LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com




Einfalt der Vielfalt - Der blinde Fleck des Journalismus

Arm und Reich im Spiegel der deutschen Presse



Der blinde Fleck des Journalismus ist die stumme Macht des Reichtums

Es gibt eine Blackbox Reichtum. Eine Auseinandersetzung mit der Macht privater Großvermögen, die ihre Interessen ohne Worte zur Geltung bringen können, findet nicht statt. Der riesige Reichtum in den Händen weniger wird entweder überhaupt nicht kommentiert oder selbst dann nicht genauer durchleuchtet, wenn er kritisch bewertet wird. Reichtum wird nur aufgerufen als Gegenpart von Armut und als Indikator sozialer Ungleichheit. Als Zentrum gesellschaftlichen Einflusses auf alle Lebensbereiche – die Politik, die Wissenschaft, die Kunst, den Sport etc.– und als wirtschaftlicher Weichensteller mit seinen Anlage-, Verlagerungs- und Spekulationsentscheidungen kommt er in den journalistischen Meinungsbeiträgen nur beiläufig vor. Selbst als automatischer Türöffner zu komfortablen Lebensmöglichkeiten, zu Privilegien in der Bildung, der Gesundheit, der Kultur wird das große Geld nur in Form eines Lifestyle-Phänomens abgehandelt. Der Journalismus zerbricht sich mehr den Kopf über die Probleme der Reichen als über die Folgen der Zusammenballung privaten Reichtums für den Rest der Gesellschaft. Das laute Lamento über die Gier im Finanzsystem erweckt den Eindruck journalistischer Kritikfähigkeit zu Unrecht, denn es personalisiert nur, es analysiert nicht. Erregungszustände anlässlich von Krisenhöhepunkten, begleitet von Rufen nach mehr Kontrolle des Kapitalismus, schlagen sich mehr im Feuilleton nieder.


Die Armut wird mit Sorge registriert und zugleich in Problemgruppen portioniert.

Die Sorge darüber, dass sich Armut ausbreitet, nimmt in den Medienbeiträgen breiten Raum ein. Das Armutsproblem wird also keineswegs übergangen, im Gegenteil. Aber durchgängige Kommentar-Praxis ist es, Armut zu zerlegen, sie aufzulösen in Kinder-, Alters-, Migranten-, Langzeitarbeitslosen-, Schwerbehinderten-, Hartz-IV- und Alleinerziehenden-Armut. Frauen sind, das fällt auf, nur als Mütter arm. Armut wird portioniert und Verarmung auf diese Weise nie in einer grundsätzlichen Dimension behandelt. Dass das Grundversprechen unserer Gesellschaft, jeder könne von der individuell geleisteten Erwerbsarbeit ordentlich leben, an den Realitäten von Billiglöhnen, prekären Arbeitsverhältnissen und Massenarbeitslosigkeit millionenfach zerschellt, wird meist den Problemgruppen zugerechnet. Das Problem sind eher die Leute, weniger die Bedingungen, mit welchen sie konfrontiert sind. Die Bedingungen werden, Stichwort Globalisierung, überwiegend als Sachzwänge dargestellt.


Wirtschaft ist, wie sie ist. Bildung und Arbeit als Lösung, die Politik als Sündenbock.

