LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

 

 

Hitler ist überall

von Daniel Erk

 

Daniel Erk
So viel Hitler war selten
Die Banalisierung des Bösen oder Warum der Mann mit dem kleinen Bart nicht totzukriegen ist
Heyne Verlag, Taschenbuch, Broschur, 240 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-453-60178-9
Erscheinungstermin: Ende Januar 2012

 

 

 

 

Jedem fällt zu Hitler etwas ein. Wirklich jedem.
Den Glossenschreibern  in den Zeitungen, den Redenschwingern  am Tresen ebenso wie denen in den Talkshows, den Historikern, den Zeitungsmachern und Politikern, den bezahlten  Komikern im Fernsehen und den Scherzkeksen im Internet. Und alle, alle haben sie etwas zu Hitler zu sagen. Hitler macht weiter, Hitler ist überall – und scheinbar nicht totzukriegen.
Als ich vor einigen Jahren während einer Journalistenreise nach Tallinn, Estland, mit anderen, vornehmlich älteren Kollegen zur Stadtrundfahrt in einen Reisebus stieg, war das Erste, was der langhaarige Fremdenführer, Typ Soziologiestudent, sagte: "Herzlich willkommen in Tallinn, dem alten Reval. Die Stadt ist sehr beliebt bei Touristen, besonders bei Deutschen. Wir hatten letztes Jahr so viele Deutsche in Tallinn wie seit 1945 nicht mehr." Sofort  herrschte im Bus betretenes Schweigen. Nur einer lachte: ich. Obwohl ich nicht einmal genau wusste, warum. Vermutlich weil einfach stimmte, was der Fremdenführer gesagt hatte. Und weil es gleichzeitig die aufgesetzte Harmonie der Tourismus-PR zerdepperte. Der Reiseführer grinste.
Die Pointe war berechnet. Wahrscheinlich hatte der sogenannte  Guide (das Wort Führer weckt ja unangenehme Assoziationen) sie weder spontan noch zum ersten Mal vorgetragen, und vermutlich erreichte sie immer ihr Ziel: nämlich mit einem lockeren, vordergründig  lustigen Spruch die ignorante  Unbefangenheit  zu zertrümmern, die viele deutsche Besucher an den Tag legen – weil sie dank der Gnade der späten Geburt, wie Altkanzler Helmut Kohl das 1984 in einer Rede vor der israelischen Knesset genannt hat, mit "der Sache" nichts zu tun zu haben glauben. Aber ach: Selbst der alte Kohl hatte mit dieser Wendung seinerzeit eine kontroverse Diskussion vom Zaun gebrochen. Die Frage, ob es für Deutsche, auch für die Nachgeborenen, überhaupt auf absehbare Zeit ein Entrinnen geben kann, ist weiter offen.
Sehr pointiert fasste diesen Punkt vor wenigen Jahren der irische Komiker Dylan Moran zusammen: "Man spricht also mit einem modernen, netten, umgänglichen Deutschen, und er sagt so was wie: 'Es sind kritische Zeiten für Deutschland, innerhalb Europas und global, ökonomisch war es schon mal besser, aber die Theater- und Kunstszene  ist sehr dynamisch …' und  so weiter. Und während er so spricht, denkt man: 'Hm, ja, oh – Hitler, Hitler, Hitler'." So geht es vielen. Nicht nur Ausländern, auch Deutschen. Im Hinterkopf ist immer, immer Hitler.
Nein, es gibt keinen Weg, die deutsche  Geschichte, Adolf Hitler, das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust vergessen zu machen. Zu viele Menschen sind gestorben,  zu viel Leid ist geschehen, und das vor noch gar nicht langer Zeit. Und so war die Bemerkung des estnischen Reiseführers nur eines von vielen Tausenden Beispielen, die unterstreichen, dass Adolf Hitler, das Dritte Reich, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust zwar Geschichte sind, aber doch bis ins Hier und Heute nachwirken.
