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Die verklärte Stunde Null

von Katja Schickel

 

 

 

 

 

Keith Lowe – Der wilde Kontinent.
Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950
Originaltitel: Savage Continent.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt
526 Seiten, geb., s/w-Abbildungen, Klett Cotta, 2014
26,95 €, ISBN 978-3-608-94858-5

 

 







Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit kennen

 


 

„Dieser Krieg ließ Europa nicht nur trauernd, sondern verstört zurück“.

Wer trotz aller bisher verfügbaren historischen Forschung und Zeitzeugen-Aussagen immer noch dem Märchen einer friedlichen Stunde Null anhängt, wird über Keith Lowes Studie besonders erschreckt sein, denn sie zeigt zum ersten Mal das komplexe Geschehen im Europa der Jahre 1943 – 1950, d.h. die durch die Nazis entfachte Gewaltdynamik auf dem Kontinent, die noch bis in die Nachkriegszeit hinein wirkt und zu weiteren Gräueltaten führt: ethnische Säuberungen, Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten hören nicht auf, die Neugestaltung europäischer Länder mittels Bürgerkriegen stärken den Nationalismus. Es wütet das Recht des Stärkeren, es glüht der Hass. Aufeinander. Untereinander. Das Teile-und-herrsche-Prinzip siegt noch immer. Alle, die das Geschehen protokollieren und dokumentieren, sind entsetzt über das Ausmaß des Grauens, dessen sie gewahr werden, vor allem in den befreiten Konzentrations- und Vernichtungslagern. Sie glauben nicht an einen Wiederaufbau; jenseits der zerstörten Gebäude und Leichenberge sind für sie alle die humanen Werte, das Denken und die Seele Europas getötet worden. (s.a. Lee Miller – Krieg, Lee Miller-Penrose). 

 

Das Buch widmet sich in vier Kapitel, die man jeweils für sich lesen kann, dem Erbe des Krieges, der Rache, den ethnischen Säuberungen und den Bürgerkriegen im Nachkriegseuropa. Rache ist zunächst ein Akt der Selbstermächtigung gegen Unterdrücker und Peiniger, der aber einer zivilisierten Rechtsordnung widerspricht, weil er das Gewaltmonopol des Staates negiert. In patriarchalen archaischen Gesellschaften dagegen ist Rache ein legitimes Mittel, den sozialen Frieden oder die patriarchale Ordnung wiederherzustellen. Im Europa der sog. Stunde Null, das durch deutsche Besatzung, durch Konzentrations- und Vernichtungslager, durch Zwangsarbeit gezeichnet ist, wendet sich die Rache an die direkten Peiniger und Bewacher, die Wehrmachtssoldaten und die SS und ihre willigen Helfer. In allen besetzten Ländern haben die Nazi-Deutschen Hierarchien etabliert, die nun gewaltsam zerstört werden sollen. Die Gewalt richtet sich deshalb auch gegen die, die den Nazis zu Diensten waren, die mit ihnen kollaboriert haben (sollen). In Zwangsgesellschaften richtet sich der Hass häufig gegen Menschen in allernächster Nähe, die vermeintlich oder tatsächlich mit Privilegien ausgestattet sind, ein Rädchen zwar nur im Getriebe, das aber nur so funktioniert. Rache dient auch der Wiederherstellung des eigenen früheren Status, um mit Nachdruck, durchaus auch mit blutigem, die Rechtmäßigkeit der individuellen, ethnischen oder nationalen Ansprüche zu verdeutlichen. Oft sind sie ein Aufschrei gegen das Unrecht, das geschehen ist.

Das vielgestaltige Europa gibt es nicht mehr. Am deutschen Wesen sollte schließlich die Welt genesen, es hat sie unwiederbringlich zerstört. Das Vertrauen untereinander ist erodiert. Neue und alte Ressentiments füllen das Vakuum. Es gibt erschreckende Übergriffe auf Juden, die gerade noch dem Tod in der Gaskammer entkommen sind, in ihre alte Heimat wollen, die für sie keine Heimat mehr sein soll. Oder sie haben in ihren Dörfern und Städten Widerstand organisiert, sich Partisanenverbänden angeschlossen. Auch dort gibt es antisemitische Übergriffe. Sie sind nicht willkommen, werden bedroht und vertrieben, viele von ihnen auch getötet. Toleranz ist ein Fremdwort, wie auch Solidarität. In einer inhumanen Welt ist für Ethik und Moral kein Platz, verlernt man sie schnell, weil man überleben will. Der nationalsozialistische Terror hat Feinde im Inneren der besetzten Länder hervorgebracht, die sich nun gegenseitig bekämpfen. Man möchte keine multikulturelle Gesellschaft mehr sein, sondern ethnisch sauber voneinander getrennt leben. Die Nachkriegszeit führt häufig zu Ende, was die Nazi-Ideologie gewaltsam durchzusetzen versuchte. Wenn Keith Lowe noch ein bisschen weiter zurück in der Geschichte gegangen wäre, hätte er die Ursprünge der jeweiligen Auseinandersetzungen besser verstehen können. Nach dem 1. Weltkrieg werden, für die jeweilige Bevölkerung nicht einsichtig, Ländergrenzen neu gezogen, damit Menschen (Völker, Nationen, Kulturen, Sprachräume) voneinander getrennt, Konflikte erst kreiert, die später von den Nazi benutzt werden, um verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen, die sich im Krieg und danach als Feinde und Mörder gegenüberstehen. Die drei Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 machen aus dem kleinen, historisch unbedeutenden Preußen ein vergrößertes Zünglein an der Waage im Hegemonie-Streit zwischen Russland und Österreich-Ungarn. Es „erhält“ (wir würden es heute Annexion nennen!) dafür Teile des Groß-Königreiches Polen-Litauen, die sog. deutschen Ost-Gebiete, was dazu führt, dass bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 kein eigenständiger polnischer Nationalstaat mehr auf der Karte Europas steht. Für alle Konflikte, die sich aus diesem gewaltsamen Auseinanderreißen bereits in den Zwischenkriegszeiten, aber vor allem im Nachkrieg ergeben, muss man diese Vorgeschichte kennen.