Dass die Wirtschaft, wie hoch die Gewinne auch sein mögen, an Löhnen und Steuern so sehr sparen muss, dass noch jede verbindliche Untergrenze als Wettbewerbsgefahr ausgeflaggt wird, gilt den einen Kommentaren als Grundgesetz, die anderen reizt es selten zum Widerspruch; dieser Sachzwang wird weithin akzeptiert. Den Individuen wird Anpassung empfohlen. Sie sollen diese Verhältnisse als Ausgangspunkt akzeptieren, sich fragen, was die Wirtschaft braucht, ihren Bildungsweg, ihre Bedürfnisse und ihren Lebensalltag danach ausrichten. Bildung ist hier nur ein anderes Wort für Arbeit, denn sie wird nur als Weg zur Erwerbsarbeit eingefordert. Wo die Menschen und die Wirtschaft nicht zusammenfinden, sind die Menschen das Problem oder ersatzweise die Politik. Für die Politik bedeutet es, dass sie überall dort aufgerufen wird, sich um Lösungen zu kümmern, wo sich Armut wegen fehlender oder trotz Erwerbsarbeit ausbreitet. Als verantwortliche Akteure werden – egal ob es um Mindestlöhne, Steuern, Bildung, Sozialtransfers geht – stets die Individuen und der Staat/die Politik angesprochen, selten bis nie Unternehmer und Unternehmen; und wenn, dann in Verbindung mit vagen Appellen, sie mögen doch zum Beispiel die Frauenarbeit stärken. Im Kontext Armut wird unternehmerische Verantwortung kaum eingefordert, obwohl es thematisch oft um Aus- und Weiterbildung, die Vereinbarkeit von Arbeit und Kindererziehung, familienfreundliche Arbeitszeiten, Lohnhöhe und prekäre Arbeitsverhältnisse geht. Die strukturelle Benachteiligung erwerbstätiger Frauen, der Tatbestand, dass es in erster Linie Frauenarbeit ist, die arm macht, wird weitgehend ignoriert.


Die Entwicklung von Armut und Reichtum wird nicht im Zusammenhang gesehen.

Die Überlegung, dass es eine Wechselwirkung zwischen Armut und Reichtum geben könnte, dass die private Konzentration des Reichtums auf ihrer Kehrseite private und öffentliche Armut mitproduziert, spielt kaum eine Rolle. Armut wird vorwiegend als isoliertes Problem der Armen dargestellt. Entweder führen sie ihre Armut selbst aktiv herbei oder es gelingt ihnen nicht, unverschuldete Schwierigkeiten zu überwinden. Inwieweit der Staat ihnen helfen soll, ist umstritten. zu viel Unterstützung untergrabe die Eigeninitiative, argumentieren die einen, zu wenig widerspreche den Geboten der Gerechtigkeit, so die Ermahnung der anderen. Dass beide Auffassungen im selben Medium parallel vertreten werden – ohne dass sie sich diskursiv aufeinander beziehen –, ist fast die Regel. Gesellschaftskritische Fragen von grundsätzlicher Bedeutung nach den Ursachen der wachsenden sozialen Ungleichheit werden in den Kommentaren der Tageszeitungen nicht gestellt.


Rein quantitativ: Die soziale Kluft ist kein Problem von besonderer Brisanz.

Die pure Statistik sagt: Im Jahr 2012 haben sich im Tagesspiegel etwa zwei und in der Berliner Zeitung etwa vier Prozent der Kommentare mit unserem Themenfeld beschäftigt. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung haben wir im Durchschnitt des gesamten Untersuchungszeitraums einen Kommentar-Anteil von 1,9 Prozent ermittelt. Vergleiche haben wir nicht angestellt, weder mit anderen Themen noch mit anderen Medien, etwa mit Junge Welt, Freitag oder taz, von denen man vermuten könnte, dass sie dieses Themenfeld wichtiger nehmen. zu der interessanten Frage, ob Reichtum und/oder Armut eher häufig oder selten redaktionelle Meinungsbeiträge auslösen, haben wir deshalb nur eine vorsichtige Einschätzung: Prominente und häufige Kommentar-Themen sind Reichtum, Armut und die soziale Kluft nicht, um Themen von besonderer Brisanz scheint es sich in den Augen der Redaktionen nicht zu handeln. Mehr spricht für die Feststellung, den Journalismus befällt das Schweigen beim Anblick der sozialen Kluft. In diesem Befund spiegelt sich unseres Erachtens wider, dass die Redaktionen weder Reichtum noch Armut als eigenständige zustandsaktuelle Themen sehen. Das heißt im Umkehrschluss: Diese Themen werden vor allem behandelt, wenn die Arena der offiziellen Politik aktuelle Anlässe dafür liefert; ob Armuts- und Reichtumsberichte oder Auseinandersetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht. Das Interesse von Regierungen wiederum, Anlässe für die öffentliche Thematisierung sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu bieten, hält sich in sehr engen Grenzen. Die Abhängigkeit von den Interessen der aktuellen Politik könnte verringert werden, wenn die soziale Frage im redaktionellen Konzept einen eigenständigen Stellenwert innehätte und nicht nur das 'Hobby' von einzelnen Redakteuren wäre. Ob Gesichtspunkte sozialer Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit präsent sind, hängt beispielsweise bei der Süddeutschen Zeitung, so unser Eindruck, von den Arbeits- und Urlaubszeiten einzelner Redakteure ab. Die Wochenzeitung Die Zeit dagegen hat ein Wirtschaftsressort, für das es in geradezu vorbildlicher Weise zu den ständigen Hausaufgaben gehört, die sozialen Dimensionen der Ökonomie mit auszuleuchten.