Ob wir es also wollen oder nicht, ob wir es mögen oder nicht: Das Dritte Reich bleibt präsent – in der Politik als Erinnerung an das Versagen der Demokratie und als Mahnung für die Zukunft. In den Medien als beliebter Gegenstand von Dokumentationen und Lehrstücken, in den wieder aufgebauten Städten in Form von Mahnmalen und Gedenkstätten. Und im Alltag in Gestalt von Graffiti, Liedern und Gedichten sowie fragwürdigen Schmierereien auf Bahnhofstoiletten.
Auch in unseren Wortschatz, in unsere Witze, in unsere Träume und Ängste hat Hitler, der Führer und Verführer (gerne mit rollendem R als "der Föhrer"), Eingang gefunden – fast immer dargestellt als das Böse, der Teufel in Person, als erbärmliche Witzfigur, als verrückter, wirrer Mann.
In welcher Inkarnation auch immer: Hitler lebt. In uns, in unserer Gesellschaft, auf hohem kulturellem und wissenschaftlichem Niveau ebenso wie in den Niederungen von Werbung und Massen-Unterhaltung. Mit Distanz und einer gewissen Bitterkeit, aber mit noch mehr Erstaunen muss man heute feststellen: So viel Hitler war selten.
Dabei, und das mag für viele erst einmal überraschend klingen, ist durchaus nicht immer der Adolf Hitler aus dem Geschichtsbuch gemeint. Dieser Hitler, der heute durch die Gazetten und Fernsehkommentare geistert, ist vielmehr ein Abziehbild und Schatten – ein Hitler-Gespenst, das in Europa und der Welt umgeht. Ein medialer Wiedergänger, dem jede Widersprüchlichkeit genommen wurde. Dieser Hitler gilt als Alleinschuldiger für Krieg und Völkermord, denn nicht die Deutschen, Hitler allein ist in der Vorstellung vieler schuld an Holocaust und Angriffskrieg.
Diese Banalisierung des Bösen ist nicht bloß ein Nebeneffekt, der zwangsläufig passiert, wenn man so komplexe Geschehnisse wie Nationalsozialismus und Holocaust auf 90 Kinominuten, eine Zeitungsseite, eine Pointe oder eine Stunde Fernsehen zusammenstreichen muss. Sie ist oft auch deshalb willkommen, weil sie für die Deutschen eine gute Gelegenheit darstellt, sich von jedem Verdacht freizusprechen, alle Schuld und jede Mitverantwortung für die unsäglichen Verbrechen von sich zu weisen und stattdessen alles auf ihn zu schieben – auf Hitler, die Personifikation des Bösen schlechthin.
Bisweilen erinnern die Aufarbeitung des Geschehenen und der Umgang mit der Frage nach Schuld und Verantwortung  an die leichtfertigen Kommentare von Jugendlichen, die im Suff etwas Dummes angestellt haben: Tut mir leid, war ja gar nicht ich, das war dieser Hitler, an dem ich mich besoffen habe. Kommt nicht wieder vor. Und jetzt Schwamm drüber, bitte.
So konnte es geschehen, dass dieses Hitler-Bild zur rhetorischen Mehrzweckwaffe wurde. Es eignete sich gleichermaßen als Müllhalde für kollektive Schuld und Verantwortung wie als Schreckgespenst. Mit ihm kann man alles, wirklich alles machen. Und so wird er mittlerweile sogar als Vergleichsgröße herangezogen, wenn es darum geht, die vermeintliche Abscheulichkeit heutiger Politiker zu bemessen – als handle es sich bei Hitler um eine Maßeinheit. Wie viel Hitler steckt etwa in Kim Jong-il, dem nordkoreanischen Despoten?  Wie war das mit George W. Bush? Und was ist mit Barack Obama? Ist er vielleicht auch ein bisschen Hitler? Und sei’s nur ein klitzekleines bisschen? Alles verfügbare Wissen, aller Anstand hält selten jemanden davon ab, eine der unsäglichen Hitler-Analogien zur Anwendung zu bringen. Und so haben Obamas radikale Gegner im eigenen Land ihren Präsidenten  wegen eben der Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung mit Hitler verglichen.

