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SCHLANGEN BEI CHANEL

 

 

Daniela Capcarová -

Zwei Wochen in der Stadt des Turbokapitalismus


 

Auf die weite Welt habe ich mich wirklich gefreut. Nur der lange Weg dorthin bereitete mir ein wenig Sorgen. Achtzehn Stunden im Flieger sind eine verdammt lange Zeit und machen ganz schön müde, auch wenn Stewardessen und Filme den Flug so angenehm wie möglich gestalten. Wir sind über Saudi-Arabien, Indien, Bangladesch geflogen - und von dort in die Stadt des Turbokapitalismus´.

 

Nach Verlassen der Maschine, direkt am Gate, kam mir sofort eine chinesische Immigrationspolizistin entgegen. Das war mir nicht einmal in Moskau passiert. Sie nahm eine Lupe und durchsuchte akribisch meinen Pass bis zur letzten Seite mit allen persönlichen Angaben. Auch mein russisches Visum, das bereits vor vier Jahren abgelaufen war, unterzog die kleine Frau einer gewissenhaften Kontrolle. Mit meinem Pelzmantel kam ich ihr vielleicht wie eine russische Staatsangehörige vor. Der Pass war jedoch europäisch, was ihre Zweifel offenbar nicht schmälerte. Die kleine Lupe und ihre flinken, mißtrau-ischen Augen fanden in ihm allerdings nichts Verdächtiges und daher auch nichts dergleichen an mir.

Nach dem Passieren eines zweiten Immigrationsschalters gelangte ich überraschenderweise sofort in einen total steril geputzten Zug, viel moderner als in Deutschland. Ich wusste noch nicht, dass dieser Zug direkt in die Stadt des Turbokapitalismus fuhr. Als ehemaliges Ostblockkind verstand ich die Bedeutung dieses Begriffs sowieso nicht wirklich.

Am nächsten Tag sah ich vor dem Chanel-Laden die Schlangen - und verstand alles. In einer solchen langen Schlange hatte ich zuletzt vor gut dreiundzwanzig Jahren gestanden, mit einem gravierenden Unterschied: damals warteten wir auf lebens-und weihnachtsnotwendige Orangen! In Hong Kong stand man für die neuesten Klamotten von Chanel an, die meiner Meinung nach durch alles auf der Welt ersetzbar, also keinesfalls mit unseren, ein Jahr lang heftig herbei gesehnten Orangen aus Kuba zu vergleichen waren. Unser damaliger Sozialismus ging eines Tages in den jetzigen Kapitalismus über. In der Metropole Südchinas ist es genau umgekehrt – der Kapitalismus geht langsam in den wirtschaftlich erfolgreichen Sozialismus über. Als Hongkong vor ein paar Jahren den britischen Kolonialstatus verlor, reisten viele Hongkonger ins westliche Ausland oder gleich in die USA. Sie wollten sich dort ihre westlichen bzw. amerikanischen Pässe sichern. Mit denen kamen sie dann wieder in das mittlerweile chinesische Hongkong zurück.

Bei uns war das genau umgekehrt. Wer einen westlichen Pass besaß, kam doch selten in die Tschechoslowakei zurück. Erstens war es total schwierig, einen solchen Pass überhaupt zu bekommen, und wenn man ihn dann schließlich hatte, wollte man ihn doch nicht wegen eines unüberlegten Besuchs im Heimatland wieder aufs Spiel setzen. Nach einem Grenzübertritt landete das Reisedokument immer in Händen von Zollbeamten, und man sah es meist nie wieder. Es konnte sogar noch schlimmer kommen: Man landete direkt im Gefängnis. Die Hongkong-Chinesen sehen ihren westlichen Pass irgendwie weitsichtiger. Niemand weiß, wie lange er gültig ist, aber einen gewissen Schutz scheint er zu bieten.

Andere Zeiten, andere Geschichten kommen auf uns zu. Ich als EU-Bürgerin wurde vor den Stadttoren des Finanzzentrums genauso gefilzt wie früher die Westler, die zu uns kamen. Will China denn die EU-Bürger aus den neuen EU-Ländern gar nicht, fragte ich mich. Vielleicht erinnern wir die Chinesen aber auch nur an den mißlungenen Sozialismus. Chinas Sozialismus mit diesmal marktwirtschaftlichem Antlitz soll China Zukunft und eben nicht Niedergang versprechen.

 

In unserer Zeit ist alles verdreht. Einst glaubten wir an die unsichtbare Macht des Marktes, den unser Nachwende-Vorbild, die USA, lenken sollte. Jetzt sind die USA so weit, dass China sie indirekt bereits lenkt. Die USA sind längst Schuldner des (halb-)sozialistischen Chinas geworden, vermutlich die Strafe für Wirtschaftskrise und Globalisierung. Dies wurde von den Amerikanern (ihrer Meinung nach und durchaus unlogisch) sehr geschickt umgesetzt. Sie schafft in China Arbeitsplätze, den Amerikanern nimmt sie die Arbeit allerdings massenhaft weg.