Chancengleichheit und Sozialverpflichtung des Eigentums stehen im Museum alter Ideale.

Der Widerspruch zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit, der im 20. Jahrhundert ein großes Thema war, hat sich – wenn wir die Kommentierung zum Maßstab nehmen – zugunsten der Wirklichkeit erledigt. An normative Ansprüche der Verfassung, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und die Gleichheit der Lebensverhältnisse betreffend, wird gelegentlich erinnert, vor allem mit Blick auf die neuen Bundesländer. Dass sie eine realistische Zielsetzung sein könnten, wird nicht vertreten. Die Kommentatoren sehen entweder kein Problem oder sie resignieren vor den Problemen.


Meinungsvielfalt als Stärke und Schwäche

Die überwiegende Zahl der Redaktionen legt Wert darauf, ihr Publikum mit einer Einheitslinie in den zentralen Fragen des Themenspektrums Armut und Reichtum zu verschonen. Ein pluralistisches Meinungsbild wird von der Redaktion selbst oder mindestens mithilfe von Kolumnisten und Gastkommentatoren sichergestellt. Dieses Angebot an Meinungsvielfalt gehört auf die journalistische Habenseite. Aber es gibt auch eine Einfalt der Vielfalt. Das bloße Neben- und Gegeneinanderstellen von Positionen, die in den tagespolitischen Auseinandersetzungen ohnehin ständig wiederholt werden, macht noch keine Qualität aus. Man fragt sich, ob in den Redaktionen, die über Jahre hinweg mit zuverlässiger Erwartbarkeit ihre kontroversen Sichtweisen präsentieren, die Redaktionsmitglieder auch einmal miteinander diskutieren, um daraus neue Sichtweisen, eine andere Perspektive oder gar neue Erkenntnisse zu entwickeln, die dem Publikum präsentiert werden könnten.


Diskursiv schwach, sprachlich bedenkenlos

Die Meinungsäußerungen beschränken sich sehr oft auf den Gebrauch der öffentlich auch aus dem politischen Raum bekannten Argumentationsversatzstücke. Ob Mindestlohn, Staatsverschuldung, Höhe der Hartz-IV-Sätze, Besteuerung des Reichtums: alles vieldimensionale Themen, die unter wirtschaftlichen, sozialen, humanitären, moralischen, juristischen, kulturellen, individuellen Gesichtspunkten erörtert werden könnten – Fehlanzeige. Einzelne dieser Aspekte tauchen irgendwann auf, aber miteinander abgewogen, gegeneinander erörtert werden sie nicht. Je nach Deutungswelt, der sich der Kommentator zugehörig fühlt, wird ein Aspekt absolut gesetzt; so sind beispielsweise Mindestlöhne gut aus Gründen der Gerechtigkeit oder schlecht aus Gründen der unternehmerischen Kostenbelastung.Gerechtigkeit wird als moralischer Anspruch vorgetragen und bleibt als solcher unwidersprochen. Entgegengehalten werden ihm wirtschaftliche Notwendigkeiten, denen der Vorrang gebühre. Gerechtigkeit wird entweder als Gegensatz zur oder als ein Nebenprodukt von Wirtschaftlichkeit behandelt. Eine Perspektive, welche die wirtschaftliche Kraft der sozialen Gerechtigkeit prüft – inwieweit Sozialstaat und Gerechtigkeit wirtschaftliche Prosperität fördern, inwieweit große Armut und eine Zusammenballung privaten Reichtums der wirtschaftlichen Entwicklung schaden können –, spielt fast keine Rolle. Es gibt kaum eine kritische Beschäftigung mit dem Sprachgebrauch, der sich zu bestimmten Themenbereichen gesellschaftlich durchsetzt. Er wird schlicht übernommen. Wie es Blonde, Schwarzhaarige und Glatzköpfige gibt, ist medienübergreifend oft die Rede von sozial Schwachen oder von bildungsfernen Schichten; Lieblingsmetapher für das Kapital ist 'scheues

