max Brod in Anlehnung an Jules Laforgue aus (Bayerdörfer 1987: 159), während gleichzeitig der Bürgerschreck Brod, inspiriert von Schopenhauers ‚Offenbarungen’, am kompromisslosen Evangelium eines Indiffentisten Tod den Toten! arbeitet. In der 1913 von ihm herausgegebenen Prager Anthologie Arkadia wird wiederum ein ganz neues Credo verkündet: „– eine Synthese der realisierenden Kräfte unserer Zeit, die Sehnsucht nach idyllisch-monumentaler Form gegen das verzweifelte Chaos!“ (Buber 1972: 335).
Brod gibt sich hier dezidiert antimodernistisch: Junge Dichter, die sich durch die „Reinheit ihrer Werke“ auszeichnen, sollen quasi als idealische Einheit ein Gegengewicht gegen „die mit lasterhaftem Stolz betonte Zerrissenheit, Verzweiflung unserer Jugend“ und „gewisse öde Konventionen des Radikalismus“ schaffen. Formuliert wird damit nicht zuletzt ein ethisch-sozialer Entwurf: Reine Literatur zur Heilung gesellschaftlicher Krisis. Brods Offensive steht ganz im Zeichen jenes Tätigwerdens, von dem seine Generation – auf vielfältigste Weise – ergriffen ist. Die allen gemeinsame Erfahrung, im unerträglichen Käfig der Ambivalenzen gefangen zu sein, drängt auf eine wirksame Initiative, ja, sie fordert dazu auf, die Befreiung selbst in die Hand zu nehmen (Brod 1913a).
Eine Rettungsperspektive bietet die Rückbesinnung auf das Judentum. Keineswegs zufällig erkennt Brod in dem jüdischen Idealisten Martin Buber seinen Bundesgenossen. Hat dieser doch bereits in seinen berühmten Prager Reden über das Judentum (1909ff.) die „innere Wandlung“ und die „erlösende Tat“ jedes Einzelnen gefordert, um aus der Zerrissenheit westjüdischer Verhältnisse zu den lebendigen Wurzeln des Judentums zurückzufinden. Mehr noch: Die jüdische Renaissance, wie sie dem Kulturphilosophen vorschwebt, würde eine neue Form von Menschengemeinschaft schaffen, die heilsam auf das Zusammenleben aller Völker und Nationen wirkt.
Das was Martin Buber in Prag zu einer geistigen Autorität in Sachen „Erneuerung“ macht, ist sicher nicht nur sein neues, von Theodor Herzl deutlich abweichendes Konzept des Kulturzionismus, sondern auch seine charismatische Persönlichkeit: Gottentbranntes Judentum, chassidische Mystik und ästhetische Noblesse finden bei ihm einen gemeinsamen Ausdruck. Hinzu kommt die beträchtliche Wirkung, die einige von Bubers frühen Werken bei Prager Intellektuellen und nicht zuletzt in literarischen Kreisen hinterlassen haben. Selbstverständlich hat Brod die Ekstatischen Konfessionen (1909) gelesen und sich von den Quellen mystischer Erfahrungen inspirieren lassen. In der Einleitung beschreibt Buber das ekstatische Einheitserlebnis des Mystikers als eine Tat, in der der Gegensatz von Ich und Welt vorübergehend aufgehoben werde. Vornehmlich sei dies Sache des Dichters: die Einheit in der Vielheit zu erfahren und „neu zu dichten den uralten Mythos“ (Buber1909: 22).1
Buber weckt mit seinen Prager Reden nicht nur das Pathos einer Generation junger Aktivisten, Expressionisten und Kosmopoliten, er verspricht ihnen auch eine exklusive Identität. „Unser Tun muß einen Sinn haben“ – fasst einer seiner Prager Hörer, Robert Weltsch, zusammen. „Das Bewußtsein der Verantwortung lehrt uns, daß wir die „Auserwählten“ sind: jeder einzelne auserwählt, daß er vollbringe. Der durch die Schwere der Materie zerdrückte Wille mache sich frei zur Tat!“ (Weltsch 1913: 163).
Ähnlich begeistert schreibt der zweiundzwanzigjährige Hans Kohn:
Und von der TAT will ich noch kurz etwas sagen, leise und ehrfürchtig, wie es sich für den ziemt, der noch nicht den Mut gefunden hat. Und doch geht durch diese Worte ein starkes tröstliches Jauchzen, denn an dieser Tat [...] erkennen wir, daß es uns, auch uns!, möglich ist, heroisch zu werden und an der neuen Gemeinschaft anders als in Dumpfheit und im Worte mitzubauen. Die Tat tut der, der mit allem bricht, was ihm bisher schön und gut war, der den Schein alles Unwesentlichen abtut und sich reiner Erde vermählt, Bauer wird in Palästina,. Dies – und nur dies – ist WAHRHAFTIG ver sacrum, ist Gründung der neuen Lebensgemeinschaft. (Kohn 1913: 18)
So wie Hans Kohn und Robert Weltsch empfinden auch Hugo Herrmann, Felix Weltsch, Hugo Bergmann und Sigmund Kaznelson – junge Prager Intellektuelle, für die die Idee des Kulturzionismus eine Perspektive bietet, die Beschränktheit der gegenwärtigen mitteleuropäischen Wirklichkeit hinter sich zu lassen, in neue Seinstotalitäten und Gemeinschaften zu gelangen, um sich darin schöpferisch zu verwirklichen (Herzog 1994: 47; Rodlauer 1999).