 

Die Schreckensgeschichte Europas

ist mit der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten nicht vorbei. Es beginnt sich schon damals abzuzeichnen, dass weder „die Menschheit“, noch wenigstens „die Europäer“ oder zumindest „die Deutschen“ irgend etwas gelernt haben. Sie machen erst einmal weiter. Zimperlich geht es in Kriegen ja nie zu, aber die Nazis hinterlassen ein europaweites Ruinenfeld und Schlachthaus, sämtliche Normen des Miteinanders (zwischen Staaten, Institutionen und Individuen) sind zerstört, Leben millionenfach ausgelöscht. Die Vorgeschichte dieser im Kalten Krieg nachträglich verklärten Stunde Null zeigt, dass die dünne Decke der Zivilisation an entscheidenden Stellen gerissen ist, dort, wo die Deutschen überall wüten, wohin sie auf ihren Feldzügen kommen, was sie gerade besetzt und annektiert haben. Wer unter den heutigen Deutschen IS grauenerregend und widerlich findet (und das ist er), sollte sich – um weniger heuchlerisch zu wirken – die Gräueltaten der eigenen Vorfahren vor Augen führen; es gibt dazu jede Menge Bücher, Bilder, Filme. Gerade die Mitwirkenden an so manchem brutalen Geschehen machen, beispielsweise direkt nach Erschießungen, schon damals stolz ihre lachenden Selfies vor einem Hintergrund, der Massengräber, Galgen und Tote zeigt, schicken sie heim ins Reich zu ihren Liebsten oder bewahren sie heimlich auf. Sie sind Vor-Bilder für so manches Massaker, manche Belagerung, manche Brandschatzung geworden, manchmal lediglich deshalb, weil sie die bloße Möglichkeit ihrer Durchführung aufgezeigt haben, weil sie Recht gebrochen, die menschliche Verrohung vorangebracht und die Grenzen des Machbaren und Erträglichen ins scheinbar Unendliche verschoben haben mit insgesamt verheerende Folgen, die bis heute noch wirksam sind. Überspitzt könnte man sagen, Nazis, Wehrmacht und SS sind später oft kopiert, aber in Größenordnung, Breiten- und Tiefenwirkung nie erreicht worden. Man kann nicht auf Dauer das Original nicht beachten, sogar vergessen wollen, und sich doch ständig ein Urteil in der Gegenwart erlauben. (Manche wollen es heute – militärisch zumindest – sogar noch toppen).

 

Wie Opfer gemacht werden,

wie Täter weiter Täter bleiben, aber eben auch aus Opfern Täter werden können, ist ein wichtiger Aspekt des Buches. Es geht immer wieder auch um Rache und Vergeltung und deren Eigendynamik, und immer ist es eine Frage der Perspektive: „Die Rache des einen ist die Gerechtigkeit des anderen. Während die Sudetendeutschen sich an ihre Vertreibung aus den tschechischen Grenzregionen als einer Zeit der Gräuel erinnern, gedenken die Tschechen dieses Ereignisses als einer Zeit, in der historisches Unrecht endlich gutgemacht wurde. Während einige polnische Ukrainer den Rechtfertigungen der Operation Vistula in der liberalen Presse Beifall spenden, sehen einige ukrainische Polen in ihnen einen nationalen Verrat. Und während die Briten den Lancaster-Bomber als ein Symbol des Nationalstolzes in Ehren halten, sehen viele Deutsche darin nur ein Symbol wahlloser Zerstörung.“ Die Stunde Null war nach Lowe eine in Europa rund sieben Jahre dauernde chaotische, gesetzlose Zeit voller Anarchie, Rechtsbrüche (in tatsächlich oder vermeintlich rechtloser Zeit der entweder besetzten oder anderweitig verstrickten Länder) und Gewalt, die Keith Lowe präzise – also manchmal schwer erträglich (aber man sollte sich dem aussetzen) – und vorurteilsfrei nachzeichnet, d.h. nicht bewertet – was das Gegenteil von einem billigenden „Anything goes“ ist, der einen oder anderen „Seite“ aber weh tun wird. Er zerschlägt den Mythos des friedlichen Übergangs, zeigt die Konflikte in der notwendigen Tiefe, die mit Landgewinn und -verlust und neuen Grenzziehungen zu tun haben, den Umgang mit Minderheiten in manchmal neuen Mehrheitsgesellschaften meinen und die Verschärfung der Politik durch konträre ideologische Ausrichtungen im Kalten Krieg. Er fragt nach dem Ursprung der jeweiligen Brutalität, Rache und Vergeltungsmaßnahmen, nach den Erfahrungen, die zu den spezifischen Geschehen führten, er rechtfertigt sie nicht.

 

Noch bevor im Frühjahr 1945 die Stunde Null schlägt,

sind Millionen Menschen unterwegs in Europa, auf der Flucht, mit ihren diversen Herkünften und Ausgangspunkten, mit klaren Zielen vor Augen oder ziellos umherirrend, auch in der Menge vereinzelt und einsam geworden durch ihre Gewalterfahrungen: Überlebende Jüdinnen und Juden aus den Lagern, POW´s, ehemalige ZwangsarbeiterInnen, bereits vor 1945 (schon einmal) Vertriebene, besitzlos Gewordene, Staatenlose. Freiheit und Frieden haben sie schon lange nicht mehr kennengelernt bzw. selbst erlebt, weswegen sich einige weder freundlich noch friedfertig fühlen und verhalten. Menschlichkeit und Empathie kennen sie nicht (mehr), in vielen von ihnen ist häufig nur eine explosive Mischung aus diffuser Leere – unendlicher Trauer, Wut und Zorn.