Reh'. Lediglich in der Süddeutschen Zeitung fanden wir zwei Texte, die sich mit einigen dieser Sprachbilder sehr intelligent und kritisch auseinandersetzen.


Zum Charakter der einzelnen Medien

Berliner Zeitung

Reichtum und Armut sind in der Berliner Zeitung keine häufigen Kommentar-Themen, werden aber im Vergleich mehr als anderswo aufgegriffen. Insgesamt ist das Themenfeld von einer relativ einheitlichen Positionierung der Redaktion in den meisten seiner Einzelaspekte gekennzeichnet. Man kann von einer redaktionellen Linie sprechen, der das Soziale wichtig und das Wirtschaftliche verdächtig ist. Beim Thema Armut vermeiden die Kommentatoren Schuldzuweisungen an die Betroffenen ebenso wie – im internationalen Zusammenhang – an betroffene Länder. Sie sprechen nicht von individuellem Versagen, sondern von Benachteiligung. Armut behandelt die Berliner Zeitung als ein gesellschaftliches Problem mit schlimmen Auswirkungen auf die Betroffenen, nicht als ein persönliches Problem der Betroffenen mit

negativen Folgen für die Gesellschaft. Die einfache Gleichung, dass Arbeit vor Armut schütze, wird von der Berliner Zeitung ausdrücklich problematisiert. Die Kritik an der Wirtschaft, die Armut trotz Arbeit verursache, ist ausgeprägt. Staatsschulden werden nicht als politische Vergeudung, als bequemer Finanzierungsweg überflüssiger Wohltaten dargestellt. In den Staatsschulden komme öffentliche Armut zum Ausdruck, der es nicht mit Sozialabbau, sondern mit Steueraufbau bei den Vermögenden zu begegnen gelte. Sehr intensiv setzen sich die Meinungsbeiträge mit den gesellschaftspolitischen Risiken auseinander, die sie im Auseinanderdriften von Arm und Reich sehen. Die Interpretation von Protesten und Krawallen als sozialer Notwehr steht im Zentrum mehrerer Kommentare. Reichtum wird unterschiedslos negativ bewertet. Zu oft ersetzt bei diesem Aspekt Empörung Argumentation und Erklärung. Aber es gibt einige herausragende kommentierende Analysen.


Tagesspiegel

Die Meinungsbeiträge des Tagesspiegel zu Reichtum und Armut zeichnet die individuelle Meinungsfreiheit der Redaktionsmitglieder aus, die sich in der Konfrontation zweier Argumentationslinien niederschlägt. Die offenkundig tolerante Grundhaltung der Redaktionsleitung wirkt sich allerdings nicht qualitätsfördernd aus. Die Gesinnung bekommt zulasten des Niveaus freien Lauf. Auf der einen Seite sind einzelne Beiträge zu lesen, die von hohem ökonomischen Sachverstand und einer beeindruckenden Detailkenntnis zeugen. Auf der anderen Seite ist das Argumentationsniveau für eine der bedeutenden Regionalzeitungen in Einzelfällen erschütternd. Das wichtigste Einzelproblem des Themenbereichs Reichtum und Armut sind im Tagesspiegel die Staatsschulden, deren Ursachen und Folgen in allen, also auch völlig konträren Varianten 'durchkommentiert' werden. In sozialen Fragen ist die Politik der Joker, den die Tagesspiegel-Kommentatoren ziehen, wenn sie sich die Auseinandersetzung mit Hintergründen und Zusammenhängen eines Problems ersparen möchten. Schwierigen Fragestellungen wird gern mit allgemeinen Betrachtungen ausgewichen in der Form küchenphilosophischer Anmerkungen über das Allgemeinmenschliche nach dem Motto: Schuld sind wir alle.