Spätestens seit 1913 zählt sich auch Max Brod zu dieser Gemeinschaft. Maßgeblichen Anteil daran hat neben Buber der befreundete Philosoph Samuel Hugo Bergmann, dessen Essay Die Heiligung des Namens (1913) zu einem Manifest der Prager Geisteszionisten wird. Bergmann verbindet in diesem Aufsatz das biblische Wort „Geheiligt werde dein Name...“ (hebr. Kiddusch haschem) mit einem menschheitlich-ethischen Auftrag: Gott heiligt, indem die Gemeinde ihn heiligt. Anders gesagt: Haschem, der Name, erfährt erst durch das sittliche Handeln des Menschen seine Heiligung (Kiddusch). Bergmann legt nahe, dass hierfür vor allem das Judentum auserwählt sei. Richtungweisend ist der Schluss seiner Exegese, in dem er das gemeinschaftsstiftende Motto formuliert: „Der Zionismus ist unser Kiddusch haschem“ (Bergmann 1913, 39).
Wenn Bergmann die Einwohnung Gottes in der Welt – die Schechina – davon abhängig macht, dass der Mensch seine sittliche Bestimmung ergreift, so findet das bei Brod eine kongeniale Übersetzung. Seine literarischen Figuren leiden an der Welt und an der Krise der Moderne, aber sie warten nicht auf Erlösung, sondern nehmen ihre und Gottes Erlösung selbst in die Hand. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Romanheld Tycho Brahe, der zunächst durch das Christentum erkennen muss, dass die Welt unerlöst ist, schließlich aber durch das Judentum den Weg aus der Krise gewiesen bekommt. Sein Fazit lautet: Statt auf Erlösung zu warten, kann der gerechte Mensch sie durch den Dienst am Werke Gottes herbeiführen (Brod 1916a). Ähnlich nuanciert Brod diesen Gedanken auch in seiner David-Frischmann-Übertragung Der Messias:
Bis ein neues Menschengeschlecht aufsteht,
Ein Geschlecht, das wahrhaft Erlösung will
Und die Seele bereitet, erlöst zu sein,
Dann erfüllt sich Dein Schicksal, - Du wirst erlöst,
Dein Schicksal erfüllt sich, - Du wirst erlösen. (Brod 1917: 30)
Der durch Buber und Bergmann neugewonnene Zugang zum Judentum erschließt sich für Brod vor allem durch publizistisches und literarisches Schaffen. Doch die Bestimmung dessen, was „erlösende Tat“ bedeutet, erfährt bei ihm binnen weniger Jahre beachtliche Transformationen. Der folgende Überblick versucht daher die vielleicht interessanteste, aus heutiger Sicht jedenfalls produktivste Phase seines Schaffens, die Jahre 1912 bis 1922, näher zu beleuchten.
2. Rettende Katastrophe und Diesseitswunder der Liebe
Brods aktive Teilhabe am zionistischen Diskurs dokumentiert sich erstmals in seinem Aufsatz Der jüdische Dichter deutscher Zunge, der im Sammelband Vom Judentum, herausgegeben vom Prager Studentenverein Bar Kochba, erscheint. In diesem Beitrag sucht er nach den Grundzusammenhängen von Dichtung und Judentum und erhebt die Frage „echter jüdischer Dichtung“ zur Kardinalfrage seiner Epoche. „Überflüssig zu bemerken, dass ich auch die nationale Begeisterung, die mystische Versenkung in die Tiefen des Judentums für hervorragende dichterische Stoffe halte“, heißt es dort prägnant (Brod 1913b: 261f.).
Werk und Person Brods reizen bis heute zur Diskussion. Wie kaum ein anderer seiner Generation hat Brod in exemplarischer Weise die Wandlung vom ästhetischen Indifferentisten zum kosmopolitischen Wir-Expressionisten und schließlich zum Propheten der jungjüdischen Erneuerungsbewegung vor aller Öffentlichkeit vollzogen, teils unter heftiger Missbilligung früherer Freunde, teils mit nervöser Anteilnahme von Gleichgesinnten, vor allem aber mit der moralischen Integrität eines Mannes, dem niemand Bigotterie oder Opportunismus zutraute, weil er Intelligenz und Bildung mit einer fast kindlichen Naivität verband (Mattenklott 1994). Bezeichnend für Brods zionistisches Engagement während des ersten Weltkrieges ist der von ihm geprägte Begriff der „Gemeinschaftsekstase“. Es scheint, dass ihm sein oft überschwengliches Streben nach Gemeinschaft nicht immer nur Sympathien, sondern auch Zerwürfnisse einträgt.
So vor allem in der Publizistik: Im ersten Jahrgang der 1916 von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude lanciert Brod einen Artikel mit dem Titel Unsere Literaten und die Gemeinschaft. Darin zeichnet er die welt- und gemeinschaftsflüchtigen Tendenzen jüdischer Autoren nach und unterzieht sie einer harschen Kritik. Hatte er beim Erscheinen seines Jahrbuches Arkadia 1913 noch von einer „inneren Gemeinschaft, einer Kirche der beteiligten Autoren“ gesprochen, so wirft er im Aufsatz 1916 der neuen jüdischen Literatur Verantwortungslosigkeit und Egozentrik vor: „(Sie) heftet die Augen zu wenig auf die ungeheure Aufgabe draußen, außerhalb des Ich, geht mehr auf Selbsterlösung aus, als auf das innerste Ethos des Judentums: Messianismus, Welterlösung“ (Brod 1916b: 464). Die leere Aufbruchsemphase des Berliner Kreises um Kurt Hiller bezeichnet Brod als „Spuk eines Frosches“, „der hin- und herspringt, nachdem man ihm den Kopf abgeschnitten hat und der noch aus Zickzack und Kopflosigkeit eine Philosophie macht“ (Brod 1916b: 458).