Es wimmelt in Deutschland vor Fremdarbeitern, acht Millionen Zwangsarbeiter sind unterwegs. Allein in West-Deutschland betreut die UNRRA in den folgenden Jahren mehr als 6,5 Mio. Verschleppte, die repatriiert werden müssen, die meisten aus der Sowjetunion, aus Polen und Frankreich – aber auch aus Italien, Belgien, Jugoslawen, den Niederlanden und der Tschechoslowakei. Ein großer Teil dieser Displaced Persons (DP`s) sind Frauen und Kinder, die wie Kriegsbeute behandelt und versklavt worden sind.

 

Wer ist noch unterwegs?

Millionen von Deutschen innerhalb ihres Landes, rund 4,8 Mio. Binnenflüchtlinge, die während der Bombardierungen in Sicherheit gebracht worden sind; vier Millionen Deutsche aus den östlichen Territorien, die vor der Roten Armee flüchten; 275-300.000 britische und US-amerikanische Kriegsgefangene – rund siebzehn Millionen Heimatlose sind allein in Deutschland unterwegs. Millionen befreiter Sklaven strömen aus den Fabriken, Gruben und Höfen und sind ebenfalls auf den Straßen – eine Völkerwanderung ohnegleichen und ein weiterer Beweis für die Schuld Deutschlands.

Die „Einheimischen“ fühlen sich bedroht von den Flüchtlingen, den Fremden, den „Wilden“, die plündern und stehlen oder denen man zumindest den Vorsatz unterstellt. Es herrscht Hass und Feindschaft, Nationalismus und Antisemitismus blühen weiter in Deutschland und Europa.

Funktionierende Institutionen existieren nicht mehr, Lowe meint, es herrsche Chaos. Aber Recht und Ordnung sind bereits mit der einmarschierenden Deutschen Wehrmacht in andere europäische Länder beseitigt worden, nicht erst als die Deutschen besiegt sind. Sie haben Krieg, Zerstörung und Gewalt im Gepäck, sie sind keine Saubermänner, wie eine weichgezeichnete deutsche Geschichtsschreibung und ein in der Bevölkerung missbrauchtes Narrativ bis heute 'weismachen' wollen. Das wichtigste Gesetz der Nazis ist das Standrecht, Erschießungen sind an der Tagesordnung, Deportationen in die Lager, Willkür.

 

Der Krieg ist nicht vorbei,

bloß weil Hitler besiegt ist. Er endet in den verschiedenen Regionen Europas zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Sizilien und Italien ist er praktisch schon 1943 vorbei, in Frankreich ein Jahr später. In Jugoslawien dagegen kämpfen Titos Truppen bis zum 15. Mai 1945 gegen deutsche Einheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS.

In Griechenland, Jugoslawien und Polen toben die durch die Interventionen Hitler-Deutschlands ausgelösten Bürgerkriege noch mehrere Jahre, nachdem der „große Konflikt“ in Europa beendet ist. In der Ukraine und im Baltikum setzen nationalistische Partisanen ihren Kampf gegen sowjetische Gruppen bis in die 1950er Jahre fort, Konflikte entstehen, die – wie wir heute wissen – nicht gelöst worden sind. Manche Polen sind sogar der Ansicht, der 2.Weltkrieg sei erst seit 1989 beendet, als der letzte sowjetische Panzer das Land verließ. Vielleicht nicht so stark ausgeprägt ist diese Einschätzung in allen ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten präsent.

Der Kalte Krieg als permanenter Konflikt zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR, zwischen Ost- und West-Europa, nationale Erhebungen gegen die sowjetische Hegemonie und Besatzung macht die sog. Nachkriegszeit nicht sicher, es herrscht alles andere als der oft postulierte „stabile Frieden“. Befreiung bedeutet für diese Länder nicht Freiheit, sondern neue Unterdrückung.

 

Die Stunde Null

Man findet keinen „reinen Tisch“ vor, man macht ihn. Tabula rasa. Gegner und Feinde gibt es genug und aus den unterschiedlichsten Gründen. Das Ende des Krieges löst Wellen der Rache, Vergeltung und der Umverteilung aus, die sämtliche Bereiche des europäischen Lebens erfassen. Staaten verlieren, wie nach dem 1. Weltkrieg, Gebiete und Vermögen; in Verwaltungen und Institutionen finden Säuberungen statt; ganze Gemeinschaften sehen sich dem Terror ausgesetzt, weil man sie kollektiv für die Untaten während des Krieges verantwortlich macht; Zivilisten werden oft Opfer grausamer Rache. In ganz Europa werden Deutsche misshandelt, verhaftet, versklavt oder einfach ermordet, Millionen von deutschen, ungarischen und österreichischen Frauen werden vergewaltigt. Bis heute taucht in den Geschichtsbüchern nur die von russischen Soldaten verübte Gewalt gegen Frauen auf, aber auch die West-Alliierten sind nicht zimperlich. In einer patriarchalen Welt gehören Frauen und Mädchen selbstverständlich zur Kriegsbeute der siegenden Soldateska; oft sind es die eigenen Ehemänner, Brüder, andere Verwandte oder Freunde, die den Siegern „ihre“ Frauen anbieten. Prostitution ist ein beliebter, blühender Geschäftszweig, die viele Frauen auch selbständig betreiben, um sich und ihre Familien zu versorgen. In den 1950er Jahren wird diese Kapitel der europäischen Geschichte geschlossen, die Frauen reden nicht darüber. Gewalt gegen Frauen ist kein Thema, dem „man“ Bedeutung beimisst.

