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Hans Natonek

 

Die Pass-Stunde











Ich träumte: Ich saß in der Schule der Emigration. Wir hatten gerade Pass-Stunde. Die Bank war hart, härter als Schulbänke sonst sind, der Lehrer war streng und unfreundlich, und die Prüfung dauerte lang und war schwer.


„Schüler Natonek, bilden Sie einen Satz, in dem das Wort ‚Pass’ viermal vorkommt!“


„Ich habe den Pass ohne Pass überschritten, nur mit einem Lauf-Pass in der Tasche; und da begann der Passions-Weg.“


„Nennen Sie mir den Plural von ‚Visum’!“


Haha, als ob ich mich so hereinlegen lasse...

„Einen Plural von ‚Visum’ gibt es gar nicht, Herr Professor. ‚Visum’ ist ein Singularetantum. Aber nicht einmal den Singular gibt es. Ich habe es schwarz auf weiß von allen Konsulaten: ‚Es gibt kein Visum.’“


Dann verlangte der Professor, ich solle eine kleine Redeübung über den Pass in freier Themenwahl extemporieren. Ich wählte das Thema „Ich blättere in meinem Pass“.


„Als ich zur Welt kam, brauchte ich keinen Pass; die entscheidenden Grenzübertritte vollziehen sich ohne ihn. Unbestreitbar kam ich in Prag als Mensch zur Welt, in eine noch menschliche Welt, in der ein Pass noch kein Problem war. Im Wandel meines Passes spiegelt sich die Weltgeschichte auf eine persönliche Art. Er ist gleichsam ein Miniaturroman, ein Groschenheft der großen Politik, die Odyssee heutigen Lebens mit vielen Stempeln, Devisenbescheinigungen und Aufenthaltsgenehmigungen. Es ist nicht ein Pass, es sind viele Pässe, in denen ich blättere; in ihnen ist der Zerfall und Irrsinn der Zeit.


Nacheinander besaß ich: einen österreichischen Pass von Geburt, einen tschechoslowakischen, als Prag die Hauptstadt der tschechoslowakischen Republik wurde, einen reichsdeutschen durch Naturalisierung in der Weimarer Republik, einen staatenlosen durch Ausbürgerung und wieder einen tschechoslowakischen, heimgekehrt in meine Vaterstadt und aufgenommen vom Staate Masaryks. Nie werde ich den Tag vergessen, als ich den Eid auf die Verfassung der tschechoslowakischen Republik leistete. Nicht ich habe ihn gebrochen. Es war ein großer Augenblick. Ein Traum vieler Nächte ging in Erfüllung. Ein Staat, ein menschlicher, ein Heimatstaat nahm den Verlorenen wieder auf. Ich drückte den funkelnagelneuen Pass mit dem tschechoslowakischen Löwen ans Herz. Ich war stolz und froh. Das war mehr als ein Papier, es war eine Heimkehr.


Dann nahm der Beamte lächelnd den grauen Staatenlosenpass, legte ihn unter eine Lochmaschine und durchbohrte ihn. Es war, als ob er ihn hinrichtete. Er war grau wie die Heimatlosigkeit und trug einen schwarzen Querstreifen, der besagte: ‚Achtung, Barriere!’ – ‚Was sind Sie?’ – ‚Pardon, ein Mensch!’ ‚Zurück! Gesperrt!’


Ich blättere im grauen Staatenlosenpass vom Berliner Alexanderplatz.


Auf seiner letzten Seite ist ein Hakenkreuz-Stempel: ‚Ausgewandert’.

 

 


© Die Straße des Verrats, Publizistik, Briefe und ein Roman, Berlin 1982, Erstveröffentlichung: Pariser Tageszeitung, 1. Mai 1939


Empfehlenswert: Steffi Böttger: Für immer fremd. Das Leben des jüdischen Schriftstellers Hans Natonek. Lehmstedt Verlag, Leipzig, 2013




s.a. Geteilte Geschichte 



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