Mit dem einstigen Protegé Franz Werfel, der während des ersten Weltkrieges eine expressionistisch-vitalistisch grundierte Wende vollzieht, kommt es sogar zur literarischen Fehde. Brod zufolge existieren zwei Typen des ethischen Menschen: Selbsterlöser und Welterlöser – jene seien getarnte Narzisten wie etwa Werfel, sie verstricken sich in Selbstliebe und falscher Ich-Bejahung – „Wir aber glauben“, so Brod weiter, „daß irdisches Unglück mit allen Mitteln gelindert werden muß. Dann erst wollen wir uns um uns selbst [...] kümmern“ (Brod 1916c: 79; Brod 1916d: 720). Brüskiert von Kritiken wie diesen wendet sich Werfel mit einer Beschwerde an Martin Buber. Das meiste, was Zionisten schreiben, sei beleidigend, bemerkt er in einem Brief Anfang 1917 – und präzisiert: „Meine Abneigung erstreckt sich hauptsächlich auf Prager Zionisten“. Der um vermittelnden Dialog bemühte Martin Buber wendet sich daraufhin an Max Brod mit der Bitte um Mäßigung und gibt zu bedenken: „[...] übersehen Sie nicht zuweilen in dem bewunderungswerten Eifer Ihrer Werbearbeit die zarten spezifischen Gesetze einer bestimmten, so und nicht anders gearteten Seele?“ (Buber 1972: 468, 470f.).
Gewiss ist Brod nicht der einzige ‚messianische Landvermesser‘ im Umfeld europäischer Erneuerungsbewegungen. Doch die beiden Beispiele lassen deutlich seine individuelle Signatur in den Debatten des expressionistischen Jahrzehnts hervortreten. Zweifellos, sein Erlösungsmodell erscheint in Grundzügen rigoristisch normativ. Es verbindet sich gut mit der Selbstermächtigung der kulturellen Intelligenz als einer Elite mit besonderer Mission – berufen dazu, das messianische Zeitalter zu begründen. Wie die meisten Prager Geisteszionisten strebt auch der junge Intellektuelle Max Brod nach einer radikalen Erneuerung der Gesellschaft unter Rückbindung an die jüdische Tradition. Dass sich hier ein „hohes terroristisches Potential“ zeigt (Mattenklott1994: 190), ist eine These, über die man – hinsichtlich gewisser literarischer Themen und Gestalten Brods wie auch angesichts seiner zeitweiligen Affinitäten zu Anarchismus und konservativer Revolution – zukünftig noch eingehender diskutieren sollte. So ist das imaginativ-intellektuelle Spiel mit der ‚rettenden Katastrophe’ oft genug auch Gegenstand seines erzählerisch-dramaturgischen Schaffens. Man sollte hier dennoch vorsichtig und differenziert abwägen. Die Konsequenz einer praktischen Umsetzung jenseits der Theaterbühne vollzieht der Dichter Brod jedenfalls nicht.
Bei all dem darf auch nicht vergessen werden, welchen Wurzeln sein oft überschäumendes Engagement entspringt. Die nervöse Suche nach stabilen Gemeinschaften oder nach einem (an Entwürfen Achad Haams orientierten) „Nationalen Ich“ verweist ja keineswegs bloß auf eine persönliche Disposition. Wenn Brod „mit allen Mitteln“ nach „Linderung irdischen Unglücks“ sucht und seinen aussichtslosen Feldzug gegen die Krankheiten der Moderne führt, so unterstreicht er damit vor allem die Nöte seiner Zeit beim Zusammensturz des alten Europa. Pointierter gefasst: Der rigorose ethische Imperativ, den Brod sich und anderen jüdischen Intellektuellen mit manchmal etwas schrillem Tremolo ins Bewusstsein ruft, ist sicherlich auch ein Ausdruck für den Verlust des grundlegenden Vertrauens in die Versprechungen europäischer Aufklärung – Emanzipation, Mündigkeit, Erlösung aus dem Exil der Geschichte.
In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg muss Brod sein Erlösungs-Konzept abermals relativieren. Durch Diskussionen mit Felix Weltsch und Franz Kafka setzt er sich mit der „Freiheit menschlichen Willens“ auseinander 2 und gelangt hier zur Unterscheidung zweier messianischer Zustände menschlichen Unglücks. Im Bereich des „unedlen Unglücks“, zu dem vor allem die Politik gehöre, ist der Mensch für sein Handeln voll verantwortlich. „Edles Unglück“ hingegen, in der Sphäre des Eros, der Triebe und der Leidenschaften, ist für den Menschen unabänderbar und einzig von der Gnade Gottes abhängig. Die Konstruktion zweier messianischer Bereiche – mag sie noch so willkürlich erscheinen – erweist sich für weitere Überlegungen als unverzichtbares Axiom: Brod verabschiedet die Rhetorik der „unbedingten Tat“ und zieht nun klar die Grenze menschlicher Handlungs- und Willensfreiheit. Aus dem Versuch, die Paradoxien der Zeit aufzulösen und das „verzweifelte Chaos“ in ein homogenes Arkadia zu verwandeln, ist das Bekenntnis eines Existenzialisten geworden, der die Grundparadoxie von Tat und Ethik zur sinnstiftenden Lebensmaxime erhebt.