„Statt reinen Tisch zu machen“, schreibt der Autor, wird „nach dem Krieg lediglich das Ressentiment zwischen ethnischen Gruppen und Nationen vertieft, und oft schwelt diese Feindschaft noch heute.“ Es beginnt eben keine neue Ära der ethnischen Harmonie, manchmal verschärfen sich die Spannungen zwischen den Volksgruppen noch, vor allem die Juden werden nach wie vor verfolgt.

Überall richtet sich die nationalistische Politik gegen Minderheiten, und manchmal führt der so geschürte Hass zu Gräueltaten, „die nicht weniger abscheulich [sind] als die der Nationalsozialisten.“ Dennoch ist es wichtig, den jeweiligen Referenzrahmen zu sehen. Die verschiedenen Gruppen werden kategorisiert und voneinander getrennt. Von 1945 bis 1947 werden mehrere Millionen aus ihren Heimatländern vertrieben. „Diese ethnischen Säuberungen, zählen zu den größten der Geschichte.“ Darüber sprechen die Bewunderer des „europäischen Wunders“ nur selten, weil die wenigsten verstehen, was damals wirklich geschieht. Selbst diejenigen, denen etwa die Vertreibung der Deutschen bekannt ist, wissen wenig oder gar nichts über ähnliche Schicksale anderer Minderheiten in Osteuropa.

 

„Die kulturelle Vielfalt, die Europa vor und sogar noch während des Krieges ausgezeichnet hatte, wurde erst endgültig zerstört, als der Krieg schon beendet war.“

 

So wie sich das Ende des Krieges über Jahre hinzieht, dauert es auch lange, bis der eigentliche Wiederaufbau in Gang kommt. Der tägliche Überlebenskampf hindert, „die Fundamente der Gesellschaft zu reparieren.“ Alle sind hungrig, gezeichnet vom Verlust und verbittert nach den Jahren des Leidens. Bevor man sie bewegen kann, mit dem Wiederaufbau zu beginnen, „brauchen sie Zeit, um ihrer Wut Luft zu machen, nachzudenken und zu trauern.“ Im Lauf von sechs Jahren der „organisierten Grausamkeit“ vermeidet man den Kontakt zu öffentlichen Einrichtungen. In den von Deutschen besetzten Ländern misstraut man den eigenen Institutionen und Gremien, die während des Krieges versagten, im Großdeutschen Reich gelten sie nicht mehr. Wo alliierte Militärverwaltungen, die UN oder das Rote Kreuz fehlen, herrscht Chaos. In den ersten Nachkriegsjahren herrsche in Europa nicht Wiederaufbaustimmung, sondern Abstieg in die Anarchie, schreibt Lowe, als sei die oktroyierte neue deutsche Ordnung über Europa nicht selbst schon eine Form der Anarchie und Chaos gewesen.

 

Ausmaß der im 2. Weltkrieg angerichteten Verheerungen

– beim Vorstoß deutscher Truppen und bei ihrem Rückzug

In Deutschland, Polen, Jugoslawien und der Ukraine wird innerhalb weniger Jahre ein Jahrtausend kultureller und architektonischer Leistungen ausgelöscht (in den 1990er Jahren Jugoslawien, danach Afghanistan, Irak, heute IS, auch die haben gelernt...)

 

Blitz“ in Groß-Britannien: 202.000 Häuser werden zerstört, 4,5 Mio. beschädigt – in dem Industriestädtchen Clydebank bei Glasgow bleiben von 12.000 Häusern nur acht unbeschädigt.

Die Bombardements zwischen Alliierten und Wehrmacht richten schlimmste Schäden in Belgien und Frankreich an (s.a. Lee Miller berichtete darüber und fotografierte die zerstörten Orte und Landschaften).

In Frankreich werden 460.000 Gebäude zerstört, 1,9 Mio. beschädigt. Im Osten ist es noch schlimmer: In Budapest sind 84 % der Gebäude beschädigt, 30% vollkommen unbewohnbar; 80 % der Gebäude in Minsk (Weißrussland) sind zerstört, von 332 Industriebetrieben überstehen nur neunzehn den Krieg – und nur deshalb, weil die Rote Armee die hinterlassenen deutschen Minen rechtzeitig entschärfen kann. Kiew wird 1941 beim Rückzug von den Russen vermint, die meisten Gebäude sind zerstört, als sie 1944 wiederkommen; Charkiv finden sie komplett zerstört vor, Rostow am Don und Woronesch sind „zu nahezu 100 % zerstört“.

 

„In der Sowjetunion [sind] rund 1.7000 Städte und Ortschaften total verwüstet; allein in der Ukraine 714.“ Stalingrad besteht nur noch aus „Mauerresten, Hüllen halb zerstörter Gebäude, Schuttbergen und Kaminen.“ In Sewastopol steht kaum ein Haus. „Unbeschreiblich traurig“ nannte Wassili Grossmann den Anblick, man sieht nur die ausgebrannten Gerippe von Wohnblocks.

 

Die Reise in die Trümmer

führt nach dem Krieg durch verwüstete Landschaften, man kommt von einer zerstörten Stadt in die nächste. Allerdings hält sich bis heute nur ein regional verengter Blick auf den Schrecken.

Im Herzen dieses kaputten Kontinents liegt das zerbombte Deutschland: bei britischen und US-amerikanischen Luftangriffen werden 3,6 Mio. Wohnungen zerstört, ein Fünftel des gesamten Wohnraums, Berlin verliert bis zu 50% seine Wohnraums, „nichts als Schutthaufen und Hausskelette“ notiert ein Zeitzeuge; in Hannover sind es 51,6 %, Hamburg 53,3 %, Duisburg 64 % und Köln etwa 70% der früheren Wohnsubstanz. Dresden erscheint „wie eine Mondlandschaft“, München ist fast vollkommen zerstört (wie z. B. Rotterdam, Warschau). Man geht allenthalben davon aus, dass es rund siebzig Jahre dauern wird, alles wiederherzustellen.