Vergleichende Anmerkung: Berliner Zeitung/Tagesspiegel

Auf den ersten Blick erscheint die Berliner Zeitung gesinnungs- und der Tagesspiegel diskussionsgesteuert. Insbesondere im Umgang mit der Reichtumsthematik, aber auch unter den beiden stärker normorientierten Aspekten der sozialen Kluft und der Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit herrscht in der Berliner Zeitung eine fast durchgängige Positionierung, während im Tagesspiegel kontroverse Standpunkte sich ablösen. Der zweite Blick weist die Pluralität des Tagesspiegel als bloße Reproduktion verfestigter und deshalb erwartbarer Meinungen aus. Von einer diskursiven Qualität kann nur in Ausnahmefällen die Rede sein. Analytisch starke, diskursiv offene Kommentare sind nach unserem Urteil in der Berliner Zeitung nicht häufiger, aber auf höherem Argumentationsniveau angesiedelt als im Tagesspiegel. Simplifizierende und moralisierende Beiträge sind im Tagesspiegel öfter zu finden.


Süddeutsche Zeitung

In der SZ zeigen sich zwei deutlich unterscheidbare Kommentar-Welten, mit jeweils eigenen Argumentationsmustern und Positionen. So werden beispielsweise die Folgen der Neuordnung des Arbeitsmarktes und der Hartz-IV-Gesetzgebung gegenteilig bewertet: Die einen Kommentatoren rücken die Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen in den Vordergrund und sehen darin ausdrücklich eine Bestätigung dieser für sie alternativlosen Politik. Ob die Zunahme der Beschäftigtenzahlen weitere oder sogar andere Gründe haben könnte, wird von keiner der beiden Seiten erwähnt.

Die anderen Kommentatoren sehen in dieser Neuordnung eine Politik der Produktion von Armut und der Degradierung von Arbeit, sie stellen die sozialen Nachteile in den Mittelpunkt. Ihre Forderungen, beispielsweise Mindestlöhne einzuführen und Hartz-IV-Regelsätze zu erhöhen, werden wiederum von den ersteren Kommentatoren wegen (betriebs-)wirtschaftlicher Nachteile abgelehnt oder stark relativiert. Eine ähnlich gegenteilige Kommentierung gibt es auch beim Thema Steuerpolitik. Während die einen vor allem aus Gründen der gerechten Lastenteilung höhere Steuern für Wohlhabende und reiche Erben fordern, widersprechen die anderen aus Gründen der volkswirtschaftlichen Nachteile; für Letztere ist Gerechtigkeit ein Wunsch, den wirtschaftliche Notwendigkeiten möglich machen oder nicht. Es fällt auf, dass diese beiden Deutungswelten ihre Behauptungen nicht im Sinne von besserer Qualität und Orientierung gegeneinander abwägen. So bleibt dem SZ-Publikum – vergleichbar mit dem Tagesspiegel – nur die Freude über eine gewisse Meinungsvielfalt, die sich weitgehend mit der in der offiziellen Politik maßgeblichen Bandbreite deckt.


Frankfurter Allgemeine Zeitung

Im Mittelpunkt stehen für die FAZ-Redaktion die Lage der Mittelschicht und die Staatsverschuldung. Hier sieht die FAZ ernsthafte Probleme, damit setzt sie sich auseinander. Dass Armut und Reichtum zunehmen, wird in den FAZ-Kommentaren nicht bestritten. Ein nennenswertes Problem hat die FAZ mit dieser Entwicklung nicht, zumal soziale Ungleichheit weniger als belastend, denn als produktiv gilt. Als prägende Ursache für Reichtum wie für Armut gilt das persönliche Verhalten – in dem einen Fall in Form von persönlicher Leistung und im anderen von individuellem Versagen. Armut als Gesamterscheinung wird nicht behandelt. Inhaltlich losgelöst voneinander werden einzelne Erscheinungsformen bearbeitet: vor allem die Kinder-, Hartz-IV- und Altersarmut. Reichtum wird verteidigt und gewürdigt. Reichtum, der nicht auf Basis von persönlicher (unternehmerischer) Leistung entsteht, also das Heranwachsen einer Kapital- und Erbengesellschaft, existiert für die Redaktion als eigenes Thema nicht. Mögliche Wechselwirkungen zwischen Armut und Reichtum fasst die Redaktion nicht ins Auge. Überraschend und fast ein Alleinstellungsmerkmal, müsste die FAZ sie nicht ein Stück weit mit dem Spiegelteilen, ist die Politikverdrossenheit der Redaktion: der durchweg von Herablassung oder gar Verachtung geprägte Blick auf die Politik.