Damit wird freilich auch die vieldiskutierte Frage nach dem Primat von Individualerlösung oder Welterlösung obsolet. In seinem Bekenntnisbuch Judentum Christentum Heidentum (1921) deutet Brod an, dass sein unbedingtes Streben nach Gemeinschaft und sozialer Ekstase durch die Erfahrungen des Krieges nachhaltig erschüttert wurde:
Erschrocken sah ich überall die steinernen Gesichter der vielen Gemeinschaftswilligen, die in bester Absicht ihre Instinkte zertrampelt hatten [...] Tugendbünde erfanden den Gasangriff, Gemeinwohlbeflissene wurden Virtuosen des Maschinengewehrs [...], ehrliche Weltbeglücker, Idealisten hielten von Millionen Kanzleien her die Blutmaschine in Gang [...]. Hatte ich früher empfunden, wie Welterlösung und Selbsterlösung einander befehdeten [...], so fühlte ich jetzt besonders stark, daß sie einander zur Ergänzung brauchten, daß jede allein für sich – unvollkommen, sündhaft bleibt. – Aber daß sie einander auch störten, empfand ich trotzdem auch weiterhin. (Brod 1921: 192f.)
Indes stößt Brod bei der Erwägung menschlicher und göttlicher Aktionsräume auf ein intermittierendes Drittes: das „Diesseitswunder der Liebe“. Insofern nämlich, als Liebe und Sexualität einen Bereich auf der Grenze zwischen edlem und unedlem Unglück bilden, sei gerade hier eine Form von individuell-gemeinschaftlicher Erlösung denkbar. Brod, der an diesem Gedanken bis an sein Lebensende festhält, sieht darin einen dem Judentum vorbehaltenen Sonderweg: „Das Ideal des Christentums ist das der unendlichen Resignation, das Ideal des Judentums das Diesseitswunder, die durch das Paradox zurückgewonnene Endlichkeit.“ (Brod 1921: 294) Liebe als letzte Instanz der messianischen Hoffnung in der Welt – Brod hat damit das zentrale Thema seines Schreibens gefunden.
3. Erlösungssucher und Erlöserinnen
Die hier in Grundzügen nachgezeichnete geistige Biographie findet ihren Ausdruck im literarischen Oeuvre. Brod hat in jedem seiner frühen Bücher die Bilanz eines zurückliegenden Lebensabschnittes gezogen. So verwundert es nicht, dass die von ihm verfassten Figuren im eigentlichen Sinne Projektionsflächen aktueller oder bereits überwundener geistiger Programme sind. Das gilt insbesondere hinsichtlich seines Bekenntnisses zum Judentum und der bereits angesprochenen messianischen Aspekte:
Der durch eine unheilbare Krankheit ans Bett gefesselte Jüngling Lo in der Novelle Indifferentismus (aus Tod den Toten!, 1906) wird erst gerettet durch sein „Sichselbstausderweltschaffen“. Bereits in der Titelnovelle wird das Ende der Kunst gleichsam als rettendes Inferno gepriesen. Die Menschheit habe diesbezüglich drei Schritte zu tun: „der erste führt sie an den Flammen des Sinai vorbei in die Religion, der zweite durch die Scheiterhaufen der Reformatoren aus der Religion in die Kunst, der dritte durch den Brand der Kunstmagazine“ in die Freiheit oder den Tod (Brod 1906: 34).
Brods Romanheld Walder Nornepygge (Schloß Nornepygge, 1908) ist die personifizierte Abrechnung mit dem Indifferentismus. Walder muss in seiner Odyssee durch die Gesellschaft der Jahrhundertwende schmerzlich erfahren, dass ihm die „bewusstlose Tat“ kaum mehr Freiheit bringt als das verfluchte „tatenlose Bewusstsein“ (Heydenbluth 1990: 176f.). Sein Selbstmord, als letzter Akt der Selbstüberwindung, steht gleichsam für jene „öde Konvention des Radikalismus“, die Brod später am literarischen Aktivismus verwirft.
Der Roman Arnold Beer. Schicksal eines Juden (1912) stellt bereits dezidiert die Frage nach der jüdischen Herkunft und markiert so – neben Jüdinnen (1911) – ein frühes Entwicklungsstadium des Geisteszionisten Max Brod. Reichlich ausgestattet mit autobiografischen Zügen (Pasley/Rodlauer 1989: 238), steht der Protagonist Beer für den Typus des hochgebildeten assimilierten Juden, der sich jedoch nicht zur entscheidenden Tat durchringen kann.
Tycho Brahes Weg zu Gott erscheint 1915 und vollzieht die Konsequenz eines weiteren Schrittes. Wenn Brod seinen Roman in der Epoche der Renaissance ansiedelt, so ist das als eine deutliche Anspielung auf die jüdische Renaissance zu verstehen. Die historische Gestalt des Prager Hofastronomen Tycho Brahe verkörpert hier die Problematik des modernen, wurzellosen Juden in einer Welt ohne Ordnung. Dieser Analogie wird sich der Romanheld an einer entscheidenden Stelle des Buches selbst bewusst:
[...] nun erschien ihm wirklich das Volk der Juden, heimatlos und flüchtig wie er, stets angefeindet wie er, in seiner Lehre mißverstanden wie er und dennoch an ihr festhaltend, ausgeraubt und verwundet wie er, dieses Volk der Mißerfolge, förmlich als ein Symbol seines eigenen Lebenswandels. Es fiel ihm ein, daß er sich schon früher einmal mit Ahasverus, dem ewigen Juden, verglichen hatte[...]. (Brod1916a: 387)
Mit dem jungen Gelehrten Keppler, dessen Individualismus Tychos Suche nach universeller Wahrheit zu gefährden droht, wird erneut die Frage nach Welterlösung oder Individualerlösung aufgeworfen. Den Ausweg aus dem Dilemma weist Rabbi Löw: Tycho erkennt, dass Gott seiner tätigen Mithilfe, ja seines Opfers bedarf und wird so schließlich zum „Bahnbrecher“ einer neuen Ordnung ( Brod 1916a: 387ff.).
