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Nachwende in Berlin

von Katja Schickel




 

Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin – Der Sound der Wende.  

256 S., brosch., 12 sw Abb., 17,95 Euro.

Tropen, Stuttgart 2013, ISBN: 978-3-608-50315-9






Mit Berlin, zumindest seinem Nimbus, lässt sich immer wieder, immer noch Kasse machen. Für viele war die Zeit nach 1989 die schönste überhaupt, man selbst war noch ganz jung oder fühlte sich zumindest so; nach dem Fall der Mauer schien alles zunächst gleichermaßen unwirklich wie unverbraucht, man war mitten im brisantesten Geschehen, das man sich kurz zuvor nicht hatte vorstellen können, aus grauen Mauern und Plattenbauten plötzlich im Aufbruch in eine unbekannte Welt, eine neue bunte (Sub-)Kultur, die man gerade selbst mit kreierte und als solche in ihren Auswirkungen noch gar nicht kannte (auferstanden aus Ruinen...). Über diese Zeiten vor und nach 1989 wurde bereits einiges veröffentlicht: Ein bisschen Nostalgie ist im Spiel, Retrospektive der eigenen heroischen Tage, als die meisten rückblickend nur Entdecker und Erfinder ihres Lebens waren und noch nicht an die Kohle dachten, die sich mit dem, was sich heute Hype nennt, verdienen lässt. Tenor: So war es – und ich war dabei! Den Anfang machten Felix Denk und Sven von Thülen mit Der Klang der Familie über die Techno-Szene im Berlin nach dem Mauerfall; Wolfgang Müller erinnerte in Subkultur Westberlin 1979-1989 – Freizeit (s. hier: 

Empfehlungen) an die Kunst- und Musikszene davor.

Sound der Wende – das sind die vielen Clubs in den heruntergekommenen Häusern Ost-Berlins, die noch nicht so schick und teuer aufgebrezelt sind wie heute, die vielen zu entdeckenden Winkel und Brachen in der Stadt, ihr Narbengeflecht, lauter Provisorien, von Heute auf Morgen. Wegweiser dorthin sind oft nur krakelige Kreidestriche auf den Straßen oder Trottoirs wie in alten Kinderspielen, klandestine Guerillataktik (macht heute jede Werbung, die innovativ sein will), Zettel mit Telefonnummern an Bäumen und Mauern – alles klappt ohne Handy, ist reine - und natürlich immer sehr vertrauliche! - Mund-zu-Mund-Propaganda. Vielleicht hört man nachts beim um die Häuser ziehen, also eigentlich zufällig im Vorübergehen, Gewummer aus irgendeinem Hof oder Keller und befindet sich, wenn man unerschrocken ist und neugierig genug, gleich mittendrin. Die alte Macht ist abgeschafft, eine neue hat sich noch nicht etabliert. Keine Macht für niemand! Ganz so neu ist das zwar nicht: Diese Zeit zwischen den Zeiten, zwischen jung sein und erwachsen werden - aber die zwischen zwei Staatsgebilden in Abrisshäusern schon, das ungeheure Gefühl dieser Freiheit. Das Ende der Bevormundung. Endlich der Anfang vom richtigen Leben. Das Aufatmen und Durchatmen. Die uneingestandene Klammheit dabei. Oft unartikuliert, in Tanz und pure Bewegung aufgelöst, dann wieder stundenlang diskutiert. Hier geht´s hoch her zwischen Ost und West. Hier gibt´s die Analysen und Diagnosen gleichzeitig und die Suchtmittel dazu. Auf- und Abbau. Lautstarker Abschied von Plänen aller Art, von alten Prinzipien und Werten. Hier geht die Post ab, hier tanzen die Verhältnisse, das Mögliche und Unmögliche eng miteinander, ziehen sich an und stoßen sich ab, als Resonanz und Klang im Ohr. Im Körper, dem eigenen, dem der anderen und dem der Stadt. Freiräume, wo man hinschaut und hinhört, und mindestens genauso viel unbewältigte Geschichte. Denn der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Wildwest-Wilder Osten-Spiel, dieser Ausnahmezustand Ausdruck und Resultat jüngster deutscher Geschichte ist. Die jungen Kreativen benutzen das Material, suchen sich Räume und allmählich entwickelt sich ein neuer Sound, ein neues Bild der Stadt.