 

Doch die Hitler-Figur ist längst aus dem politischen Bereich herausgetreten und durchlebt eine zweite Karriere als Werbefigur – und zwar keineswegs von einer Seite, von der man es erwarten würde. Nicht Neonazis und Faschisten, sondern die ganz gewöhnliche Produktwerbung versucht immer wieder mit Hitler auf einfache und billige Weise zu zeigen, dass etwas unaussprechlich abscheulich ist und somit als verbrecherisch zu gelten hat: Rauchen etwa, das Abholzen von Wäldern, die Verarbeitung von Pelzen, Käfighaltung von Tieren.
Aber selbst für die Erzeugung von Glücksgefühlen muss bisweilen Hitler herhalten. Da wird dann in Anzeigen suggeriert, eine asiatische Nudelsuppe oder ein rumänisches Radio seien so umwerfend, dass sie selbst einen Menschen wie Hitler handzahm und friedlich gemacht hätten. Wie weit solche Assoziationen gehen, hat das Satiremagazin Titanic mehrfach kritisch hinterfragt und ad absurdum geführt.
Das Spiel mit Hitler ist, zumindest in Deutschland, auch rechtlich eine Gratwanderung. Paragraf  86a des deutschen Strafgesetzbuchs regelt nämlich, dass Symbole verfassungsfeindlicher und verbotener Organisationen nicht in der Öffentlichkeit gezeigt werden dürfen. Und zu diesen Symbolen gehören nicht allein das Hakenkreuz, die Siegrune und der Totenkopf der entsprechenden SS-Division, sondern  auch die Phrasen "Sieg Heil", "Heil Hitler" und "Meine Ehre heißt Treue" sowie Bilder vom Kopf Adolf Hitlers. Das Verbot gilt tatsächlich vollkommen unabhängig von der zugrunde liegenden Absicht oder Gesinnung – mit einer Ausnahme. Nämlich dann, wenn mit solchen Symbolen und Sätzen offenkundig die Gegnerschaft zum NS-Regime ausgedrückt werden soll.
Diese juristischen Feinheiten haben natürlich kaum jemanden davon abgehalten, sich am Phänomen  Hitler abzuarbeiten. Hitler ist längst zu einer beliebten Witz- und Comicfigur mutiert – mäßig begabte Komödianten bedienen sich bei ihm ebenso unqualifiziert wie Cartoonisten, Texter, Theatermacher und Musiker.
Bob Geldof etwa, der seit seinem Hit I Don’t Like Mondays vor allem als selbst ernannter Botschafter Afrikas durch die Gazetten tingelt, veröffentlichte mit seiner Band Boomtown Rats in den Siebzigern ein Lied mit dem Titel I Never Loved Eva Braun , in dem er sich als Adolf Hitler eher nebenbei zur Verantwortung  für Weltkrieg und Völkermord  bekennt. "Ja ja, der Weltkrieg, ja ja, die Lager", singt er. Bloß eines mag sich dieser Geldof-Hitler nicht in die Schuhe schieben lassen: dass er Eva Braun je geliebt habe. Geldof war damit bei Weitem nicht der Einzige. In den Neunzigern sang die gar nicht mal so schlechte US-Surfpunk-Band  The Mr T. Experience ein vor Liebeskummer und Selbstmitleid triefendes Lied mit dem schönen Titel Even Hitler Had a Girlfriend . Die Richtung dürfte klar sein. Überhaupt scheint  es – angesichts der Schwere des Themas – doch überraschend verlockend zu sein, Hitler zu parodieren, dröhnend die Stimme schnarren zu lassen, sich einen Hitler-Bart ins Gesicht zu kleben oder ein Hakenkreuz an die Wand zu schmieren. Oder eine noch so banale Diskussion mit dem Verweis auf Hitler und die Nazis beziehungsweise mit einem noch so abwegigen Naziverdacht zu beenden. Die Empörungsmaschine funktioniert ja schließlich fast immer.
Wo die deutsch-jüdische  Philosophin  Hannah Arendt in ihren Reportagen über den Prozess gegen Adolf Eichmann, der 1961 in Jerusalem stattfand, über den Organisator der Deportationen und des Holocausts noch von der "Banalität des Bösen" sprach, bleibt angesichts dieser neuen Allgegenwärtigkeit Hitlers bloß noch eine Banalisierung des Bösen festzustellen. Dazu hat auch die Verarbeitung des Dritten Reiches durch die Unterhaltungsindustrie beigetragen. In dem Moment, da sich Hollywood dem Holocaust zuwandte – wie mit Anne Frank – Die wahre Geschichte und vor allem mit Schindlers Liste –, blieb das nicht ohne Konsequenzen für den alltäglichen Umgang mit Personen, Symbolen und Inhalten des Nationalsozialismus.
Und natürlich lebt man zudem gut davon: Oliver Hirschbiegels Film Der Untergang von 2004 haben mehr als 4,5 Millionen Deutsche im Kino gesehen – das weltweite Einspielergebnis soll 92 Millionen  US-Dollar betragen haben. Das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte bis 2010 insgesamt 46-mal Adolf Hitler oder einen anderen Nazi auf dem Cover. Und allein zwischen 1995 und 2009 wurden ganze 13 Dokumentationen von Guido Knopp zu Hitler und zum Zweiten Weltkrieg ausgestrahlt. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", schrieb Paul Celan in seiner Todesfuge, dem vielleicht eindringlichsten Gedicht über den Holocaust. Heute klingt das wie ein Fluch: Immer, immer wenn es um Tod und Verderben geht, ist Hitler als Meister aus Deutschland nicht fern.
