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Selbst, wenn man einige Zeit in Tschechien gelebt hat, kann man als Ausländerin die verwickelten, politischen Verhältnisse nicht wirklich verstehen, obwohl viele relativ unverhohlen, allerdings unter vorgehaltener Hand, über die allgegenwärtige Korruption und den politischen Sumpf sprechen.

 

 

Daniela Capcarová klärt auf.

 

Eine Polemik

 

 

 

In Tschechien erleben wir zu Zeit ein neues Gesellschaftssystem - „Nemokratie“

 

Nein, liebe Leser, es ist kein Tippfehler – die Nemokratie ist ein System, das vom tschechischen Wort nemý – stumm oder von nemohoucnost – Machtlosigkeit abgeleitet wird. Machtlosigkeit bezieht sich hier nicht auf Politik, sondern auf den aktuellen Zustand der atavistischen Suggestibilität des tschechischen Volkes und der Gesellschaft in Tschechien. Dieser Zustand ist immer nach sehr ernsten Vorfällen eingetreten, die die Demokratie regelrecht untergraben haben. Von der jetzigen tschechischen Regierung und dem Präsidenten wurden sie allerdings noch vor kurzem sehr arrogant ignoriert und einfach unter den Teppich gekehrt.

 

Seit wann die tschechische Politik in diesem Ausmaß von Korruption durchdrungen ist, ist schwer zu beschreiben. Der erste wichtige Schritt dazu war vermutlich die Beseitigung der Abteilung der tschechischen Finanzpolizei durch den Innenminister der Topolánek-Regierung, Ivan Langer. Danach gab es eine Anhäufung von Staatsaufträgen mittels sogenanntem Provisionsgeld, das an manche Vermittler der Aufträge in Plastiktüten ausbezahlt wurde – um keine Bewegung von Konten der Spender auf die Konten der Empfänger nachvollziehen zu können. Da die Finanzpolizei fehlte, gab es auch niemand, der solche rechtswidrigen Vorgänge hätte registrieren und der Staatsanwaltschaft übergeben können.

In der Gesellschaft sprach man leise und vorsichtig über diese Verflechtung von Politik und Wirtschaft, über die Paten. Die Medien schwiegen jedoch; es fehlten ihnen entweder die geheimen Informatoren wie ein Deep Throat, der in der amerikanischen Watergate-Affäre eine Schlüsselquelle gewesen war, oder sie wollten sich selbst nicht verwickeln lassen - aus Liebe zum rechten und pseudoliberalen politischen Spektrum. Es gibt unter den führenden tschechischen Medien bis heute keine linksliberalen Printmedien wie etwa die Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau oder eine sich um Objektivität bemühende  Zeit. Damit fehlt in der durch die Medien beeinflussten öffentlichen Meinung auch ein Ausgleich in der Meinungsbildung.