Gutmair ist ein wandelndes Vademecum (Venimecum wäre besser = Komm mit mir!): er zaubert Namen von Lokalitäten (und damit Ereignissen und Erlebnissen) in sein Buch, die man gänzlich vergessen glaubte: Wohnmaschine beispielsweise, EimerKunst+Technik, Allgirls Galerie, Obst & Gemüse usw. Dieser Boom verdankt sich zumeist billigen Mietverträgen aus DDR-Zeiten und dem manchmal fragwürdigen Zustand der Immobilien selbst. Man kann leerstehende Läden, Lokale, Wohnungen und Keller oft umstandslos so nutzen, wie man will, manchmal gibt es nicht einmal einen Mietvertrag. Für einige der heute hippen und berühmten Lokale brauchte man damals nicht einmal eine Konzession oder Ausschankgenehmigung. Wie noch einige Jahre zuvor auch in West-Berlin, gibt es in den zentralen Gegenden Ost-Berlins noch reichlich Wohnungen ohne Bad und eigene Toilette, viele ohne Telefon, manche sogar ohne Strom und warmes Wasser. Man kann also sehr billig wohnen oder sein Domizil anderweitig nutzen. Die Idee der Zwischennutzung von leerstehenden Gebäuden oder Räumen wird in dieser Zeit geboren, als Jutta Weitz von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte beginnt, mit interessierten Leuten kurzfristige Mietverträge zu schließen.

Der Vollständigkeit halber bringt Gutmair natürlich auch die großen Namen und stellt ihre Anfänge vor: Tresor, Acud, Suicide Circus, Schokoladen. WMF Club, der schon früh verdrängt wird, ein Schicksal, das vielen heutigen Clubs gerade blüht: Zwischennutzung läuft ab und wird nicht verlängert; Immobilie wird anderweitig genutzt, Grundstück neu bebaut, neue Nachbarn wehren sich gegen den Lärm, etc.. Im winzigen Elektro des Videokünstlers Daniel Pflumm treffen sich die Techno-Größen Sven Väth, Jeff Mills und DJ Hell. Sabor da Favela, eine brasilianische Bar, liefert der Szene das neue Getränk: den Caipirinha. Mit den Orten verbunden sind immer auch besondere Menschen, etwa Slavko Stefanoski, Kellner in dieser Bar, hauptberuflich jedoch Hausbesetzer, der, als er schließlich nach Mazedonien abgeschoben wird, mit dem Rad nach China fährt. Das Tacheles, Relikt aus jenen Tagen, ist letztes Jahr 'abgewickelt' worden (auch mit Leerstand lässt sich in dieser zentralen Lage lukrativ viel Geld machen!) und Bezugspunkt des bekennenden Obdachlosen Klaus Fahnert, der dort jahrelang allerlei Krimskrams verkauft und 2005 in der Nähe des Kiosk gegenüber stirbt. 