Wenn man nun, wie ich, ein Blog betreibt (seit 2006), das den recht eindeutigen Namen  Hitlerblog trägt, und die daraus erwachsenen Erkenntnisse zudem zu einem Buch zusammenfasst, dann ist dies wohl der Moment für Selbstkritik: Natürlich leben Buch wie Blog ebenfalls von dem Faszinosum Hitler. Natürlich sitzt man als Autor im Glashaus, wenn man einerseits dieses seltsame Bedürfnis nach morbidem Skandal und grenzwertiger Unterhaltung bedient  – und all das andererseits aus guten  Gründen ablehnt. Aber wie soll man einen Gegenstand ergründen, ohne sich ihm zu nähern? Freilich, der Grat ist schmal und das Dilemma groß.
Das allerdings ist wenig neu oder überraschend. Bereits im Februar 1989 schrieb etwa Henryk  M. Broder in einem Spiegel Spezial unter dem an das Satiremagazin Titanic erinnernden Titel 100 Jahre Hitler : "Ein Dutzend ernst zu nehmender Biografien gibt es über Adolf Hitler (u. a. von Maser, Shirer, Toland, Fest, Bullock, Heer), die Zahl der Arbeiten, die sich mit der Kindheit, der Persönlichkeit, dem Werk und den Folgen seines Schaffens beschäftigen, ist Legion. Eine 1984 erschienene Studie (Hitler-Interpretationen 1923-1983) zählt rund 1.100 Titel auf, bei denen es sich nur um eine Auswahl aus einem noch größeren Sortiment handelt. Und ständig kommen neue Arbeiten hinzu." In diesem Berg der Anmerkungen zu Hitler befinden sich, selbstverständlich, auch ganz irr- und unsinnige Arbeiten. Das folgende Beispiel etwa klingt eher nach einem Scherz der Satiriker der Titanic, denn nach einer seriösen wissenschaftlichen Arbeit. Und ist doch ganz so gemeint: Im Frühjahr 2010 veröffentlichte die Krefelder Zahnärztin Menevse Deprem-Hennen eine Doktorarbeit mit dem reißerischen Titel Dentist des Teufels. Gegenstand der Untersuchung war Johannes Blaschke, der persönliche Zahnarzt Adolf Hitlers, sowie das, medizinisch gesehen, lose Mundwerk des Diktators.
Nun mag man sicherlich auch am Beispiel der Person Hitler zeigen können, dass man sein zahnmedizinisches Vokabular beherrscht und allerlei über Mundfäule und Karies zu berichten weiß. Doch was lässt sich durch eine zahnärztliche Bestandsaufnahme über Hitler-Faschismus und  NS-Programmatik, über  KZs, Holocaust und Vernichtungskrieg lernen? Und wie passt der marktschreierische Titel der Arbeit zu der profanen Erkenntnis, die Frau Doktor später in der Boulevardpresse zu Protokoll  gab: "Wahrscheinlich hatte Hitler wie viele Menschen Angst vor dem Zahnarzt."
Diese ins Absurde abgedriftete Wissbegierde hatte ursprünglich natürlich eine nicht ganz unwichtige Funktion, galt es doch, die Jahre des Dritten Reiches mit ihrer Vorgeschichte und ihren Nachwirkungen nicht nur historisch, sondern auch gesellschaftlich aufzuarbeiten. Genau das jedoch verweigerten viele Deutsche lange und hüllten sich in Schweigen. Aber hätte es nicht einen anderen Weg gegeben, als erst jahrelang nichts zu sagen, um später in eine fast uferlose Hitler-Plapperei zu verfallen?
Natürlich ist es grundsätzlich begrüßenswert, wenn sich auflagenstarke Magazine oder große Fernsehsender mit gewisser Regelmäßigkeit den von Deutschen vor gar nicht allzu langer Zeit begangenen Verbrechen widmen, um zu ergründen und zu begreifen, wie es so weit kommen konnte. Bloß glaubt leider mittlerweile kein Mensch mehr, dass es dabei tatsächlich allein um Aufklärung und Moral geht. Dazu noch einmal Henryk M. Broder, der in dem bereits erwähnten  Spiegel Spezial (2/1989) beinahe prophetisch schrieb: "Was macht die Menschen so kirre? Es sind ja nicht nur die sogenannten Ewiggestrigen und die paar Neonazis, die glasige Augen und feuchte Hände kriegen, wenn ER aus der Gruft der Geschichte aufsteigt. Eine mögliche Erklärung wäre: Die Beschäftigung mit dem Dritten Reich, egal ob kritisch, apologetisch oder affirmativ, hat einen überaus hohen Unterhaltungswert."
Broders Beobachtung  ist einleuchtend und gleichermaßen verblüffend, wird die Aufarbeitung der Nazizeit gemeinhin doch eher als schmerzhafter, obwohl notwendiger Prozess oder gar als masochistische Selbstgeißelung verstanden. Und nicht als Sujet mit "überaus hohem Unterhaltungswert". Natürlich dient die Auseinandersetzung nicht nur der Unterhaltung. George Tabori , aus Ungarn gebürtiger Schriftsteller und Theatermacher, unter anderem mit der Hitler-Farce Mein Kampf (1987) bekannt geworden, sieht für diese Obsession eher einen tiefer gehenden Grund, den er einmal so umriss: "Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen." Noch kürzer formulierten das in den Neunzigern die Werbeplakate für Walter Moers’ Comic: Adolf. Äch bin wieder da, auf denen zu lesen stand: "Darf man über Nazis lachen? Nein, man muss". Was aber die richtige Seite ist und wo sie genau anfängt, ist unklar und umstritten.


