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Vom wahren Wert zum Warenwert der Liebe 

Der Tanz ums Goldene Selbst


Die Kunst zu lieben – der Klassiker von Erich Fromm

aus dem Bücherschrank geholt

von Michael Schneider



 

 

Erich Fromm - Psychoanalytiker und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke wie Der moderne Mensch und die Zukunft, Die Furcht vor der Freiheit, Haben oder Sein und die Anatomie der menschlichen Destruktivität, geboren am 23. März 1900 in Frankfurt am Main, gehörte nach seinem Studium in Heidelberg, Frankfurt und München und seiner Promotion 1922 zum Kreis junger Gelehrter um Max Horkheimer, zur weltbekannten Frankfurter Schule. Er war nicht nur mit dem geistigen Rüstzeug der Kritischen Theorie und der Freud’schen Psychoanalyse ausgestattet, deren zeitbedingte Verengungen und soziologisch blinde Flecken er aufbrach - was ihm seitens der Psychoanalytischen Gesellschaft den Vorwurf des „Revisionismus“ eintrug -; er stand auch dem Historischen Materialismus näher als manch anderer Vertreter der Frankfurter Schule. Zudem war er in der philosophischen Tradition nicht nur des Westens, sondern auch des Ostens außerordentlich bewandert. Seine sozialpsychologischen und philosophischen Werke gehörten - neben den Werken Marcuses, Adornos und Horkheimers – zu den prägenden Bildungserlebnissen und geistigen Initialzündungen der 1968er-Generation. Einem großen Publikum wurde Fromm durch sein Buch Die Kunst zu lieben bekannt.

 