Irgendetwas machen die Amerikaner und Westeuropäer falsch, dachte ich, als ich durch die tristen Plattenbau-Straβen dieser turbokapitalistischen Stadt ging. Es liegt wahrscheinlich an der Kombination von zukünftigem Sozialismus und rigorosen kapitalistischen Vorgehensweisen. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Eine Freundin aus Hong Kong suchte eine neue Wohnung. 1700,-- Euro für eine Sechzigquadratmeter-Wohnung in Hung Hom, das zum Zentrum gehört, waren ihr zu viel. Sie fand eine billigere Wohnung in einem Stadtteil - eine halbe Stunde Busfahrt vom Hung Hom und dem Zentrum entfernt und verabredete einen Termin mit der Maklerin; diese wollte ihr die künftige Wohnung zeigen – der Mietvertrag lag bereits vor der Wohnungsbesichtigung zum Unterzeichen bereit.

Wir kamen in das Viertel; das Wohnhaus sah nicht schlecht aus. Von Europäern weit und breit keine Spur, von unserer Maklerin allerdings auch nicht. Sie schickte einen Hotelangestellten, was uns ein bisschen verdächtig vorkam. Dieser erklärte, dass die Wohnung nun doch nicht, wie zuvor vereinbart, zu besichtigen sei. Wir schauten uns zweifelnd an. „Die Person ist leider noch nicht aus der Wohnung ausgezogen“, sagte er lapidar, obwohl sie doch längst leer sein sollte.

Er brachte uns in die Etage, in der die Wohnung lag. Hinter dem Fenster der nun scheinbar doch bewohnten Wohnung, in die meine Freundin hatte einziehen sollen, sahen wir nichts – weder einen Menschen noch irgendwelche Zeichen, dass dort jemand lebte. „Ich zeige Ihnen dafür eine showflat, sagte der junge Chinese. „Sie hat fast dieselbe Aussicht“, meinte er, was eine glatte Lüge war. Die zunächst angebotene Wohnung befand sich am Anfang eines Gebäudetraktes, der zum Meer hin lag. Die neue Wohnung war am anderen Ende des Traktes ohne Aussicht aufs Meer, höchstens auf den dunklen Korridor und die Wohnung gegenüber. „Die Perspektive dieser Wohnung ist doch eine ganz andere als die in der Wohnung, die wir mieten wollten“, beschwerten wir uns. Der Chinese setzte ein beflissenes keep smiling auf und erwiderte: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“.

 

Wie im Sozialismus. Die zum Verkauf angebotene Ware war früher nicht die beste, wurde aber dennoch wegen der enormen Nachfrage genommen. Der niedrigere Mietpreis sollte die Nachfrage trotz des Vertuschungsmanövers steigern, so dachte vermutlich der Hotelangestellte. Wir waren wach! In dieser Turbokapitalismus-Stadt steigen die Mieten im Minutentakt – wie teuer wird die vor uns versteckte Wohnung in einem Jahr sein? Der jeweilige Mietzins wird in den Verträgen nur für ein Jahr festgelegt, ziemlich hart und ohne Ausnahme. Es gibt in ganz Hongkong nur solche einjährigen Mietverträge, im Gegensatz zu unserem frühreren sozialistischen Wohnungsbau. In dieser Finanzmetropole wissen alle, dass im nächsten Jahr die Mieten wieder horrend gestiegen sein werden.

„ Ich hasse dieses Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Gesicht“, kommentierte die Freundin abschließend das unfaire Verhalten. Sie entschloss sich wieder für Hung Hom, für eine teure Wohnung dort, die zwar kleiner als die alte, aber mittlerweile für deren Mietpreis zu haben war. „Dafür kommst Du dir dort nicht wie in einem Ghetto vor“, tröstete ich sie. Wir waren froh, dass wir in dem abgelegenen Stadtteil doch nicht zum „Mahlen“ gekommen waren. Die Maklerin verstand es auch und meldete sich nicht wieder.

 

Obwohl Hongkong nach modernen Wirtschaftsregeln funktioniert, habe ich eine gewisse Planwirtschaft - wie im früheren, europäischen Sozialismus - entdeckt. Die Hongkong-Pläne verweisen aber auf längere Zeitabschnitte. Im Unterschied zu den Vier- und Fünfjahresplänen in der DDR beispielsweise, gibt es in der am meisten entwickelten Stadt Chinas gleich Vierzigjahrespläne. Weil der Sozialismus mit marktwirtschaftlichem Antlitz in Hongkong erst in den nächsten vierzig Jahren anfangen wird? Nein, natürlich nicht! In diesen Zeiträumen werden hier die alten Betonwohnhäuser (in meinem Jargon: alte Plattenbauten) abgerissen und wieder neu gebaut. Wegen des Klimas der Inselstadt halten die Häuser angeblich nicht länger als vierzig Jahre. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber dieser weitreichende Plan kurbelt immerhin regelmäßig die hiesige Baubranche an. Ironischerweise haben die Architekten der Hongkonger Plattenbauten den zukünftigen Sozialismus offenbar frühzeitig erspürt und vorausgesehen.