Brods Buch Das große Wagnis von 1918 ist eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte (selbst)kritische Auseinandersetzung mit Entwürfen der Menschheitserlösung. Der utopische Roman malt zunächst die Zukunftsvision einer schönen neuen Welt: Während in Europa dauerhaft Krieg tobt, haben Dissidenten und Deserteure in einem unterirdischen Höhlenreich einen Staat der Freiheit „Liberia“ gegründet. Nach der Idee ihres Anführers Dr. Askonas basiert diese Gesellschaft auf einer Kollektivmoral, die jede Form von Individualismus unterdrückt. In der Überzeugung, dass die Paradoxie von Tat und Ethos im Individuum nicht zu lösen sei, sondern nur Konflikte hervorbringe, praktiziert man die innere Befreiung des Einzelnen und verzichtet auf Individuelles wie Eigennamen oder Leidenschaft. Die Menschheit werde „Gerettet durch Entparadoxierung“ – so verspricht es das „System Askonas“. Oder wie einer der Anhänger erläutert:
Früher in der Vorzeit, das heißt vor dem Auftreten des Doktor Askonas, versperrte sich jeder wie einen papinschen Topf, unter dem Deckel des bösen Gewissens wollte er seine Sittlichkeit gar kochen [...]. Man genoß das frevelhafte Glück, nie mit sich selbst fertig werden zu können, sich daher nie um andere kümmern zu müssen [...]. Die Moral blieb im Paradox stecken. (Brod 1918a: 63)
Der träumerische Protagonist des Romans, lernt „Liberia“ allerdings bald schon als eine Art „Strafkolonie“ kennen, in der die Werte von Liebe und Freiheit pervertiert werden. Zweifel kommen ihm insbesondere am Messianismus des Leiters:
Wer ist dieser Doktor Askonas? Ein Erlöser, der sich seinem Traum zum Opfer bringt (..)? Oder ein Fallensteller, eine Verbrechernatur, die ihre dunklen Instinkte unter dem Deckmantel der Messianität austobt? (Brod 1918a: 80)
Er wie auch Askonas erkennen durch die Zionistin Ruth, dass die Umsetzung ihrer großen Träume nicht nur der Tat bedarf, sondern auch des „richtigen Wollens“. Für Ruth ist dies eine Frage des „Instinkt(s) für gute schnelle Entscheidungen in jedem Menschen“ (Brod 1918a: 100f.). Ein von ihr unter dem Namen „Das große Wagnis“ entwickeltes Übungsspiel soll junge Menschen auf ihr Leben vorbereiten, indem es trainiert, im rechten Augenblick, entschlossen und leicht das Entscheidende zu tun. Doch die instinktive Ausrichtung auf das „richtige Wollen“ bleibt für die meisten ein nicht vermittelbarer Lehrstoff. So muss auch das Experiment „Liberia“ letztlich scheitern, da es vom entscheidenden Instinkt niemals geleitet wurde. Askonas’ Utopie geht in den Flammen eines bewaffneten Aufstandes unter; sein Alter Ego, der Protagonist indes wird zum Verkünder einer wahren Renaissance: „Wo bisher Hoffnung auf Gnade war, dorthin stelle ich Ruths Hoffnung auf eine neue Jugend und auf die großen Führer der Jugend und auf den größten Führer, auf den Messias, der kommen wird ...“ (Brod 1918a: 333).
Bemerkenswert an diesem heute fast vergessenen Roman von 1918 ist nicht nur der kritische Umgang mit gesellschaftlichen Utopien aus der Sicht des Kulturzionisten, sondern vor allem das Ringen des Autors um eine lebenspraktische Orientierung im Spannungsfeld Aktivismus – Ethik, Welterlösung – Individualerlösung. Eines ist unübersehbar: Brod sucht nach Perspektiven eines dritten Weges, aber man könnte angesichts seiner mitunter „gewagten“ Synthesen den Eindruck gewinnen, er sei 1918 da angekommen, wo er zehn Jahre zuvor aufgebrochen war – bei einer vitalistischen Diagnose der Krankheit der Moderne. Insbesondere seine Romanfiguren Max und Ruth scheinen das in der Balance von Schwäche – Stärke, Krankheit – Gesundheit, Geist – Tat, Entschlusslosigkeit – Willenskraft zu unterstreichen. Inzwischen hat Brod freilich einen weit schärferen Focus für das Unglück moderner Verhältnisse gefunden: die westjüdische Zeit. Die vitale Figur in diesem Kosmos ist weiblich und führt den „schwachen Helden“ aus den Verstrickungen der Assimilation in ein „Zion des Herzens und des gesunden Menschenverstands“ (Brod 1918a: 330ff.).
Die 1918 in Briefen ausgegebene und am Roman leitmotivisch vorgeführte Devise von der „Frau als Führerin“ ist neu. Ihre Vorboten trifft man aber bereits in frühen Werken Brods an. Anders als die von Unglück und Krisis angekränkelten männlichen Charaktere repräsentieren Frauenfiguren in seiner Dichtung meist Natürlichkeit, Lebenskraft, Entschlossenheit und Ursprünglichkeit. Brod umgibt diese Gestalten zumeist mit einer Aura der Erotik; sie stehen symbolisch für jenes Arkadien, an dem die Welt gesunden soll. In den Jahren seit 1912 gestaltet er Frauenfiguren mit betont messianischen Zügen.