Vergleichende Anmerkung SZ/FAZ

Es gibt im Großen einige Gemeinsamkeiten – privater Reichtum ist für die SZ genauso wenig ein Thema wie für die FAZ – wie in Einzelfragen zahlreiche Unterschiede: Die Milde gegenüber Steuerhinterziehern, die in der FAZ immer wieder deutlich zu spüren ist, entspricht in der SZ der Härte, mit der diese kritisiert werden. Missbrauchsvorhaltungen gegen Sozialtransfer-Empfänger werden in der FAZ systematisch, in der SZ seltener vorgetragen. Etwas salopp formuliert: In der SZ steckt eine FAZ und eine Gegen-FAZ. Die Analyse- und Argumentationsmuster sowie die Positionen, die in der FAZ eindeutig dominieren, bilden einen Teil der SZ-Kommentar-Welt; in Sprache und Inhalt allerdings deutlich dezenter und geschmeidiger vorgetragen. zugleich ist in der SZ aber auch jene gegenteilige Kommentar-Welt prominent vertreten, die sich in Argumenten und Positionen ausdrücklich an Kriterien sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit orientiert und von der in der FAZ bestenfalls Spurenelemente zu identifizieren sind.


Der Spiegel

Das Magazin beschäftigt sich punktuell, wenig engagiert und damit unzuverlässig mit dem untersuchten Themenfeld. Wenige profunde Essays zu sehr grundlegenden Fragen, informative Texte zu Detailproblemen und (wenige) hoch qualifizierte Analysen, die Wechselwirkungen aufzeigen und Kontexte herstellen, wechseln sich ab mit einer Mehrheit aus Aufmerksamkeit heischenden Beiträgen, die primär von ihrer Rhetorik leben, sowie mit Texten, in denen Sozialtransfer-Empfänger unter Generalverdacht gestellt werden.

Zuverlässig ist die Redaktion bei folgenden Themen: Verglichen mit Sozialtransfer-Empfängern werden Wohlhabende und Reiche tendenziell 'hofiert' und ihre Interessen mit viel Umsicht bedacht; abgesehen von Exzessen sogenannter gieriger Manager und Finanzmarktakteure, die moralisch scharf kritisiert werden. Fragen hat der Spiegel an die oberen Schichten selten, öfters macht er ihre Sorgen zu den seinen. Gesellschafts- und machtpolitische Zuspitzungen und Fragen werden gemieden: etwa die Frage, ob unser Wirtschaftssystem strukturell Ungerechtigkeiten herstellt oder nicht, ob der ständig wachsende private Reichtum auch Quelle aktueller Krisen ist oder nicht, ob es eine Wechselwirkung zwischen der Zunahme an privatem Reichtum einerseits und öffentlicher und privater Armut andererseits gibt.

Die Texte behandeln jeweils isoliert einzelne Aspekte von Armut oder Reichtum. Wichtige Zusammenhänge werden so zerrissen, das Thema seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension beraubt. Obwohl die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt als Ursache und Erlösung von Armut eine ausschlaggebende Rolle spielen, werden als verantwortliche Akteure ausschließlich die Individuen und die Politik angesprochen. Die Unternehmen und Unternehmer bleiben außen vor, obwohl sie bezüglich Löhne, Arbeitsplatzverhältnisse, betriebliche Aus- und Weiterbildung und familien- und kinderfreundlicher Arbeitszeiten eine große Rolle spielen könnten. An die Politik werden viele Anforderungen gestellt, obwohl ihr Tun meist wenig geschätzt und ihr eine strukturell bedingte Neigung zu jahrzehntelanger unverantwortlicher Schuldenmacherei unterstellt wird. Das Thema Reichtum in seiner gesellschaftspolitischen Dimension ist nicht existent, als Unterhaltungsthema dagegen sehr wohl; die Analyse der Reichen-Serie vom Frühjahr 2012 stärkt diese Wertung. Wie viel FAZ steckt im Spiegel? Recht viel. Und wie viel Zeit? Recht wenig. Wär’s doch umgekehrt.