Hätte er seinen Klassiker heute geschrieben, dann - so scheint mir allerdings - wäre seine Diagnose über den „Verfall der Liebe in der zeitgenössischen westlichen Gesellschaft“ wohl noch um einiges skeptischer ausgefallen als 1957, dem Jahr seines Erscheinens. Schon damals registrierte er scharfsinnig, dass „die menschlichen Liebesbeziehungen den gleichen Grundzügen folgen, die den Waren- und den Arbeitsmarkt beherrschen... Unsere ganze Kultur basiert auf der Kauflust, auf der Vorstellung eines für beide Seiten günstigen Austausches. ’Was du mir gibst, das gebe ich dir!’, lautet die vorherrschende Maxime sowohl für Waren als auch für Liebe... Der moderne Mensch hat sich in eine Ware verwandelt. Er erlebt seine Lebenskraft als eine Investition, mit der er - entsprechend seiner Stellung und seiner Position auf dem Persönlichkeitsmarkt - einen möglichst hohen Gewinn erzielen will.“ Diese Feststellung dürfte heute in noch viel radikalerem Sinne zutreffen als damals; gibt es doch kaum noch eine gesellschaftliche Sphäre, die nicht den Marktgesetzen unterworfen wurde. Selbst ehemals gemeinnützige und Non profit-Organisationen wie Krankenhäuser, Altenheime und (demnächst) auch Gefängnisse müssen mit Gewinn arbeiten. Wo alles privatisiert und dem Verwertungsprinzip unterworfen wird, muss man sich freilich nicht darüber wundern, dass die ökonomischen Kategorien sich auch des letzten Refugiums, der Intim- und Privatsphäre der Personen, immer mehr bemächtigen. Hört man heutige Paare über ihre „Beziehungen“ streiten, hat man oftmals den Eindruck, es sei eine neue Art von informeller Börse entstanden, an der mit emotionalen Kurswerten gehandelt wird. Die Krise, der crash, hat meist mit der Enttäuschung zu tun, dass das eingesetzte Gefühls-Kapital nicht genügend Surplus abgeworfen hat. Dann fallen Sätze wie: „Ich habe soviel in dich investiert. Und was habe ich zurückbekommen?“ Oder: „Zwar habe ich von Dir einiges profitiert, aber ...“ Die meisten Menschen glauben denn auch, dass das Lieben selbst sehr einfach sei, dass es jedoch sehr schwer wäre, das „richtige Objekt“ - gemeint ist das wert-äquivalente Objekt- zum Lieben zu finden. Im Verständnis Erich Fromms dagegen hieß lieben noch, „sich selbst zu geben, ohne eine ‘Sicherheit’ der Gegenliebe zu haben, aber im Glauben, dass die eigene Liebe in dem geliebten Menschen Liebe hervorrufen wird... Die Grundlage dieses Glaubens ist unsere eigene Produktivität, die Erfahrung des Werdens, Wachsens und Lebendig-Seins.