Ähnlich unklar ist auch, worüber und warum man eigentlich lacht, wenn der Name Hitler fällt. Lacht man aus Unsicherheit? Über den oft so heuchlerischen, verlogenen, verkrampften und dümmlichen Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte? Über die alberne Wortwahl und die falsche Betroffenheit und die gleichzeitige, oft gar nicht so klammheimliche Faszination? Lacht man, ob man nun will oder nicht, dabei nicht zugleich immer auch über die Opfer?

 

Oder lacht man tatsächlich nur über den eben doch nicht so großen Diktator , ganz im Sinne Charlie Chaplins, der 1940, anlässlich der Premiere seines berühmten Films, sagte: "Was das Komische an Hitler betrifft, möchte ich nur sagen, dass es, wenn wir nicht ab und zu über Hitler lachen können, noch viel schlechter um uns bestellt ist, als wir glauben. Es ist gesund zu lachen, auch über die dunkelsten Dinge des Lebens."
Richtig ist sicher, dass viele der Witze mit und über Hitler so etwas wie eine kathartische Wirkung haben können. Der englische Journalist Johann Hari erzählte einmal in einer Sendung des britischen Channel Four über Humor und das Dritte Reich, wie er in London in einer Aufführung  der Musicalversion von Mel Brooks’ Hitler-Parodie Springtime for Hitler neben einer Holocaust Überlebenden gesessen habe, die sich köstlich amüsierte. "Ich fand", sagte Hari, "dass dies der größte Erfolg war, den man haben konnte." Das ist sicher richtig, aber ein Aspekt bleibt außen vor: Um sich über Mel Brooks’ Hitler-Parodie zu amüsieren, muss man zuallererst Holocaust und Zweiten Weltkrieg überlebt haben.
Bei genauerer Betrachtung dienen sehr viele der Hitler-Scherze von heute allerdings einem sehr klar umrissenen Zweck: Das Lachen über und rund um Hitler ist zur Abwehrmaßnahme gegen von oben verordnete Betroffenheit und schale, leere Floskeln geworden. Denn wo Trauer zu Rhetorik wird, wo man eine bestimmte bürgerliche Version des Antifaschismus vorgesetzt bekommt, wo Empathie kaum mehr von Ausverkauf zu unterscheiden ist und große Reden oft wie fleißige Lippenbekenntnisse wirken, da werden Satire und Zynismus zu Mechanismen der Notwehr.
Interessanterweise sind gerade die Deutschen sehr penibel und ängstlich, was solch bittere Pointen über dieses sogenannte dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte betrifft. Deutlich penibler jedenfalls als Amerikaner, Engländer und Israelis. Beinahe so, als wollten sie ihre aufrechte, antifaschistische Gesinnung auf diese Weise unter Beweis stellen – blöderweise einige Jahre zu spät.
Ziemlich unverkrampft geht man dagegen vor allem in den USA mit dem Dritten Reich um. Dort wurde es, als Hirschbiegels Untergang in die Kinos kam, geradezu zum Sport, die zentrale Sequenz des Films – Hitler realisiert, dass der Zweite Weltkrieg verloren ist – mit neuen und möglichst abwegigen Untertiteln zu versehen. Da unterlegt man dem verwirrten Diktator etwa, sich über die Auflösung einer Popband aufzuregen, über Sportlertransfers, die Spielkonsole XBOX und anderes mehr. Ähnliches ist übrigens aus Großbritannien zu vermelden – und aus Israel, wo es beispielsweise um die Parkplatzsituation in Tel Aviv ging.
Dass es überhaupt im Zusammenhang mit diesem Film zu solch einer Flut an Parodien kam, liegt daran, dass das Untergangsepos nicht synchronisiert wurde, sondern als deutsche Originalversion mit  Untertiteln in die Kinos kam. Mag sein, dass es dadurch an den Großen Diktator erinnerte, in dem Chaplin ein ausgedachtes, ans Deutsche angelehntes Kauderwelsch spricht, und dadurch eine un- freiwillige komische Note bekam. Einerseits.
Andererseits zeigt der Film die Person Hitler in Nahaufnahme, und zwar als emotionalen, verzweifelten, cholerischen alten Mann. Den sonst Dämonisierten mit einem Mal schlicht menschlich vorgesetzt zu bekommen, erzeugt zwangsläufig eine Art Spannungsfeld. In dem so eröffneten Spielraum zwischen Klischee und historischer Persönlichkeit, zwischen geschichtlicher Wahrheit und Unterhaltungsindustrie gab es plötzlich Platz für vielfältige, also auch absurde Deutungsmöglichkeiten. Und wenn man es so will, gab es mit den neuen Untertiteln auch einiges zu lachen.