Statt einer investigativen Recherche haben alle Medien vor den Wahlen 2010 ein gemeinsames Phantom entdeckt: den Führer der Sozialdemokraten – Jiří Paroubek. Da man der Diffamierung seiner Person die ganze mediale Aufmerksamkeit schenkte, vergaß man die an viel höheren Stellen agierenden Figuren innerhalb des Politaparates: die korrupten Politiker der bürgelich-demokratischen-Partei ODS und weitere Rechte. Was die Medien vergaßen, machte sich eine völlig neue Partei – Věci Veřejné (VV)– Öffentliche Angelegenheiten - zunutze. Korruption wurde zum wichtigsten Punkt ihres Wahlprogramms. Die VV wollte mit ihrem Einzug in die Politik Korruption bekämpfen und „politische Dinosaurier“ aus dem Wege räumen. Dazu hatte die VV Sprachrohre in Form ihrer eigenen, an die Prager verteilten Parteizeitschrift und facebook. Vor allem die junge Generation, die aufgrund der in der tschechischen Gesellschaft oft fehlenden christlichen Werte ziemlich verunsichert war, ist die Zielgruppe der VV geworden. Der vorher schon berühmte, investigative TV-Journalist Radek John gab der VV seine Aura und seinen Namen. Nachdem seine investigative TV-Sendung wegen sinkender TV-Quoten aus dem Programm gestrichen worden war, musste auch er seine Brötchen irgendwie anderweitig verdienen. Er wagte sich auf unbekanntes Gebiet - die Politik - und machte einen Schritt, der für jeden anderen westlichen Journalisten ein klarer Interessenkonflikt gewesen wäre. Aber für John war das kein Problem, und jedem genauen Beobachter hätte dies von Anfang an suspekt vorkommen müssen. Ein weiterer Neuling war die rechtsliberale Partei TOP 09, die sich aus alten rechten Politikern und dem Fürsten Karel Schwarzenberg rekrutierte. In die TOP 09 traten Politiker sowohl von der ODS ein, als auch welche von der an Glanz verlorenen christlich demokratischen KDU ČSL. Die alt-neue TOP 09 trat ebenso gegen Korruption an; diese Parolen wollten viele Wähler glauben, vergaßen aber zugleich, dass viele der TOP 09-Genossen schon in ihren alten Parteien schmutzige Wäsche gewaschen hatten. Von Anfang an bekundeten VV, ODS und TOP 09 bei einem Wahlerfolg den Willen zu einer gemeinsamen Koalition, traten rigoros gegen eine Koalition mit der sozialdemokratischen ČSSD auf, obwohl sie keinesfalls nach so vielen Korruptionsfällen roch, wie zum Beispiel die ODS. Der einzige Grund für die Nichtkoalition war wieder der ČSSD-Führer Jiří Paroubek. Fast alle Medien stellten sich in ihrer Wahlberichterstattung auf die Seite der Rechten; ich erinnere mich, dass sogar die Redakteure der größten Boulevard-Zeitschrift Blesk bis zu 90% im Blatt gesagt hatten, dass sie die Parteien des rechten Spektrums und die VV wählen würden. Dass die VV in der Koalition mit der ODS keine Korruptionsfälle gegen die alten ODS-Hasen entdecken kann, sollte jedem analytisch und logisch denkenden Menschen klar sein. Die notwendigen Schritte gegen Korruption wären nur in der Koalition mit der ČSSD und anderen, eher linken Parteien möglich – oder in einer großen Koalition von ČSSD, VV und TOP 09, die aber von vorne herein ausgeschlossen worden war. Den Medien fiel das nicht einmal auf und den emotionalen und damit leichter beeinflussbaren, jungen tschechischen Wählern auch nicht.

 

Die Sozialdemokraten gewannen zwar die Wahlen, konnten mit den Kommunisten aber keine Koalition bilden, und so kam die schon vor den Wahlen verkündete Verschwörung von ODS, VV und TOP 09 zustande – leider zum Leidwesen derjenigen Wähler, die mit ihrer Wahlentscheidung wirklich die Korruption im Land bekämpft sehen wollten. Nichts dergleichen ist seither geschehen. Bis heute kam keine einzige wirksame Antikorruptionsmaßnahme der neuen Regierung zustande. Stattdessen verließen einige der besten Köpfe die Polizei, und 30.000 Polizisten unterschrieben eine Petition gegen ihren eigenen Innenminister: der niemand anders ist als der ehemalige Journalist Radek John. Und das Spiel ging weiter – auf einmal entdeckten die Medien den Fall unerlaubter Überwachung von Politikern durch die Agentur ABL, die der Partei VV sehr nahe stand und über die VV an neue Staataufträge kommen wollte. Nach diesem Vorfall trat der VV-nominierte Verkehrsminister Bárta zurück, und dann stellte sich wegen einer illegalen Aufnahme der Bárta-Kollegin Kočí heraus, dass die ganze Sache wahrscheinlich auf Bestellung von der ODS initiiert worden war, weil sich anscheinend alle ODS- und TOP 09-Politiker zu sehr von Bártas naher ABL überwacht gefühlt hatten. Es wurde ihnen auf einmal mulmig, dass manche Korruptionsfälle doch aufgedeckt werden konnten, wenn VV-Minister plötzlich außer Koalitionskontrolle gerieten. Mit den Überwachungs- und Abhörmaßnahmen wurden nicht nur Verkehrs-und Innenministerium, sondern auch das Bildungsministerium durchleuchtet.