“ Die Betonung liegt hier auf dem produktiven, nicht auf dem konsumptiven Aspekt; auf der Entäußerung und Verwirklichung des eigenen Mensch-Seins, nicht auf dem Haben und Sich-Einverleiben; auf dem Vertrauen in die Fülle menschlicher Möglichkeiten, welche die Liebe in einem selbst wie im anderen freisetzt - und nicht auf dem Prinzip des (Äquivalenten)Tausches und der ‘lohnenden Investition’ wie in der komfortabel eingerichteten modernen Zweierbeziehung. Hier geht man lässig und freundlich miteinander um, ohne Übertreibungen, ohne Flamme. Die Einstellung zu Beruf und Pflichten ist, soweit eben möglich, lustbetont. Die Partner sind Körperfreunde, doch weiß man meist wenig voneinander, nichts Tieferes, und oft genug bleibt man sich fremd. Die relative Prüderie der Elterngeneration, an der sich die 68-Revolte einst mit entzündete, ist längst einer neuen Form der Prüderie gewichen: der Risikominderung der Gefühle im freien Spiel der Partnerwahl. Die eigentliche und existentielle Erfahrung der Liebe, nämlich „die eigene Getrenntheit zu überwinden“, ist zum sexuellen Vergnügen verflacht. In der Liebe hat man endlich den Hafen gefunden: Man schließt ein zweiseitiges Bündnis gegen die Welt, und dieser Egoismus zu zweit wird dann für Liebe und Vertrautheit gehalten. Liebe als gegenseitige sexuelle Befriedigung sowie Liebe als ‘Teamwork’ und als Schutzhafen vor der Einsamkeit - dies waren für Fromm die beiden ‘normalen’ Formen ihres Verfalls in der modernen westlichen Gesellschaft. Ob feste Paarbeziehung oder Promiskuität, die Liebe gilt heute allgemein als Kind des sexuellen Vergnügens. Im Schein-Paradies der totalen Erlaubnis findet jedes Begehren sofort seine (Ersatz)Befriedigung, noch bevor es sich zur Leidenschaft alten Stiles auswachsen könnte. Wo eine Versagung, der Liebeskummer oder gar die Einsamkeit droht, bieten sich Trost und Tröster wie von selber an. Tausenderlei Surrogate und Ablenkungen stehen heute bereit, um etwaigen - für den Partner oder die Sozietät - gefährlichen Ausbrüchen von Liebesleidenschaft vorzubeugen und die erotischen Energien im sexuellen Tauschverkehr zu zersplittern. dass trotz ‘sexueller Revolution’ und nahezu vollständiger Enttabuisierung und Liberalisierung - nicht nur auf dem Güter- und Arbeitsmarkt, sondern auch auf dem modernen Persönlichkeitsmarkt - die psychischen Potenzstörungen bei Männern und Frauen signifikant zugenommen haben (wofür Stress und die zunehmende Verunsicherung der Arbeits- und Lebensverhältnisse mit ursächlich sein dürften), desgleichen die zunehmende Scheidungsraten und der hohe Anteil der Singles, die in manchen deutschen Großstädten schon fast ein Drittel der Haushalte ausmachen - all dies sind wohl Indizien für den fortschreitenden Verfall der Liebe in der modernen westlichen Gesellschaft.