Wie groß dieser Spielraum für böse Scherze zum Dritten Reich ist, hängt sehr stark vom Land ab – und vom Jahrgang. Tendenziell scheinen die betroffenen Generationen und Länder verständlicherweise sensibler im Umgang mit der ja selbst erlebten Geschichte zu sein, während die Nachgeborenen  ebenso wie Bewohner aus entfernten Weltregionen, beide ausgestattet mit einer größeren Distanz, deutlich respekt- und rücksichtsloser zu Werke gehen.
Einen Sonderfall stellt Israel dar. Trotz vieler Familien, deren Angehörige im Holocaust ermordet wurden, trotz einer Vielzahl von Tabus, die den Völkermord umringen, verbindet sich hier beides mit einem speziellen, bitteren Humor  – eine Mischung, die einen recht eigenartigen Nährboden für Witze mit sehr makaberer Note begünstigt hat. In  einem  Sketch malen sich etwa die Komiker Yoni Lahav und Guy Meroz Folgendes aus:
Guy: "Also, wie du siehst, ist es sehr einfach, ein Musical zu schreiben. Yoni, was für ein Musical hast du vorbereitet?" Yoni:  "Okay. Weil für Musicals normalerweise Märchen herangezogen und einfach zu Musik vorgetragen werden, hatte ich echt Schwierigkeiten, mich zwischen Biene Maja und Winnie Pooh zu entscheiden, also habe ich mich schließlich für das bekannte Märchen Anne Frank entschieden." Guy: "Ich bin mehr als stolz und könnte vor Freude geradezu an die Decke springen, denn ich darf die Uraufführung von Anne Frank – das Musical ankündigen! Sie haben das Buch gelesen, Sie kennen den Film – erleben Sie nun Anne Frank in Dolby Stereo Qualität!"
Im weiteren Verlauf skizzieren Lahav und Meroz, wie so ein Musical auszusehen habe, einschließlich an die Tür klopfender und dabei singender Gestaposchergen. Eine hinterhältige und treffsichere Satire auf die Kommerzialisierung des Holocaust, die wenig später von der Realität eingeholt wurde.
Während der Sketch von Lahav und Meroz letztlich doch nicht im israelischen Fernsehen ausgestrahlt  werden durfte, wurde 2008 in Madrid tatsächlich ein Anne-Frank-Musical auf die Bühne gebracht. Rafael Alvaro, der Regisseur der drei Millionen Euro teuren Produktion in Madrid, beteuerte selbstverständlich, es sei ihm darum gegangen, mit den Mitteln der Musik Geschichte besser verständlich zu machen. Natürlich! Wer würde schließlich offen zugeben, dass sich die tragische, weltweit bekannte Geschichte der Anne Frank – im wahrsten Sinne des Wortes – fabelhaft auf ein inhaltlich niedriges, aber emotional bewegendes Niveau bringen lässt. Und dass so eine banale Holocaust-Operette gute Einnahmen verspricht.
Als mit The Passenger 2011 auch in London ein Holocaust-Musical aufgeführt wurde, versetzte dies Stephen Pollard, den Herausgeber des englischen Jewish Chronicle , der weltweit ältesten jüdischen  Zeitung, verständlicherweise in Rage. Pollard beschrieb The Passenger als "fiktionales Psychodrama über eine Beziehung zwischen einem KZ-Wächter und einer Inhaftierten" und nannte das Musical eine "Hochglanzproduktion, die schauspielerische Grimassen  des Leids" einem Publikum vorführe, "dass während der Pause an der Sektbar vorbeischaue". Pollards Urteil war ebenso knapp wie vernichtend:  "The Passenger" sei "auf obszöne Weise unangemessen".
Man sollte also meinen,  es sei Konsens, dass Hitler-Deutschland und seine Verbrechen in den Fängen der Unterhaltungsindustrie nicht unbedingt gut aufgehoben sind. Vor allem nicht angesichts der Tatsache, dass in den kommenden Jahren mehr und mehr Zeitzeugen, Opfer wie Täter, sterben und Erinnerung und Gedenken an Drittes Reich, Weltkrieg und Holocaust somit immer abstrakter werden. Sobald das geschieht, tut sich fast zwangsläufig ein noch größerer Spielraum für Interpretationen, Banalisierungen und Schindluder auf, und die Gefahr, dass der geschichtliche Kern zunehmend ins Hintertreffen gerät, wächst weiter.