In diesen Zwischenräumen trifft man sich überall, legal, illegal, scheißegal, feiert bis ins Morgengrauen und macht dann einfach weiter. Auferstanden aus Ruinen. Der Sound der Wende „das sind die Beats von Breakbeat, House und Techno, aber auch der Presslufthämmer und der Schuttrutschen, die komprimierten Tonfolgen der Modems, die Daten in Töne verwandeln, der Gesang der Nachtigallen zur besten Ausgehzeit und der Lärm der Lerchen am Morgen, die Gespräche am Rand der Dancefloors, auf den Vernissagen und in den Bars.“ Es ist diese Polyphonie, die weltweit gehört wird, die Stadt zunächst vor allem bei den Jungen (den notorischen Alleskönnern und Nichtshabern) so beliebt macht. Die historische Stadtmitte wird zum unausgesprochenen Zentrum, zunächst von Hausbesetzern, dann von Künstlern und Galeristen, Musikern und DJ´s, Clubbetreibern und Gastwirten. Sie eignen sich alle gemeinsam, aber ohne jede Verabredung oder Übereinstimmung etwaiger Vorstellungen und Ziele, den städtischen Raum an, erwecken ihn – und vielleicht sich selbst – wieder zum Leben. Eine neue Musik- und Kunst-Bohème mischt die Gegend richtig auf, von Anfang ist es ein Mix aus Ossis und Wessis, internationale Klientel schon mit dabei, Ateliers entstehen, Bars, Galerien, die ersten Techno-Clubs. Allerdings gibt es das, was zwischen 1990 und 1997 entstanden ist, längst nicht mehr. An dieser Entwicklung haben einige wenige kräftig verdient, und wenn Algorithmen Geräusche machen können, haben die sich längst über den Sound der Wende gelegt, ihre eigene Kakophonie von Bilanzen, Gewinnen und Renditen über die gesamte Stadtarchitektur und soziale Tektonik gespannt und endlich eine Tonlage gefunden, die den Profiteuren gefällt – sie pfeifen drauf, gekonnt und durchaus international. Sie wollten ihre Chancen nutzen und Geld aus der exzeptionellen Stadtentwicklung schlagen - und das ist ihnen erfolgreich gelungen.



“Das Verschwinden der Brachen ist im doppelten Wortsinn ein Symptom der Verdrängung. Wo die Brachen bebaut werden, fängt das Vergessen an. Wo die Lücken noch sichtbar sind oder man sich an sie erinnert, fangen die Gespräche an.”

Gutmair zeigt ein Stadtbild der alten historischen Mitte um 1989 mit den tristen Fassaden, den Einschusslöchern, den alten Ladenschildern, dem abblätternden Putz und dem Rauch aus den vielen Ofenheizungen, der die Mauern und die Luft ätzt. Er beschönigt den (mutwilligen) Verfall nicht. Aber er ist Lebensraum vieler Menschen, die recht unkonventionell leben, weil sie zu improvisieren gelernt haben. Heute findet man hier nur noch hochpreisige Boutiquen und Flagship Stores, Restaurants und Galerien, man serviert Chai Latte und Macchiatto. Die Menschen, die hier einmal gelebt haben, sind längst weg gezogen. Die meisten konnten sich ihren Wohnraum nicht mehr leisten.

Der Autor erzählt locker und dennoch präzise in den Details. Er lässt andere zu Wort kommen, sein Personal ist durchweg erfreulich unpathetisch und lakonisch. Die Auswahl an historischem Material ist profund, Gutmair kommentiert klug und ohne Allüren, aber mit einigem selbstironischen Witz. Er erinnert an eine in jeder Hinsicht bewegte Zeit: die disparate Wohnungspolitik des Senats (sic!), die im November 1990 zur gewaltsamen Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße führt, später allerdings auch zur Legalisierung anderer besetzter Häuser. Ein bis heute unaufgeklärter Mord an dem vom Berliner Senat beauftragten Investoren-Berater, Hanno Klein, erregt die Gemüter ebenso wie ein als 'Besenbeschluss' bekannt gewordener Erlass, der vorsieht, dass sich alle Beamten aus der vormaligen DDR nochmals auf ihre Stellen bewerben müssen.