 

Für Erich Fromm war Liebe, die diesen Namen verdient, noch eine Kraft, die über den bloßen Egoismus zu zweit hinaus strebt und sich in ihrer erweiterten Form auch als Nächstenliebe, als Mitgefühl, Empathie und Verantwortung für den Mitmenschen und das Gemeinwesen, kurz: als aktives Sich-Einsetzen und Solidarität zu bewähren hat. So etwas klingt altmodisch - und fast wieder revolutionär in einer Zeit, da alle Soziologen den rasanten Schwund des Gemein-Sinns beklagen. (Nur selten geben sie indes zu, dass dieser Schwund die schier zwangsläufige Folge der neoliberalen Doktrin und Wirtschaftspraxis, ihrer Deregulierungs- und Privatisierungs-Exzesse ist, die die sozialen Lebensrisiken - vom Arbeitsplatzverlust bis zur Krankheits- und Altersvorsorge - mehr und mehr dem Einzelnen aufbürden). Zu welchen Schlüssen bezüglich des Verfallsgrades der Liebe in der heutigen Gesellschaft wäre er wohl gekommen, wäre er noch Zeuge jener Total-Vermarktung der Sexualität samt ihrer Partialtriebe, des Voyeurismus und Exhibitionismus geworden, wie sie erst der deregulierte, völlig enthemmte Kapitalismus und die elektronische Revolution der achtziger und neunziger Jahre durchgesetzt hat? Mit www.sex.com rund um den Globus und rund um die Uhr, mit ‘Peep’ und sog. Erotik-Talkshows auf allen Kanälen, in denen Groß und Klein, Alt und Jung über ihre sexuellen Vorlieben und Stimulantien, über ihre Seitensprünge, SM- Praktiken und Erfahrungen in Swinger-Clubs locker vom Hocker daherreden, als handle es sich um die ‘normalsten’ Sachen der Welt - von den neuen Dienstleistungen wie Telefonsex und Seitensprung-Service gar nicht zu reden? Wäre er den TV-ModeratorInnen […] mit Begriffen wie „Verfall“ , „Verwilderung“ oder „Dekadenz“ gekommen, sie hätten ihn wohl coram publico ausgelacht und zum hoffnungslos altmodischen und 'verklemmten' alten Herren gestempelt. Der - im Interesse des reibungslosen Kapitalverkehrs und der Profitmaximierung - flexibilisierte und angepasste Mensch unserer High-Tech-Zivilisation scheint sich tatsächlich immer mehr dem Bilde zu nähern, das Huxley in seinem Buch Schöne Neue Welt beschrieben hat: gut genährt, gut gekleidet, sexuell mehr oder weniger befriedigt, aber ohne Selbst, nur im oberflächlichsten Kontakt mit seinen Mitmenschen, geleitet allein von Slogans wie „Schiebe ein Vergnügen nie auf morgen, wenn du es heute haben kannst!“ In der allgegenwärtigen Spaßkultur ist Vergnügen zum Synonym für Glück und Sex zum Surrogat für Liebe geworden. Schon 1957 schrieb Fromm: „Vergnügen liegt in der Befriedigung des Konsumierens und ‘Einverleibens’: von Waren, Bildern, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Zeitschriften, Büchern und Filmen. Alles wird konsumiert, wird geschluckt. Die Welt ist nur für unseren Hunger da, ein riesiger Apfel, eine riesige Flasche, eine riesige Brust; wir sind Säuglinge, die ewig Erwartungsvollen, die ewig Hoffnungsvollen - und die ewig Enttäuschten.“ Vorreiter dieses gesellschaftlich akzeptierten Suchtverhaltens, das selbstredend als Motor der Konjunktur fungiert, waren die USA, wo sich die privaten Haushalte bis heute lieber bis in die nächsten Generationen hinein verschulden, als auf einen einzigen Kaufwunsch zu verzichten. Die frenetische Kaufsucht indes empfindet kaum ein Bürger von gods own country als krank oder pathologisch, umso mehr das Zigarettenrauchen auf öffentlichen Plätzen oder im eigenen Loft. Der Halbwüchsige aber, den man mit ein paar Gramm Marihuana auf offener Straße erwischt, wird wie ein Schwerverbrecher behandelt. Er wandert für Monate in den Knast und kann seine Zukunft getrost abschreiben. Bekanntlich zählte im christlichen Wertekanon des Mittelalters die Habgier noch zu den sieben Todsünden. Im globalen Monopoly von heute gehört sie längst zum Katalog der gewinnbringenden Tugenden des homo öconomicus; schließlich ist sie der psychologische Turbomotor der profitgetriebenen Wirtschaftsweise, die inzwischen alle Poren der Gesellschaft durchdringt. Unter dem doppelten Terror der Ökonomie und der Telekratie, dem unblutigsten und zugleich effizientesten Terrorismus der Geschichte, da Habgier und Konsumsucht, Konkurrenz und sozialdarwinistische Auslese (‘survival of the fittest’) das gesellschaftliche Klima bestimmen, kann die Liebe im Fromm’schen Verständnis, auch die Nächstenliebe, wohl nur noch in familialen Nischen und Subkulturen oder in ihren diversen Pseudo-Formen überleben. Zu letzteren rechnet Fromm auch die sentimentale Liebe, die nur noch als Ersatz in der Phantasie bzw. stellvertretend auf der Leinwand miterlebt wird. Für viele Menschen ist der Bildschirm oder die Leinwand heute die einzige Gelegenheit, um Liebe zu erleben - als Zuschauer der Liebe anderer Menschen. Dass just der Untergang der Titanic, dieses triviale 150 Millionen Dollar-Rührstück im Wasserbad, zum größten Kassenschlager der Filmgeschichte wurde, zeigt einmal mehr, wie süchtig gerade in einer Zeit des grenzenlosen sexuellen Tauschverkehrs das Massenpublikum nach der sog. „großen Passion“ ist.