Wer weiß: Wahrscheinlich sitzt die erste Generation, die auf YouTube mehr über das Dritte Reich und Hitler erfährt als aus dem Geschichtsunterricht, bereits vor den Monitoren. Anders gesagt: Vielleicht sollte man die Vermittlung von Geschichte lieber nicht Boulevardblättern, Hobbykomikern und Hollywood überlassen, sondern diese Entwicklung eindämmen, soweit das überhaupt noch möglich ist. Denn die Banalisierung des Bösen geht unverdrossen weiter, und ein Ende ist nicht in Sicht. Es mag ja begrüßenswert sein, dass 70 Jahre nach Drittem Reich, Hitler und Holocaust den meisten noch etwas zu diesem Thema einfällt – aber müssen es fast ausschließlich Klischees und schlechte Scherze sein?

 

Der Autor Daniel Erk, geboren 1980, hat Public Policy, Politikwissenschaft sowie Medien- und Kommunikationswissenschaft in Göttingen und Berlin studiert und ist Journalist und Autor. Er war bis Dezember 2008 Kolumnist für Neon; für die taz betreibt er seit 2006 den Hitlerblog, der 2010 als "bestes Weblog des Jahres" mit einem Lead Award in Bronze ausgezeichnet wurde. Texte von ihm sind unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, auf Zeit Online, in der Frankfurter Rundschau, im Bildblog und der Riesenmaschine der Zentralen Intelligenz Agentur (Z.I.A.) erschienen. Daniel Erk wohnt in Berlin.

 

© Aus der Einleitung, mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Heyne Verlages

 



Tweet