Zwischen 18-20 Mio. Deutsche verlieren das Dach über dem Kopf, in der Ukraine hausen zehn Mio. Obdachlose in Kellern, Ruinen und Erdlöchern. Es gibt kein fließendes Wasser, keine Heizung oder Strom. In Odessa versorgte man sich aus selbst gegrabenen Brunnen wenigstens mit Wasser. Die Bevölkerung der europäischen Städte „führt ein mittelalterliches Leben inmitten einer zusammengebrochenen Maschinerie des 20.Jahrhunderts“ (US-amerikanische Kriegsberichterstatterin Anne McCormack).

 

Die Deutschen wüten

auch auf dem Land, Bauernhöfe werden geplündert, niedergebrannt, geflutet, schließlich von den früheren Bewohnern aufgegeben.

Die süditalienischen Marschen werden beim Rückzug aus diesem Gebiet von deutschen Soldaten geflutet, dasselbe veranstalten sie in den Niederlanden: Sie fluten 219.000 Hektar Land, öffnen die Deiche und lassen Meerwasser einströmen. In Lappland zerstören sie die als Schutz vor der Winterkälte gebauten Unterkünfte, 80.000 Menschen werden zu Flüchtlingen. In Norwegen und Finnland verabschieden sich die Deutschen mit verminten Straßen, unterbrochenen Telefonleitungen und gesprengten Brücken.

Die Zerstörungswut ist umso grausamer, je weiter man man in die östlichen bzw. südöstlichen Regionen Europas kommt. Griechenland büßt unter der deutschen Besatzung ein Drittel seiner Wälder ein, mehr als eintausend Dörfer werden niedergebrannt und „entvölkert“; Jugoslawien verliert 24% der Obstgärten, 38% der Weingärten und etwa 60% seiner Viehbestände. Hinzu kommt die systematische Plünderung von Millionen Tonnen Getreide, Milch und Wolle, die den vollkommenen Ruin der jugoslawischen Landwirtschaft bedeutet. Am Schlimmsten wüten die Deutschen in der Sowjetunion: rund 70.000 Dörfer samt ihrer Gemeinschaften und der ländlichen Infrastruktur werden ausgelöscht, Land und Eigentum systematisch zerstört (verbrannte Erde). Die deutschen Besatzer schneiden breite Schneisen in die Wälder, um die Gefahr von Hinterhalten zu reduzieren.

Die Soldaten folgen dem sog. Nero-Befehl:

„Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“

Als die Lage der deutschen Truppen aussichtslos wird, weist Himmler die SS-Führung an, alles zu zerstören:

 

„Ich beauftrage Sie, mit allen Kräften mitzuwirken, daß […] kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene zurückbleiben... Der Gegner muß wirklich ein total verbranntes und zerstörtes Land vorfinden.“

 

Das bedeutet, dass ein großer Teil der landwirtschaftlichen Nutzflächen in der Ukraine und in Weißrussland zweimal angezündet werden. Mit den Feldern gehen unzählige Dörfer und Höfe in Flammen auf, in denen der Feind Zuflucht hätte finden können.

Industrieanlagen werden demontiert und nach Deutschland gebracht, allein in Ungarn sind es über fünfhundert Fabriken, mehr als 90% der verbliebenen Anlagen werden gezielt beschädigt und zerstört. Fast alle Kohlengruben werden geflutet oder zum Einsturz gebracht. In der Sowjetunion sind es etwa 32.000 Fabriken, mit denen so verfahren wird. Laut Reparationskommission verliert Jugoslawien Industrie-Anlagen im Wert von 9,4 Milliarden US-Dollar, d.h. ein Drittel seiner gesamten Industrie-Kapazität.

 

Verkehrsinfrastrukturen

In Holland werden 60% der Straßen, Bahnlinien und Kanäle zerstört, in Italien ein Drittel des Straßennetzes unbrauchbar gemacht. In Frankreich und Jugoslawien werden jeweils 77% der Lokomotiven und viele Waggons requiriert oder zerstört; in Polen ein Fünftel der Straßen, ein Drittel des Eisenbahnnetzes (rund 16.000 km), 85% des Eisenbahn-Inventars und 100% der zivilen Flugzeuge werden beschädigt oder abtransportiert. Norwegen verliert 50% der Ladekapazität seiner Handelsflotte, Griechenland fast Dreiviertel seiner Schiffe.

 

„Bei Kriegsende [gibt] es nur eine einzige vollkommen zuverlässige Fortbewegungsart: zu Fuß.“

 

Die Verwüstung Europas

geht weit über den Verlust seiner Bauten und seiner Infrastruktur, sogar über die Auslöschung von Jahrhunderten an Kultur und Architektur hinaus. Das wirklich Verstörende an den Ruinen ist, was sie symbolisieren. Die Schuttberge sind, wie es ein britischer Soldat ausdrückte, „ein Monument für die menschliche Fähigkeit zur Selbstzerstörung.“ Die Trümmer erinnern hunderte Millionen Menschen jeden Tag an die von den Deutschen entfachte Verwerflichkeit, die den Kontinent erfasst hat und daran, dass sie jederzeit wieder zum Vorschein kommen könnte. Die Ruinen haben buchstäblich und im übertragenen Sinne eine menschliche und moralische Katastrophe unter sich begraben. Ein Überlebender sagt, Europa sei ein Kontinent vollkommen bedeckt von menschlicher Asche (s. dazu auch: Albert Camus zur Krise)