 

Die überall präsenten Unterschiede zwischen den Gesellschaftschichten reißen einen aber schnell wieder aus solchen Gedankenspielen. Der sogenannte Gin- oder Gini-Koeffizient deutet in Hongkong auf härteste kapitalistische Zustände hin. Dieser Rechenwert spiegelt die Ungleichheit einer Gesellschaft wider. Der Hongkong-Gin-Koeffizient beträgt 0,53. Das bedeutet, dass keine andere Gesellschaft auf der Welt ungleicher als die Hongkonger ist. Die Schere zwischen Arm und Reich ist hier am weitesten geöffnet. Die Menschen mit einfachen Jobs leben in käfigartigen Zimmern; nicht weit von ihnen tragen Schmuck-Verkäuferinnen die Namen der Reichen auf Wartelisten für Markenringe im Wert von mehr als 18 000 Euro ein.

Die Reichen und die oberen Mittelschichten vergessen die Hundertausende armer Hongkonger schnell bei ihren Shoppingtrips durch die Malls. In der größten Inselstadt Chinas findet man die weltweit teuersten Boutiquen. Die Preise in Paris sind im Vergleich dazu Lachnummern. Trotzdem sieht die teure Kleidung der Businessmenschen auf den winterlichen Straßen monoton aus – es überwiegt schwarz, der Stil ist uniform. Ein guter Beobachter ahnt den Grund. Kulturvielfalt, Diversität ist Mangelware in dieser Stadt, Kultur findet lediglich als Einkaufskultur statt. Es sind die Schlangen vor Chanel, die die Kultur besiegen.

 

„Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit“, sagt eine zierliche Jazzsängerin vor wenigen Zuschauern im großen Kulturhaus hinter der berühmtesten Promenade Hongkongs. Ein Jazzkonzert um 18 Uhr bei freiem Eintritt fand nur wenig Publikum – ein paar Rentner und Touristen applaudierten begeistert. Die Band spielte sehr gut, weckte Emotionen, sogar viel stärker als die Bands in den meisten Hongkonger Bars. Leid tat es mir um die Jazzkünstler vor mir auf der Bühne, gleichzeitig aber auch um die Kultur dieser Stadt insgesamt. Sie fehlt oder die Metropole erweckt den Eindruck, als würde sie fehlen: neben all dem Glanz der vielen luxuriösen Einkaufzentren, den pompösen Bankgebäuden, den nostalgischen Fähren - mitten in dieser Siebenmillionen-Stadt.

„Die Bevölkerungszahl hat sich in den letzten 60 Jahren der Existenz der britischen Kolonie mehr als verdreifacht, anfangs waren es zwei Millionen“, lese ich in einer Broschüre zur Geschichte der asiatischen Stadt. Gleichzeitig denke ich an die Ein-Kind-Politik Chinas. Jetzt hat man festgestellt, dass die Chinesen aus dem sozialistischen China älter und dem Land bald die Pflegekräfte fehlen werden. Wenn eines Tages der Turbokapitalismus in Hongkong keine neuen Arbeitsplätze mehr schafft, könnten die jungen arbeitslosen Hongkonger als Pflegekräfte nach China reisen, denke ich, verwerfe diese Idee aber gleich wieder: kein Englisch sprechender, asiatischer Großstädter würde das je machen. Lieber würde sie oder er mindestens zehn Stunden arbeiten, dann einkaufen gehen, keinen Mutterschaftsurlaub nehmen und die Kinder von einer Dienerin aufziehen lassen, als so etwas zu tun! Es sei denn, das sozialistische China entwirft für Hongkong ein neues Lebenskonzept. - Ich werde das allerdings nicht mehr erleben.

 

 

Das Gefühl, bald wieder in Europa zu sein, brachte mich auf Hochtouren.Es war diese gute Laune, die ich die beiden Wochen in der Stadt des Turbo-Kapitalismus vermisst hatte. Mein Land wurde vor der ökonomischen Krise als Wirtschaftstiger Osteuropas bezeichnet. Meinen Landsleuten aus dem Osten des Landes hilft das wenig; wegen der hohen Arbeitslosigkeit sind sie zu rei-

senden Pflegekräften mit Nieder-

lassung in Deutschland geworden. Das ist vermutlich eines der Resultate eines zu schnell und forciert lancierten Kapitalismus ohne gesellschaftlichen Konsens über notwendige Regularien und Kontrollmechanismen.

 

 

 

 

© Text und Fotos: Daniela Capcarová


 

 



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