In der Rückschau sind sich alle Interviewten einig, dass es in der Nachwendezeit unendlich viele Möglichkeiten gab und sie den damaligen Zustand sogar Utopie nennen wollen. Die Spielregeln waren nicht festgelegt, die Lebensläufe noch nicht festgezurrt. Das Gefühl von Freiheit hat sich lange gehalten und vermutlich in der einen oder anderen Nische überlebt. Ohne die Erinnerungen an das Lebensgefühl dieser Zeit lässt sich das heutige Berlin und seine Strahlkraft nicht verstehen, vielleicht auch nicht aushalten.

Wer nicht dabei war, bekommt zuverlässige Informationen über eine Zwischenzeit, die das internationale Image der Stadt heute noch prägt; wer dabei war, wird nicht enttäuscht sein, sondern sich an die eigene Geschichte erinnern und an den manchmal merkwürdig orange-farbenen Himmel über der Stadt. „Man kann nichts festhalten, die Welt dreht sich weiter. Alles verschwindet irgendwann. Aber unsere Erinnerungen können wir teilen, und dann erst sind sie wirklich.“

Was die geteilte, gerade wiedervereinigte Stadt ab 1989 zum kosmopolitischen Anziehungspunkt und erstmals nach 1933 wieder zur pulsierenden Metropole machte, ist mittlerweile entweder bis zur Unkenntlichkeit geglättet und schön verpackt oder unauffindbar, weil bereits abgerissen, der Rest wird gerade weg- oder luxussaniert. Berlin ist nicht ganz und nicht eins. Das könnte auch ein Glücksfall sein, eine Chance. Viele waren dabei, als all das begann. Gut, dass uns einer davon erzählt.



 

Ulrich Gutmair wurde 1968 in Dillingen an der Donau geboren. Er schreibt seit gut zwanzig Jahren für Tageszeitungen und Magazine über Pop und Geschichte. Seit 2007 ist er Kulturredakteur der taz. (Verlagsinformation)

 



Noch eine Reminiszenz...


 

Zu früh - zu spät?

Blick zurück nach vorn






















© Fotos: Tropen Verlag; auguststrasse-berlin-mitte.de (Abriss Linienstr.131); ctm-festival.de; Carolin Saage (25/7, Bar 25 - Katalog, seltmannundsoehne.de) 


09VIII13



 

Clubszene unter Druck

Prophezeiung - Youtube

Erst, wenn der letzte Club geschlossen, die letzte Tanzfläche beerdigt und der letzte Ton verklungen ist, werdet Ihr feststellen, dass Ihr Berlin in einen Vorort von Bonn verwandelt habt.


 


Neben dem Brandenburger Tor ist der Turm sicher das meistfotografierte Gebäude der Stadt - auch im Regen ist es schön anzusehen. Da verschwindet die Spitze auch schon mal in den Wolken.

Neben dem Brandenburger Tor ist der Turm sicher das meistfotografierte Gebäude der Stadt - auch im Regen ist es schön anzusehen. Da verschwindet die Spitze auch schon mal in den Wolken.

 

Neben dem Brandenburger Tor ist der Turm sicher das meistfotografierte Gebäude der Stadt - auch im Regen ist es schön anzusehen. Da verschwindet die Spitze auch schon mal in den Wolken.

Neben dem Brandenburger Tor ist der Turm sicher das meistfotografierte Gebäude der Stadt - auch im Regen ist es schön anzusehen. Da verschwindet die Spitze auch schon mal in den Wolken.

Neben dem Brandenburger Tor ist der Turm sicher das meistfotografierte Gebäude der Stadt - auch im Regen ist es schön anzusehen. Da verschwindet die Spitze auch schon mal in den Wolken.

 

Neben dem Brandenburger Tor ist der Turm sicher das meistfotografierte Gebäude der Stadt - auch im Regen ist es schön anzusehen. Da verschwindet die Spitze auch schon mal in den Wolken.

 

 

Neben dem Brandenburger Tor ist der Turm sicher das meistfotografierte Gebäude der Stadt - auch im Regen ist es schön anzusehen. Da verschwindet die Spitze auch schon mal in den Wolken.




 

 



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