 

Primo Levi, Auschwitz-Überlebender und italienischer Schriftsteller, notiert angesichts der Trümmer eines Armeestützpunktes in Slutsk bei Minsk, hier sei, wie in Auschwitz, „das Genie der Zerstörung, der Antischöpfung […] am Werk gewesen: die Mystik des Leeren, über jede Erfordernis des Krieges, jede Beutelust hinaus.“ In Wien sieht er „Wundbrand in den […] Eingeweiden Europas und der Welt, […] Same künftigen Unheils.“

 

Sterben

Der Krieg verlangt seinen „Blutzoll“: Beim sog. Hamburger Feuersturm gibt es rund 40.000 Tote, 'nur' 3% der Einwohner sind betroffen; insgesamt kostet dieser Krieg allerdings zwischen 35 Mio. bis 40 Mio. Menschen das Leben.

 

„So viele verloren das Leben, als wäre der Hamburger Feuersturm tausend Nächte lang wiederholt worden.“

 

Manchmal verweisen schon die Zahlen auf den Schrecken: In Groß-Britannien sterben rund 300.000 Menschen (etwa ein Drittel der Verluste im 1.Weltkrieg), in Frankreich zählt man mehr als eine halbe Million Tote, in den Niederlanden sind es 210.000, in Belgien 86.000, in Italien fast 310.000 Tote. In Deutschland liegt die Zahl bei 4,5 Mio. Soldaten und etwa 1,5 Mio. Zivilisten.

Aber auch hier erhöhen sich die Verluste, je weiter man in den Osten und Südosten Europas blickt: Griechenland hat – gemessen an der Einwohnerzahl von sieben Millionen vor Kriegsbeginn – mit 410.000 Toten hohe Verluste zu verzeichnen, etwa 6% der Bevölkerung sterben im Krieg. In Ungarn sind es mit 450.000 Kriegstoten etwa 5%. In Jugoslawien sterben mehr als eine Million Menschen, 6,3% der Gesamtbevölkerung, in den baltischen Staaten sind es bereits 8-9%. In Polen sterben sechs Millionen, ein Sechstel der Bevölkerung, die Sowjetunion verliert 27 Millionen Menschen. Jeder fünfte Ukrainer überlebt den Krieg nicht: das sind sieben bis acht Millionen Kriegstote. Die höchste Opferzahl weist Weißrussland auf: Ein Viertel der Bevölkerung wird ausgelöscht.

 

„Jeder Versuch, diese Zahlen zum Leben zu erwecken, ist zum Scheitern verurteilt. […] Die Opferzahlen bedeuten, dass während sechs langen Jahren alle fünf Sekunden ein Mensch getötet wurde.“

 

Europa ist ein von Toten bewohnter Ort, ein Land, „in dem man überall Abwesenheit spürt.“

Natürlich wird das Kriegsende gefeiert, in allen Ländern außer Deutschland, aber am Anfang ist Europa hauptsächlich ein Ort der Trauer, das Gefühl des Verlustes bestimmt das Klima. Es ist ein „Kontinent aus Asche“, wie es später ein überlebender Jude formuliert.

 

Das Verschwinden der Juden

Für die Juden sind die Verluste unbegreiflich, schwerwiegend und noch viel existenzieller. In den meisten Fällen gibt es gar keine Familie mehr, keine Angehörigen, Freunde, Bekannte. Der Unterschied zu den Anderen, die irgendwohin nach Hause kommen, besteht darin, dass die Einen diejenigen zählen, die sie verloren haben, die jüdischen Überlebenden jedoch nur die zählen können, die übriggeblieben sind. Nicht nur Familien, ganze Gemeinden sind vernichtet worden. In Polen und der Ukraine gibt es vor dem Krieg Dutzende von Städten mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil.

Im polnischen Wilno, dem heutigen litauischen Vilnius/Wilna, leben vor dem Krieg etwa 60-70.000 Juden in der Stadt, 1945 sind nicht einmal 10% der jüdischen Bevölkerung übrig. In Warschau ist bis 1939 ein Drittel der Bevölkerung jüdisch (393.905 jüdische Einwohner), 1945 findet die Rote Armee noch 220 jüdische Überlebende, später sind es nicht mehr als 5.500 Überlebende. In der ländlichen Umgebung von Minsk leben in der Vorkriegszeit 13% Juden, danach sind es nur noch 0,6%. In Wolhynien töten die Deutschen in kürzester Zeit 98,5% der jüdischen Bevölkerung: der Tod von 5.750 Juden und Jüdinnen ist zu beklagen. Die Deutschen beteiligen sich am schlimmsten systematischen Völkermord in der Menschheitsgeschichte, den sie 1945 sofort entweder ganz leugnen oder von dem sie nichts gewusst haben wollen, an dem niemand aktiv teilgenommen haben will.

 

Für die Überlebenden bedeuten die Verluste, dass niemand mehr da ist, dass nichts mehr da ist vom früheren Leben, nur Leere ist, überall; vor allem in Osteuropa gibt es nur noch verlassene, menschenleere jüdische Viertel und Regionen.

 

„Es herrscht Schweigen. Alles ist still. Ein ganzes Volk ist brutal ermordet worden“. Mit jedem einzelnen Leben wurden Erfahrung ausgelöscht, Traditionen, Lebensweisen, Sitten und Bräuche, „Trauergesänge, Freude und Bitternis des Lebens. Es wurden Heime und Friedhöfe zerstört. Das war der Tod einer Nation, die hunderte Jahre Seite an Seite mit den Ukrainern gelebt hatte“ schreibt Wassili Grossmann.