 

Doch trotz der tief verwurzelten Sehnsucht nach Liebe hält man fast alle Dinge für wichtiger als sie: Erfolg, Prestige, Geld. Macht. „Beinahe unsere ganze Energie verbrauchen wir dazu, um zu lernen, wie man diese Ziele erreicht, und fast nichts verwenden wir, um die Kunst des Liebens zu lernen.“ Diese aber fällt keinem in den Schoß, sei er auch noch so erfolgreich und mit noch soviel sexappeal ausgestattet. Die Kunst zu lieben, die mit der ‘richtigen Sexualtechnik’ so viel zu tun hat wie Balzac mit Beate Uhse, muss man vielmehr erlernen wie jeder andere Kunst auch, denn sie liegt nicht einfach im Sexualtrieb oder den Genen beschlossen. Zu ihren unabdingbaren Voraussetzungen gehören allerdings Fähigkeiten, die in der heutigen Zivilisation noch weniger gefragt und noch schwieriger auszubilden sind als zu Erich Fromms Zeiten: Erstens Selbstdisziplin und Frustrationstoleranz, Verhaltensformen, die in der Ex und Hopp-Gesellschaft, in der Nullbock- und Loveparade-Generation unserer Tage nicht gerade in sind. Zweitens Konzentration - auf den anderen wie auf sich selbst. Unsere Zivilisation aber führt zu einer unkonzentrierten und zersplitterten Lebensart, für die es kaum eine geschichtliche Parallele gibt. Indem man viele Dinge auf einmal tut - man isst, trinkt, spielt, unterhält sich vor laufendem Fernseher usw., tut man keines mehr wirklich. Jeder Lehrer und Pädagoge weiß heute davon ein Klagelied zu singen. Wenn die Kids nach einem, meist vor der Glotze oder bei Videospielen verbrachten, Wochenende montags in die Schule kommen, ist mit ihnen kaum etwas anzufangen: so unkonzentriert, zappelig und abgelenkt sind sie. Daher auch die zunehmende Schwierigkeit, allein zu sein. Aber gerade „die Fähigkeit, allein sein zu können, [ist] eine wichtige Bedingung für die Fähigkeit zu lieben“. Drittens gehört zur Liebe Geduld. Wir aber leben in einer Dromokratie (Virilio) einem künstlichen System der Beschleunigung, das die elektronische Revolution erst richtig auf Hochtouren gebracht hat und nicht nur die Geschäftswelt und die Börse, sondern die ganze Turbo-Gesellschaft in ein modernes Irrenhaus zu verwandeln droht. Der gestresste Zeitgenosse glaubt, Zeit und Geld zu verlieren, wenn er die Dinge nicht schnell, am besten per Mausklick, erledigt; und doch weiß er meist nicht, was er mit der dadurch gewonnenen Zeit anfangen soll - außer dass er sie irgendwie totschlägt. Last not least ist die Liebe vom „relativen Fehlen des Narzissmus abhängig“, was „die Entwicklung von Demut, Objektivität und Vernunft“ erfordert. In unserer juvenilen Ego- und Fitnesskultur jedoch ist gerade der narzisstisch exhibitionistische zum dominanten Persönlichkeitstyp geworden, wie die Sozialpsychologen heute übereinstimmend konstatieren. Sehen und gesehen werden, lautet die Maxime: auf dem Produkt - wie auf dem Persönlichkeitsmarkt. Der Tanz ums goldene Selbst und reife Liebesbeziehungen, die auch Fürsorge und Verantwortlichkeit für den anderen implizieren, schließen jedoch einander aus. Die massenhafte narzisstische Persönlichkeitsmodellierung wird durch entsprechende Leitbilder einer multimedialen PR- und Verkaufsmaschine pausenlos verstärkt und gefördert. Die Menschen folgen vielmehr medialen Abziehbilder, die der heutigen Jugend als bewunderungswürdig und als Vorbild hingestellt werden - ob Models oder TV-Moderatoren, Film- oder Tennisstars, Formel 1-Gewinner oder Bodybuilder, Top-Manager oder Firmengründer auf dem Neuen Markt - sind alles andere als Träger bedeutender menschlicher und seelischer Qualitäten wie persönliche Integrität, Mut, Zivilcourage, soziale Kompetenz oder Bildung (im Sinne nicht des Expertentums, sondern einer umfassenden geistigen Formation verstanden). Ihre hauptsächliche Qualifikation besteht darin, dass es ihnen gelungen ist, bekannt oder berühmt zu werden. Überhaupt droht einer Kultur der Niedergang, die statt menschlichen Haltungen und Werten, nur noch Informationen, Updates und fragmentiertes Wissen ohne geschichtlichen Kontext und ethischen Bezugsrahmen vermittelt. Zu den selten erwähnten Spesen des frenetisch gefeierten Zeitalters der Informationstechnologien gehört ein sekundärer Analphabetismus der ganz neuen Art. Der Verlust kritischer Reflexions- und Diskursfähigkeit sowie von Geschichtsbewusstsein in der mit und durch Computer sozialisierten Generation ist heute schon alarmierend. Hinzu kommt der signifikante Schwund von sozialer Kompetenz. Kein Wunder, dass das Interesse an der Realität, auch an der sozialen, mehr und mehr abnimmt, wenn die bunten computergenerierten Abbilder der Welt jederzeit per Mausklick in die Wohnstube gezaubert werden können und eine riesige Wachstumsbranche und Werbemaschinerie dem Benutzer Tag für Tag suggeriert, dass nicht nur alles in der Welt im World Wide Web zu finden, sondern dass die Welt im Grunde nur verwertbarer Rohstoff für die simulierte Welt des www ist.