Ja, man verliert in diesem Tohuwabohu tatsächlich den Überblick – der einzige, der ihn offensichtlich behielt, war der tschechische Präsident Václav Klaus. Da die ODS seine ehemalige Mutterpartei war, kannte der deren Praktiken und ahnte vielleicht, dass der Fall seines Lieblings Bárta ein

Vertuschungsmanöver der ODS vor der Entschleierung viel ernsterer Dinge war. In Deutschland wäre nach einem solchen Verdacht: Verwicklung dreier Minister in die Geschäfte der Sicherheitsagentur ABL vielleicht sogar die ganze Regierung zurückgetreten, wenigsten wären sie nicht weiter tragbar gewesen. Nicht so in Tschechien, hier blieben alle, obwohl vermutlich die Hälfte der Regierungsminister ernsthafte juristische Probleme bekommen könnte und zwar aus allen drei Koalitionsparteien ODS, VV und TOP 09. Jetzt kann man aber nachvollziehen, warum sie eine Koalition mit den Sozialdemokraten so strikt abgelehnt hatten. „Wasch´ mir den Pelz, aber´ mach mich nicht nass“ ist das Motto jetziger Regierungspolitik; die wirklichen Sieger sind die moralischen Verlierer. Davon ist auch Präsident Klaus nicht ausgenommen, auch wenn er betont, dass es ihm nur um das Land ginge, das im Falle vorzeitiger Neuwahlen die Stabilität verlieren könnte. Wie stabil ein Land mit einer korrupten Regierung allerdings sein kann, fragt sich hier niemand: Weder die Medien, die zum großen Teil Affären auf Bestellung publizieren und die öffentliche Meinung in ganz falsche Richtungen lenken, noch die konfusen Wähler, die nach so vielen Lügen und plötzlichen Kehrtwenden in den Aussagen von Politikern gar nicht mehr wissen, wohin sie wirklich gehören.

„Hier kommt es zu einer Radikalisierung der Gesellschaft, die diese vielen Affären einfach satt hat. Die Tatsache, dass führenden Vertreter der Regierung Umschläge mit Bakschisch mit sich herum tragen, ist nicht normal. Eine Affäre folgt der anderen, man verliert den Überblick, welche aufgeklärt wurde und welche nicht. Das verstimmt die Menschen sehr“, umriss die Politikprofessorin Dvořáková die aktuelle Stimmung in der tschechischen Gesellschaft im Fernsehen ČT 24. Der sozialdemokratische Politiker Zaorálek sprach von einer „Aushöhlung der Demokratie“.

 

Ich gehöre zur Generation, die 1989 für eine bessere Gesellschaft demonstrierte; für eine Gesellschaft, in der man nicht mehr von der Stasi überwacht wird und die die positiven Werte und Anständigkeit fördert. Stattdessen wird man zweiundzwanzig Jahre nach der Samtenen Revolution wieder wegen einer anderen Meinung von jemandem überwacht, sei es von einer privaten Sicherheitsagentur im Auftrag der Regierung oder im Restaurant bei einem Gespräch. Wenn die Kommunisten geklaut haben, dann haben sie die Größe der Beute miteinander kontrolliert und überwacht, selten war es mehr als eine halbe Million Kronen. Das Staatsbudget der ganzen Tschechoslowakei lag Ende 1989 in einem Plus von mehr als einer Milliarde Kronen. Heute liegt Tschechen in einem Minus von 1,4 Billiarden Kronen (1400 Milliarden!) und steht vor Reformen, die alles noch teurer machen werden als es jetzt schon ist. Milliarden aus diesem Minus - das sind die Gelder, die sich Politiker in die eigene Tasche gesteckt haben, und bei diesem Beklauen der Mitbürger offenbar alle noch ein Superfühl haben.

Die einfachen Menschen haben immer stärker den Eindruck, dass sie statt in einer Demokratie in einer Nemokratie – der Demokratie der Machtlosigkeit leben. Diese Nemokratie kann leicht eine soziale Revolution werden, in der die wütenden Massen eines Tages von einem Führer des Typs: Stalin, Hitler oder Mussolini manipuliert werden. Ich bin gespannt, welche Heldendaten die korrupten Politiker dann vollbringen werden.

 

 

© Daniela Capcarová, mit freundlicher Genehmigung der Autorin

 


 

 



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