Der Erzähler in Das Ballettmädchen (1913) etwa stellt sich und dem Leser die zentrale Frage, „[...] ob die Frau imstande sein wird, die ihr eigentümliche schöne Gesetzlosigkeit auch noch in unserem Zeitalter, in dem die Dinge schon zum Erschrecken mechanisiert sind, aufrechtzuerhalten“ (Brod 1990: 52). Aufschlussreich diesbezüglich sind insbesondere die dramatischen Entwürfe der Jahre 1912 bis 1921. In ihnen tritt ein Typ Frau in Erscheinung, den Brod als „jüdische Heroine“ konzipiert; Heroisches in unheroischer Zeit soll vorgeführt werden.
Im bürgerlichen Läuterungsdrama Die Retterin (1912) ist es das Mädchen vom Lande, Hanna, das tatkräftig in den zerrütteten städtischen Verhältnissen für Liebe und Menschlichkeit eintritt, dafür gedemütigt wird und schließlich bei einer Revolte zur Retterin avanciert. Aus der Märtyrerin ist eine Führerin geworden; in Ekstase ruft sie den tobenden Volksmassen zu:
[...] glaubet nicht, daß die Erlösung unmöglich sei und die Erde starr bis in ihre Geweide. Glaubet das nicht. Ich sage vielmehr: es kommt die Zeit, die all euer Böses umwirft und die alle Erden in Luft zersprengt. Diese Zeit aber, sie ist da, es ist die Zeit eines jeden guten Herzens [...]. Steht nicht mehr, handelt, tut etwas! (Brod 1913c: 97f.)
In Eine Königin Esther (1918) ist der Handlungsimperativ bereits komplexer verarbeitet. Brod bedient sich bei der Adaption des biblischen Stoffes einiger bemerkenswerter Kunstgriffe. So ist Haman, der Vertreter eines negativen Prinzips, ein sich selbst hassender Jude, der Esther auffordert, ihn zu töten. Esther hingegen, zunächst Inkarnation makelloser Reinheit, wird erst zur erlösenden (Mord)Tat fähig, nachdem sie Hamans Lehre in sich aufgenommen hat, um sie dann zum Wohle ihres Volkes umzusetzen. Auf die Frage nach dem Sinn einer in Schuld verstrickten Tat-Ethik, antwortet die Heldin: „Vielleicht, damit wir besser werden. Hamans Erbe sollte uns eingeimpft werden, wir sollten es fühlen und überwinden“ (Brod 1918b: 157). Das Wagestück einer solchen homöopathischen Läuterung ist unschwer zu erkennen. Im Bewusstsein, dass Esther eine fast übermenschliche Verantwortung übernimmt, lässt Brod sie dem jüdischen Volk zurufen: „schämt euch, daß ihr so feig wart, auf meine Tat zu warten“ (Brod 1918b: 134).3
Der dramatische Dialog Erlöserin. Ein Hetärengespräch (1921) setzt die Reihe der Retterinnen fort. Hier wird geradezu lehrstückhaft vorgeführt, was Brod in seinen religionsphilosophischen Schriften erarbeitet hat. Der Besuch eines hohen Diplomaten bei einer Prostituierten – er assimilierter Jude, sie Zionistin – nimmt einen überraschenden Verlauf. Indem die Frau ihrem Gegenüber begreiflich machen kann, dass ihre „Tat“ zwar verworfen, aber aufgrund ihres uneigennützigen Opfers für ein Besiedlungsprojekt in Zentralasien ebenso heroisch ist, und überdies dem Mann erlaubt, schuldlos zu sündigen, gewinnt sie dessen höchste Verehrung. Im Gegensatz zum Politiker weiß die Hetäre instinktiv das Gute zu tun. Skeptisch gegenüber den tradierten ethischen Gesellschaftsentwürfen Mitteleuropas fragt sie: „Müssen wir Juden das nachahmen?“ (Brod 1921b: 7).
Wie sich unschwer erkennen lässt, geht es Brod in dem Stück um eine anschauliche Darstellung der menschlichen Seinsbereiche edles Unglück (Sphäre der Triebe und Leidenschaften) – unedles Unglück (Sphäre der Politik) mit Perspektive auf das Diesseitswunder der Liebe. Mag es auch am Ende nicht gerade überzeugen, wenn der hohe Diplomat vor der „heiligen Schamlosigkeit“ seiner Erlöserin auf die Knie fällt (Brod 1921b: 37-41), so wird doch einmal mehr klar, wie sehr das Konzept „Frau als Führerin“ an Diskursen der jüdischen Renaissance mit ihren klassizistischen Wertevorstellungen orientiert ist. Doch Brods Ideal der jüdischen Frau, die, sich selbst aufopfernd, die Welt von Ambivalenz befreit, kann keinen wirklichen Ausweg aus der Krise der Moderne weisen. Ihr Weg führt mitten durch diese Krise hindurch und verliert sich darin.
In dieser Hinsicht erweisen sich die heroisch-erotischen (Ver)Führerinnen schlechthin als realitätsferne Fantasmagorien eines Dichters. Auch das Ideal der jungen galizischen Ostjüdinnen, die während des Krieges 1916 in der Prager Flüchtlingsnotschule Zuflucht suchen und von Brod emphatisch als lebendige Inkarnationen des jüdischen Geistes gefeiert werden, ist blind für die Wirklichkeit: 4
Wenn rings die Welt sich toll zerreißt:
Von einer höhern Macht gespeist,
Lebt ihr und rüstet euch weiter.
Ihr tapfern Mädchen: Ihr seid der Geist! (Brod 1918: 18)
In der verklärenden Sicht des Dichters zählen nur die „wahrhaftige Naivität des Geistes“ und „innige Mischung aus Natürlichem und Erhabenem“ dieser Mädchen als Führerinnen nach Zion, weniger hingegen ihre wirklichen Bedürfnisse oder Befindlichkeiten zu Zeiten des Krieges (Brod 1916d: 34ff.).