 

Wo aber die Wirklichkeit derart entwirklicht und durch ihre digitalisierten Abbilder gleichsam außer Konkurrenz gesetzt wird, wird auch das Denken mehr und mehr von der binären Logik des 0 oder 1 geprägt. Am Ende dieser Entwicklung könnte ein Denken stehen, das gesellschaftliche, historische, politische, menschliche, psychologische und künstlerische Fragen nicht mehr in ihren Widersprüchen, sondern nur noch in simplen Alternativen und dualistischen Kategorien zu diskutieren und aufzufassen vermag: Null oder eins, in oder out; der alte christliche Dualismus von Gut und Böse mutierte ja schon längst im heutigen Jugendjargon zum „geil“ oder „nicht geil“. Etwas dazwischen, gar etwas Drittes, gibt es kaum noch. Vielleicht wird uns das digitale Zeitalter, neben all der Zeitersparnis und dem Komfort, den es dem Benutzer zweifelsohne bietet, eine neue scholastische Kultur des Tertium non datur bescheren, in der für dialektische Denk- und Wahrnehmungsprozesse, d.i. die Sozietät und die Individuen in ihren Widersprüchen zu erkennen, überhaupt für Differenzierungen jenseits der binären Logik kein Platz mehr ist. Einer Kultur aber, die sich nicht scheut, auch die persönlichen Vermittler von Wissen, Werten und menschlichen (Grund)Haltungen, als da sind (oder waren): Eltern, Lehrer, Erzieher, Ausbilder, Professoren, geistige Mentoren aller Art, durch entsprechende Software- und Lern-Programme zu ersetzen, droht nicht nur der Niedergang, sondern das Aus. Dies hat Erich Fromm, schon lange vor dem EDV- und Telekommunikations- Zeitalter, sehr deutlich erkannt: „Sollte es uns nicht gelingen, die Vision eines reifen Lebens lebendig zu halten, dann stehen wir allerdings der Wahrscheinlichkeit gegenüber, dass unsere gesamte kulturelle Tradition eines Tages zusammenbrechen wird. Diese Tradition beruht nicht in erster Linie auf der Übermittlung gewisser Ideen und Kenntnisse, sondern auf der von menschlichen Haltungen. Wenn die kommenden Generationen diese menschliche Realität nicht mehr erleben können, wird eine fünftausend-jährige Kultur zusammenbrechen, auch wenn ihr Wissen weiterhin übermittelt und weiterentwickelt wird.“ Keine guten Aussichten - weder für die Kultur der Liebe noch für die Kultur insgesamt.

 

© Text: Michael Schneider, zuerst gesendet im Deutschlandradio; Foto: ders.

Anlässlich eines zweimonatigen Stipendium des Hessischen Literaturrates hielt sich Michael Schneider 2008 in Prag auf. Am 04.04. feierte er seinen siebzigsten Geburtstag.

 

Werke

Neurose und Klassenkampf, Reinbek bei Hamburg 1973Die lange Wut zum langen Marsch, Reinbek bei Hamburg 1975

Das Spiegelkabinett, München 1980

Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke, Darmstadt [u.a.] 1981

Das Gespenst der Apokalypse und die Lebemänner des Untergangs, Frankfurt am Main 1984

Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, Köln 1984

Die Wiedergutmachung oder Wie man einen verlorenen Krieg gewinnt, Köln 1985

Die Traumfalle, Köln 1987

Iwan der Deutsche, Frankfurt am Main 1989 (zusammen mit Rady Fish)

 

Das "Unternehmen Barbarossa", Frankfurt am Main 1989

Die abgetriebene Revolution, Berlin 1990

Das Ende eines Jahrhundertmythos, Köln 1992

Der Traum der Vernunft, Köln 2001

Vor dem Dreh kommt das Buch, Gerlingen 2001

Das Geheimnis des Cagliostro, Köln 2008, ISBN: 978-3-462-03763-0



Weitere Informationen: www.michael-schneider-schriftsteller.de




Erich Fromm, *23. März 1900 in Frankfurt am Main; gest.18. März 1980 in Muralto, Schweiz) war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe.

Werke

Gesamtausgabe in 12 Bänden, DVA 2000. ISBN 3-421-05280-8. Taschenbuchausgabe: dtv 1999. ISBN 3-423-59043-2

Das jüdische Gesetz. Ein Beitrag zur Soziologie des Diaspora-Judentums., Promotion, 1922. ISBN 3-453-09896-X

Über Methode und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie. Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 1, 1932, S. 28-54.

Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie. Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 1, 1932, S. 253-277.

Sozialpsychologischer Teil. In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Alcan, Paris 1936, S. 77-135.

Zweite Abteilung: Erhebungen (Erich Fromm u.a.). In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Alcan, Paris 1936, S. 229-469.

Zum Gefühl der Ohnmacht, in 'Zeitschrift für Sozialforschung 6' 1937.

Die Furcht vor der Freiheit, 1941 (engl. Original: Escape from Freedom). ISBN 3-423-35024-5

Psychoanalyse & Ethik, 1946. ISBN 3-423-35011-3

Psychoanalyse & Religion, 1949. ISBN 3-423-34105-X (The Dwight H. Terry Lectureship 1949/1950)

Wege aus einer kranken Gesellschaft (ursprünglicher dt. Titel: Der moderne Mensch und seine Zukunft), 1955. ISBN 3-423-34007-X (englischer Originaltitel: The Sane Society Holt, Rinehart and Winston, New York NY 1955)

Die Kunst des Liebens, 1956. ISBN 3-423-36102-6

Jenseits der Illusionen, Die Bedeutung von Marx und Freud, 1962

Ihr werdet sein wie Gott, 1966. ISBN 3-499-17332-8

Die Revolution der Hoffnung. Für eine humanisierte Technik, 1968. ISBN 3-12-902690-8

Zen-Buddhismus und Psychoanalyse (mit Daisetz Teitaro Suzuki, Richard de Martino) 1971. ISBN 3-518-36537-1

Anatomie der menschlichen Destruktivität, 1974. ISBN 3-499-17052-3

Die Bedeutung des Ehrwürdigen Nyânaponika Mahâthera für die westliche Welt, in: K. Onken (Hrsg.): Des Geistes Gleichmaß. Festschrift zum 75. Geburtstag., 1976, S. 35–38. ISBN 3-931095-48-7

Sigmund Freuds Psychoanalyse-Größe und Grenzen, 1979; dtv Sachbuch 1711 ISBN 3-423-01711-2

Haben oder Sein, 1976. ISBN 3-423-36103-4

Vom Haben zum Sein, Ullstein, 2005. ISBN 3-548-36775-5

Den Menschen verstehen. Psychoanalyse und Ethik, dtv, 2004. ISBN 3-423-34077-0

Märchen, Mythen, Träume, 1951, Rowohlt Taschenbuch, 2004, ISBN 3-499-17448-0

Ethik und Politik, 1990, Heyne Taschenbuch, 1996, ISBN 3-453-09897-8

Authentisch leben, Herder Verlag. ISBN 3-451-04839-6

Die Seele des Menschen, Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen, Ullstein Materialien

Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung (Bearbeitet und hrsg. von Wolfgang Bonß). Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1980. ISBN 3-423-04409-8

Rainer Funk (Hrsg.): Gesamtausgabe, 12 Bände, 1999. ISBN 3-423-59043-2

Rainer Funk: Die Pathologie der Normalität, 2005. ISBN 3-548-36778-X

Kurt Biedenkopf, Ralf Dahrendorf, Erich Fromm, Maik Hosang (Hg.), Petra Kelly u.a.: Klimawandel und Grundeinkommen. Die nicht zufällige Gleichzeitigkeit beider Themen und ein sozialökologisches Experiment, Andreas Mascha Verlag, München 2008, ISBN 978-3-924404-73-4

Liebe, Sexualität und Matriarchat - Beiträge zur Geschlechterfrage; Taschenbuch; DTV Deutscher Taschenbuch

Es geht um den Menschen. Eine Untersuchung der Tatsachen und Illusionen in der Außenpolitik, Stuttgart 1981; Goldmann Sachbuch 11337 ISBN 3-442-11337-7

Aggression. Warum ist der Mensch destruktiv?, Centaurus Verlag, Freiburg 2012, ISBN 978-3-86226-175-8


05IV2013

 

 



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