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Bürgerrechte, Zivilgesellschaft und Staat

von Volker Strebel


Miloš Havelka / Robert Luft / Stefan Zwicker (Hg.):
Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Europa.
Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich.

434 Seiten, geb., Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.
69,99 €, ISBN-13: 9783525373064






Ältere Tschechen werden sich dieser Tage wie nach einem Alptraum die Augen reiben. Obskure Stimmen bitten um „brüderliche Hilfe“ oder fordern gar danach, „Heim ins Reich“ geholt zu werden. Alsbald rücken Soldaten vor. Dass sie vermummt und ohne Hoheitsabzeichen agieren, ist freilich neu. Zur Beschwichtigung wird eine slawische Bruderschaft beschworen und die politische Verantwortung den westlichen Demokratien zugeschoben, die Mechanismen scheinen sich zu wiederholen.


Vor einem derartigen Hintergrund gewinnt der vorliegende Band über Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Europa, an dem lediglich die Anzahl der Druckfehler verärgert, umso mehr an Bedeutung. In drei großen Komplexen nähern sich vierzehn Fachwissenschaftler aus den Bereichen Geschichte, Politik und Literatur in zum Teil mehreren Beiträgen aus unterschiedlicher Perspektive jenem kulturtypologischen Geflecht, welches der europäischen Zivilgesellschaft ihr unverwechselbares Gepräge verleiht. Die Beiträge belegen eindrucksvoll, dass sich seit dem Zeitalter der Aufklärung ein spezifisches Nachdenken auch im tschechischen Raum nachweisen lässt, das sich durchaus mit jeweils herrschenden politischen Fremdbestimmungen auseinanderzusetzen wusste.


Karel B. Müllers Studie Zivilgesellschaft und Staat im aktuellen Diskurs markiert die charakteristischen inneren Spannungen mit all ihren Folgen für die gesellschaftlichen Verhältnisse und führt zugleich in den ersten Komplex dieses Sammelbandes ein.

Unter der Überschrift Zivilgesellschaftliche Konzepte vom Dissens in den spätsozialistischen Systemen bis zu neueren Auseinandersetzungen im östlichen Europa werden konkrete Beispiele vorgetragen, in welchen sowohl über die Dissidenten-Bewegungen als auch von Herausforderungen in der Nachwendezeit berichtet wird.

So stellt Peter Zajac in seinem Beitrag Milan Šimečka und sein Demokratiekonzept einen führenden Denker des Dissens vor, der im Laufe vieler Jahre die innere Verfasstheit der tschechoslowakischen Gesellschaft in der Ära der sogenannten „Normalisierung“ in den 1970er- und 1980er-Jahren analysiert hatte. Šimečka hatte die Aussichten für eine Demokratisierung in seinem Lande skeptisch eingeschätzt, da er zunehmend in Zweifel zog, ob diese „Gesellschaft mit einem komplett devastierten Bewusstsein und Gewissen überhaupt in der Lage sein würde, diesen Wandel erfolgreich zu verwirklichen“.

Übernommene Verhaltensmuster aus den deformierten Jahrzehnten diktatorischer Verhältnisse im Lande stehen somit in einer Wechselbeziehung zu verschütteten kulturellen Traditionen. Der Historiker Vilém Prečan charakterisiert unter dem Titel Die Wiederentstehung der Bürgergesellschaft den Umbruchwinter 1989/1990 in der ČSSR als „demokratische Revolution“, da eine unmissverständliche Zuwendung zu Werten wie Demokratie, Freiheit sowie „geistiger, politischer und wirtschaftlicher Pluralität“ vorgelegen hatte. Die von Michail Gorbatschow ausgelöste Strategie einer Reform des realen Sozialismus ermöglichte der tschechoslowakischen Bürgerbewegung unter ihrer Symbolfigur Václav Havel deren Einsatz für eine Freiheit, die entschlossen war, künftig ohne sozialistische Elemente auszukommen. Hier deutet sich die perspektivische Weiterführung einer Zivilgesellschaft über das Ende des „realen Sozialismus“ hinaus an. Eine Zivilgesellschaft ist nicht als statischer Zustand vorstellbar, der irgendwann im Laufe der Geschichte eines Landes erreicht worden ist, sondern stellt eine ständige Aufgabe dar, die es unablässig mit Leben zu erfüllen gilt.


Der zweite von drei großen Komplexen dieses Bandes widmet sich unter der Akzentuierung Menschenrechte und Konzepte der Bürgergesellschaft: Historische Wurzeln in den böhmischen Ländern seit dem 19. Jahrhundert einem umfangreichen geschichtlichen Rückblick. Hier gewährleisten Beiträge wie von Jan Sokol »Bürger« und »občan«. Zu Eigenheiten der tschechischen Zivilgesellschaft oder auch kulturphilosophische Betrachtungen wie die von Bedřich Loewenstein, der anhand der Protagonisten Charles Darwin und Immanuel Kant Konzeptionen des Sozialdarwinismus und der Menschenrechte abgleicht, hervorragende Einblicke.


Ein besonderes Gewicht erhält dieser vorliegende Band durch seine umfangreiche Quellensammlung. In zumeist erstmaliger Übersetzung ins Deutsche werden verschiedene Zeugnisse und Wortmeldungen tschechischer Publizisten und Schriftsteller vorgestellt, die sich über ein Jahrhundert hinweg zu dem zivilisatorischen Komplex „Bürger“, „Bürgergesellschaft“ und „Menschenrechte“ zu Wort gemeldet haben.

Einschlägige Beiträge von unter anderem Karel Havlíček Borovský, Karel Čapek, Ferdinand Peroutka und Jan Patočka bis hin zu Ludvík Vaculík und Václav Havel belegen ein historisch gewachsenes Selbstverständnis, das sich als unvereinbar mit etatistischen Staatsentwürfen erweist. Nur auf diese Weise lässt sich die zuversichtliche Entschlossenheit erklären, mit welcher der Literaturwissenschaftler Václav Černý im Jahr 1980 seine Einschätzung zur Bürgerbewegung Charta 77 bekundet hatte: „Ihre Stärke ist die moralische Kraft und nicht wie auf der anderen Seite Lug und Betrug, Manipulation der Menschen, die Hegemonie des Polizeiapparats.“



© Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung: literaturkritik.de

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