So zeigt sich gerade im Gestus energischster Selbstbehauptung immer auch Brods Ratlosigkeit angesichts der Katastrophen seiner Zeit. Seine Figuren demonstrieren diese Ohnmacht, selbst wenn sie sich mit einem „das Absurde aushaltenden Humanismus“ (Bärsch 1992: 61) über das Unglück erheben. Gerade darum, weil Brod keine adäquate Antwort auf die drängenden Probleme seiner Zeit finden kann, bleibt sein Schreiben vom Wunsch nach „unbedingter Tat“, „Verwirklichung“ und „Erlösung“ durchdrungen. Mangel und Euphorie treiben diese Suche unablässig voran – sie bilden das vielleicht beständigste Fundament seines Messianismus.
4. Epilog
Brods exemplarische Zerrissenheit, sein raumgreifendes Engagement und die aufreibende Vitalität seines vielseitigen Wirkens lassen sich im Rahmen dieses Essays nur andeuten. Auf seine Aktivitäten als Musiker, Librettist, Übersetzer, Herausgeber, Nachlassverwalter Kafkas, Kunstkritiker, Talenteförderer, Flüchtlingsnothelfer, Pazifist, Taylorismus-Gegner, zionistischer Politiker und nicht zuletzt als Prager Impresario kann daher nur am Rande hingewiesen werden (Weltsch 1934). Brod – ein nicht immer bequemer Zeitgenosse, der die Praxis eines tätigen Humanismus genauso schätzte wie die Exklusivität großer Freundschaftsbünde. Der von ihm selbst posthum in Umlauf gebrachte Topos des „Prager Kreises“ mag eine literatursoziologische Erfindung sein, erweist sich jedoch bis heute als tragfähige Konstruktion. Gleichwie, ob innerhalb oder außerhalb geschlossener Zirkel, Brods Teilhabe an den kulturhistorisch innovativen Entwicklungen der Prager Moderne ist unbestreitbar. Zum einen verstand er es wie kein anderer, neue Ideen regional wie überregional zu propagieren. Zum anderen gelang es ihm, Demarkationslinien verschiedenster Parteiungen und Gemeinschaften zu durchbrechen und so ein produktives Netzwerk zu betreiben. – Dies nicht nur in seiner Stellung als Jude im zwei-nationalen Böhmen, sondern auch als aktiver Mitarbeiter von über vierzig literarischen Zeitschriften und Anthologien. Zweifellos erfüllte die ‚multimediale Persönlichkeit’ Brod besser als jeder andere die Voraussetzungen, um Avantgarden zu fördern oder Künstlern wie Kafka, Werfel, Čapek und Janáček zum Durchbruch zu verhelfen (Pazi 2002). Als Quintessenz dieses streitbaren Lebens bleibt freilich ein Paradox bestehen: Der Mann, der mit untrüglichem Gespür die Eliten der klassischen Moderne rekrutierte, sollte selbst keinen Platz im Pantheon der großen Literatur finden. Sein Kampf gegen das verzweifelte Chaos der Moderne brachte letztlich eine Moderne hervor, die ihn literarisch überholte. Und wo einmal seine Dichtung im Brennpunkt gesellschaftlicher Krisen- und Heilsszenarien stand, verstaubt sie heute in den Archiven als das Werk eines Autors ohne Leser und ohne Nachauflage 5 – oder um eine Trope Kafkas zu gebrauchen: „[...] in gesteigerter Erlösung vergessen...“.
5. Literatur
Bärsch, Claus-Ekkehard (1992): Max Brod. Im Kampf um das Judentum. Wien: Passagen.
Bayerdörfer, Hans Peter (1987): „Der bücherfreudige Hirtenknabe“. Max Brod und das Theater. – In: Pazi, Margarete (Hg.): Max Brod. 1884-1984, Bern/New York: Peter Lang, 151-175.
Bergmann, Hugo (1913): Die Heiligung des Namens. – In: Vom Judentum. Leipzig: Kurt Wolff, 32-43.
Bergmann, Hugo (1919): Jawne und Jerusalem. Berlin: Jüdischer Verlag, 86-96.
Brod, Max (1906): Tod den Toten! Stuttgart: Axel Juncker.
Brod, Max (1913a) (Hg.): Arkadia. Ein Jahrbuch für die Dichtkunst. Leipzig: Kurt Wolff.
Brod, Max (1913b): Der jüdische Dichter deutscher Zunge. – In: Vom Judentum. Herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt Wolff, 261-263.
Brod, Max (1913c): Die Retterin. Schauspiel in 4 Akten. Leipzig: Kurt Wolff.
Brod, Max (1916a): Tycho Brahes Weg zu Gott. Leipzig: Kurt Wolff.
Brod, Max (1916b): Unsere Literaten und die Gemeinschaft. – In: Der Jude I/ 7, 457-464.
Brod, Max (1916c): Organisation der Organisationen. – In: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist.
Brod, Max (1916d): Erfahrungen im ostjüdischen Schulwerk. – in: Der Jude I/ 1, 32-36.
Brod, Max (1916/17): Franz Werfels „christliche Sendung“. – In: Der Jude. I/ 11, 717-724.
Brod, Max (1917a): Der Messias. – In: Das gelobte Land. Ein Buch der Schmerzen und Hoffnungen. Leipzig: Kurt Wolff.
Brod, Max (1917b): Schule für galizische Flüchtlingskinder. – In: Das gelobte Land. Ein Buch der Schmerzen und Hoffnungen. Leipzig: Kurt Wolff.
Brod, Max (1918a): Das große Wagnis. Leipzig/Wien: Kurt Wolff.