Die Zeit

Die Quantität der Beiträge und die Variationsbreite der journalistischen Bearbeitung sorgen für eine starke Präsenz der Armuts- und Reichtumsproblematik. Das Aufmerksamkeits- und Kritikpotential, das im Vergleich von Armut und Reichtum liegt, nutzt die Zeit publizistisch und politisch. Die zwei Welten in einem Text direkt gegeneinanderzustellen, die Welt des riesigen Reichtums hier, die Welt der Armut und des Elends dort, ist eine wiederholt angewandte Methode. Bezogen auf unser Untersuchungsthema liegt ein entscheidendes Plus der Zeit darin, dass ihre Wirtschaftsredaktion die Ökonomie als ein Feld der Gesellschaftspolitik versteht. Sie beobachtet, beschreibt und kritisiert unter der Fragestellung, ob auch der Gesellschaft gut tut, was der Wirtschaft nützt. Die Zeit-Texte im Themenbereich Sozialpolitik folgen zwei Diskurslinien. Einerseits bestehen sie auf der Notwendigkeit des Sozialsystems inklusive starker Gewerkschaften. Andererseits melden sie Kritik an, weil sie Sozialleistungen nicht überall ankommen sehen, wo diese dringend gebraucht werden. Gegen die griffigen Empörungsformeln – von der Politik, die mit schuldenfinanzierten Wohltaten Stimmen kauft, von den Leuten, die über ihre Verhältnisse leben, von einem Wachstum, das auf schwäbische Hausfrauenart ohne Schulden zu bekommen wäre – ist Die Zeit nicht immun, aber sie kommen vergleichsweise selten in Hauptsätzen vor, eher in Nebensätzen. Hingegen gelingt es der Redaktion, Gegenperspektiven zu eröffnen, Zusammenhänge offenzulegen, die von anderen nicht gesehen, zumindest nicht beschrieben werden. In der Summe ist die redaktionelle Leistung der Zeit ausgezeichnet.


Vergleichende Anmerkung Spiegel/Zeit

Auch der Spiegel hat seine kritischen Kapazitäten und analytischen Qualitäten, aber er fällt auf dem untersuchten Themengebiet klar hinter die Zeit zurück. Der Spiegel spielt sich auf. Er weiß es besser, egal worum es gerade geht. Reichen gegenüber verzichtet er meist auf sein Markenzeichen, diesen Gestus des jederzeitigen Bescheidwissens, der Herablassung, einer – gemessen an der Spiegel-Klugheit – unvermeidlichen Beschränktheit aller Objekte seiner Berichterstattung. Der Spiegel will Eindeutigkeit, darin ist er strukturell, nicht intellektuell der Bildzeitung ähnlich. Dieser Eindeutigkeit der Darstellung opfert er zu viel. Im Vergleich dazu hat die Zeit den längeren Atem, die sachlichere Sicht, die detailliertere Darstellung, die unkonventionellere Vielfalt an Perspektiven und das konsequentere Bemühen um zusammenhänge. Der Journalismus kann nicht für die Antworten zuständig sein, die Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur schuldig bleiben. Aber er trägt eine Mitverantwortung dafür, dass die Probleme nicht unter den Tisch gekehrt werden und die Debatte im Gang bleibt. Dazu leistet die Zeit beachtliche Beiträge, der Spiegel gelegentliche.


© Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz – Portionierte Armut, Blackbox Reichtum. Die Angst des Journalismus vor der sozialen Kluft, hier: Resümee. In: STUDIEN – herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, www.rosalux.de

21IV2013

 



Tweet