 

Von den Alliierten werden ca. 300.000 Juden und Jüdinnen aus den Lagern befreit. Rund 1,6 Millionen europäische Juden entgehen knapp dem Tod. In Dänemark, Italien, vor allem aber in Bulgarien, verhält sich ein Großteil der Bevölkerung, auch gegen massiven Druck der Deutschen, anständig zu ihren Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden.

„Als die SS die Deportation der 40.000 bulgarischen Juden verlangt, leisten der König, das Parlament, die Kirche, die Intellektuellen und die Bauernschaft Widerstand. Es [gibt] sogar Berichte darüber, dass sich bulgarische Bauern auf die Eisenbahngleise legen, um den Abtransport der Juden in Zügen zu verhindern. Die Folge [ist], dass Bulgarien das einzige europäische Land [ist], dessen jüdische Bevölkerung im 2.Weltkrieg sogar wuchs.“

Es gibt sie, die Oskar und Emilie Schindlers, Menschen, die Juden und Jüdinnen helfen, sie verstecken, insgesamt 21.700 Menschen dankt der israelische Staat für Hilfe und Schutz. (s.a. Inge DeutschkronZoni Weisz-27.01.11Marcel Reich-Ranicki)

 

Aber es gibt auch die Mittäter: In Kroatien bringt das Ustascha-Regime bei ethnischen Säuberungen ca. 592.000 Serben, Muslime und Juden um. Ukrainische Nationalisten töten nach der Ausrottung der Juden zehntausende Polen in Wolhynien. Bulgaren verüben in den eroberten Gebieten Massaker an Griechen, Ungarn töten in der Woiwodina Serben.

Unerwünschte ethnische Gruppen werden in einigen Regionen Europas aus ihren Heimatstädten und Dörfern vertrieben. Das geschieht bereits zu Kriegsbeginn in Zentral- und Osteuropa, bei Kriegsende machen die Deutschen die größte Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen aus. Sie flüchten oder werden aus der Tschechoslowakei, aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien vertrieben. Als diese Gebiete nach dem Krieg wieder an Polen fallen, bemerken einige die „unheimliche Abwesenheit von Leben“ in „Geisterstädten“ – vor allem diejenigen, die dorthin umgesiedelt werden, weil auch sie ihre Heimat verloren haben. Auch hier ist alles leer. In einigen ländlichen Gebieten scheint das Leben vollkommen abwesend.

 

Die demographische Gestalt Europas

hat sich in einem Zeitraum von nur sechs Jahren unwiederbringlich und vollständig verändert.

Die Bevölkerungsdichte Polens ist um 27% gesunken, einige Gebiete im Osten des Landes scheinen wie unbewohnt. Frühere ethnisch gemischte Länder sind so umfassend „gesäubert“ worden, dass sie tatsächlich nur noch eine einzige ethnische Gruppe beherbergen.

Zur Abwesenheit von Menschen kommt die Abwesenheit von Gemeinschaft, die Abwesenheit von Vielfalt: Weite Teile Europas sind vollkommen homogen geworden und dies wird in den ersten Monaten nach dem Krieg noch beschleunigt. Nach Massakern, denen ganze Gemeinden zum Opfer fallen, bleiben Landschaften zurück, die in den Augen von Fremden gespenstisch wirken. Aber noch verstörender ist diese Welt für die Wenigen, die inmitten dieser Leere zurückbleiben.

Oradour-sur-Glane, der Ort, in dem die Deutsche Wehrmacht sämtliche männlichen Bewohner tötete, die Frauen und Kinder in einer Kirche verbrannte, ist heute Gedenkstätte und eine Geisterstadt wie Lidice bei Prag. In vielen solcher Orte wurde das Leben wie mit einem Lichtschalter ausgeknipst, die Rückkehrenden finden nur die Leere wieder, einen Platz ohne Erinnerung. Zerstörung eines Ortes als Warnung an die Bevölkerung hat selten ihre psychologische Wirkung auf die Menschen verfehlt.

 

Europa ist ein Kontinent der Frauen,
ein Land ohne Männer, eine „vaterlose Gesellschaft“, voller Witwen und Waisen. Es sind Frauen, Kinder und alte Männern, die das Leben, das übrig geblieben ist, organisieren. Die Frauen haben die historische Chance auf 'Freiheit und Gleichheit' nicht genutzt. Sie halten das Leben überall aufrecht, versorgen ihre Familien mit dem Nötigsten, treiben Handel und beginnen mit dem Wiederaufbau. Mit der Rückkehr der Männer (Ehegatten, Väter, Onkel, Brüder) ändert sich dieses Leben, bzw. es wird so getan, als könne man dort fortfahren, wo man einst begonnen hat. Entfremdung führt oft zu Gewalt, aber auch die alte familiäre Ordnung will wiederhergestellt sein. Das Schweigen bleibt. Hinter der Zerstreuung, die geboten wird, versteckt sich in Deutschland „die Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich). Für viele heiratswillige, junge Frauen bedeutet die Nachkriegszeit aber erst einmal Ehelosigkeit. Ein Drittel der sowjetischen Frauen beispielsweise ist noch 1959 unverheiratet, weil es – wegen der vielen Kriegstoten – keine Männer gibt. 80% der Arbeitskräfte in den LPG´s sind in dieser Zeit Frauen.

 

Die Kinder wachsen ohne rigide Regeln auf; Kindheit bedeutet, das sie überall spielen, herumstreunen, sich zusammentun und durchaus auch die eine oder andere kriminelle Handlung begehen können. Viele von ihnen sind heimatlos und ohne Familie. In Italien beispielsweise gibt es rund 180.000 vagabundierende Kinder, Diebstahl, Bettelei und Prostitution gehören zu ihrem Alltag. Auf dem Land verstecken sich Kinder im Heu, in Ställen, viele sind halbverhungert; in der Slowakei und der Ukraine suchen sie in Wäldern Schutz.