Brod, Max (1918b): Eine Königin Esther. Drama in einem Vorspiel und drei Akten. Leipzig: Kurt Wolff.
Brod, Max (1921a): Judentum Christentum Heidentum. Ein Bekenntnisbuch Bd.1. München: Kurt Wolff.
Brod, Max (1921b): Erlöserin. Ein Hetärengespräch. Berlin: Ernst Rowohlt.
Brod, Max (1990): Notwehr. Frühe Erzählungen. Berlin: Rütten&Loening.
Buber (1909): Ekstatische Konfessionen. Leipzig: Insel.
Buber, Martin (1972): Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten Bd.1. Heidelberg: Lambert Schneider.
Haring, Ekkehard (2001): Wege jüdischer Kafka-Deutung. Versuch einer kritischen Bilanz. – In: Das Jüdische Echo. Wien, 310-324.
Herzog, Andreas (1994): „Vom Judentum“. Anmerkungen zum Sammelband des Vereins „Bar Kochba“. – In: K. Krolop/H. D. Zimmermann (Hg.): Kafka und Prag, Colloquium im Goethe-Institut Prag. Berlin/New York: de Gruyter, 45-58.
Heydenbluth, Mathias (1990): Nachwort. – In: Max Brod. Notwehr. Frühe Erzählungen. Berlin: Rütten&Loening, 169-192.
Körner, Josef (1917): Dichter und Dichtung aus dem deutschen Prag. – In: Donauland 1/1917. Wien, 777-784.
Kohn, Hans (1913): Der Geist des Orients. – In: Vom Judentum. Herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt Wolff, 9-20.
Mattenklott, Gert (1994): Mythologie, Messianismus, Macht. – In: Eveline Goodmann-Thau (Hg.): Messianismus zwischen Mythos und Macht. Berlin: Akademie, 179-196.
Pasley, Malcolm/RODLAUER, Hannelore (Hg.) (1989): Max Brod – Franz Kafka. Eine Freundschaft Briefwechsel. Frankfurt/Main: Fischer.
Pazi, Margarete (2001): Max Brod – von Schloß Nornepygge zu Galilei in Gefangenschaft. – In: Staub und Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur. Herausgegeben von Sigrid Bauschinger und Paul Michael Lützeler. Göttingen: Wallstein, 40-61.
Rodlauer, Hannelore (1999): „Was habe ich mit Juden gemeinsam?“ Franz Kafka und die Gemeinschaft. – In: Das Jüdische Echo. Wien, 63-70.
Rosenbaum, Heinrich (1917): Die Prager Flüchtlingsfürsorge. – In: Das Jüdische Prag . Prag: Selbstwehr, 55f.
Weltsch, Felix (Hg.) (1934): Dichter, Denker, Helfer. Max Brod zum 50. Geburtstag. Mährisch-Ostrau: Keller.
Weltsch, Robert (1913): Herzl und wir. – In: Vom Judentum Herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt Wolff, 155-165.
Anmerkungen
1 Zu Brods Reaktionen auf die Ekstatischen Konfessionen siehe den Brief an Buber (1972: 350f.)
2 In seinem Buch Gnade und Freiheit. Untersuchungen zum Problem des schöpferischen Willens in Religion und Ethik (1920), auf das sich Brod mehrfach bezieht, entwickelt Weltsch den Begriff vom tragischen Widerspruch zwischen triebhafter Natur und ethischem Gebot. Dieser Grundwiderspruch des Menschen lasse sich nur durch einen ekstatischen „Sprung“ in das Wunder der Einheit aufheben. Zur Umsetzung dieses Sprunges sieht der Philosoph zwei Wege: den Weg der göttlichen Gnade und den Weg des frei sich entscheidenden Menschen...; Kafkas eher kritische Haltung dokumentiert sich im Briefwechsel der Jahre 1918ff.
3 Siehe dazu auch die Ausführungen von Bayerdörfer (1987: 166ff.)
4 Aus den Mitteln eines Flüchtlingsnotfonds wird von engagierten Prager Juden 1916 eine Flüchtlingsschule eingerichtet, in der Brod Seminare für klassische Literatur abhält. Bereits 1915 zählt man in Prag rund 15.000 Flüchtlinge. Erst mit der Erklärung Prags zum Sperrgebiet für galizische Flüchtlinge wird der Zustrom gedrosselt. Als Mai 1916 weitere 120000 Ostjuden in Böhmen eintreffen, werden diese auf die umliegenden Dörfer verteilt (Rosenbaum 1917).
5 Aktueller Nachtrag 2014: Inzwischen gibt es eine sehr verdienstvolle Nachauflage einzelner Werke Max Brods im Wallstein-Verlag, hrsg. v. Hans-Gerd Koch u. Hans Dieter Zimmermann. Auch der Versuch einer Würdigung Brods im Rahmen einer Konferenz in Prag im Jubiläumsjahr 2014 sei hier erwähnt. Insofern ist die Bemerkung von 2002 zumindest tw. zu revidieren, d. Verf. E.W.H.
© Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstveröffentlichung: Germanistisches Jahrbuch Brücken, Folge 9 – 10 (2001/2002), hrsg. von Steffen Höhne, Marek Nekula u.a., S, 205 – 220.
Fotos: Archiv Ekkehard W. Haring
ders., Zur Kafka-Rezeption in der DDR 1968-1989: Ekkehard W. Haring
Zu Max Brod und seine Zeit: Hans-Gerd Koch, Max Brod-Werkausgabe, Tycho Brahe, Ludwig Winder
24VII14
s.auch: Ekkehard W. Haring, Prag:Kriegsgott 1914