In Berlin zählt man 1945 53.000 verlassene Kinder. In Polen gibt es über eine Million Kriegswaisen. Es fehlen die Eltern oder andere erwachsene Bezugspersonen. Man rechnet mit mindestens ebenso vielen in Deutschland. 1947 werden in der Britischen Besatzungszone 322.053 Kriegswaisen gezählt (aber als Kriegswaise gilt hier bereits, wenn nur ein Elternteil fehlt).

Kindheit in ungeordneten Verhältnissen hat auf den ersten Blick natürlich auch Vorteile: Man wächst ohne viel Kontrolle auf, die Trümmerlandschaften sind Abenteuerspielplätze, ebenso wie militärisches Gerät und sogar Minenfelder. Man erfährt in solch einer Kindheit aber auch, dass die „Welt ein Ort ist, an dem nichts gewiss ist.“

Die psychischen Auswirkungen können später jedoch auch zu Angstzuständen, Depression oder sogar Selbstmord führen. Wer in der Kindheit keine Stabilität erfahren hat und kein Vertrauen, leidet häufig unter geringem Selbstwertgefühl, unter gesundheitlichen Problemen, entwickelt eher Abhängigkeit von Drogen und Alkohol.

Die Atmosphäre der Abwesenheit verändert die Psyche des Kontinents grundlegend. Nicht nur, dass Millionen von Menschen ihre Freunde, Angehörigen und Partner verloren haben, auch viele Regionen müssen mit der Auslöschung ganzer Gemeinden fertig werden und alle Nationen den Tod eines beträchtlichen Teils ihrer Mitglieder verkraften. So geht einer Gesellschaft das Gefühl von Stabilität verloren. Nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Gemeinschaften und sogar ganze Nationen neigen zu "unberechenbarem Verhalten, wenn sie schwere Verluste erleiden".

In diesem Krieg geht so viel verloren – und es wird vertuscht, um über die Verluste nicht sprechen zu müssen – vor allem nicht über die eigene Verantwortung. Alle, vor allem in ihrem jeweiligen Ursprungsland, sind gegen die Nazis gewesen, Kollaboration darf in keinem Land Thema sein, die Sieger haben ihre Heldenmythen, die bis heute im TV-Programm gepflegt werden. In anderen Länder sind die Deutschen gerne in Wehrmachtsuniformen zu sehen, in Deutschland kapriziert man sich auf Bombennächte und Flüchtlingsschicksale.

Aber die Versuche, die Vergangenheit zu verdrängen und so schnell wie möglich zu vergessen, führen lediglich zu weiteren Ressentiments und letztlich zu einer gefährlichen Verzerrung der Tatsachen.

 

„Verzerrte Fakten sind viel gefährlicher als wahre Fakten. Wir sollten auch nicht vergessen wollen. Unsere Erinnerung an die Vergangenheit macht uns zu dem, was wir sind: nicht nur auf nationaler, sondern auch auf ganz persönlicher Ebene.“

 

Denn viele der Hoffnungen, Ambitionen, Vorurteile und Ressentiments haben in dieser Zeit ihren Ursprung. Wer Europa verstehen will, wie es heute ist, wie es zu dem geworden ist, was es heute ist, muss verstehen wollen, was in diesen Jahren geschehen ist.

 

Rezeption deutscher Geschichte in Deutschland
Vergangenheit und Gegenwart

Gedankenlos, manchmal auch unverfroren, scheinen manche bis heute zu glauben, Konzentrations- und Vernichtungslager, Gefängnisse oder Zwangsarbeit seien quasi Bildungseinrichtungen, in denen man vor lauter Inhumanität besonders viel und vor allem Humanität entwickelt und lernt.
Man erwartete, dass ausgerechnet die Überlebenden und Entkommenen das Bild des Geläuterten, den besseren Menschen verkörpern und mit Leben füllen, die eigene Leere und Stumpfheit beseitigen könnten, eine Projektion, die der Entlastung dienen sollte. Den Gefallen taten viele – in den beschriebenen wilden Jahren – ihren Peinigern nicht, wie Lowe eindringlich und faktenreich beschreibt. Die sanfte Rolle, die sich später doch durchgesetzt hat, wurde in den Jahren des Grauens und der Versuche, ihm zu entgehen, massenhaft verweigert. Erst später galt jede Form von Eigeninitiative, gar Selbstjustiz als verwerflich, war immer nur singuläre Tat einzelner Verwirrter. Der jüdische Widerstand beispielsweise wird bis heute nicht wahrgenommen, Stellvertretend für diese Haltung steht die kurz aufflackernde Diskussion in Deutschland, anlässlich des Erscheinens von Harry Mulisch, Das Attentat, 1982 und Jurek Becker, Bronsteins Kinder,1986, zwei im Vergleich zu den in der Studie wiedergegebenen Beispielen weichgespült wirkende Fälle. Später wollten aber auch die Gewaltanwender von ihren Rachefeldzügen nichts mehr wissen, es gab beides nicht mehr, was die Kommunikation der Beteiligten bis heute erschwert (beispielsweise zwischen Tschechen und Deutschland).

Lowe erzählt vom Hunger, vom qualvollen Verhungern, nicht nur in den Lagern, sondern in den besetzten Ländern, denn die Deutschen requirieren alle industriellen und landwirtschaftlichen Güter und bringen sie ins Reich, damit die deutschen Bevölkerung in Wohlstand leben kann; dafür nehmen die Soldaten den Menschen, die für sie Untermenschen sind, alles weg, was sie zum Leben brauchen.
Bei Lowe lernt man, wie sich alle im Tohuwabohu zurechtfinden müssen, einige das Chaos für sich nützen können, andere an der Unordnung fast zugrunde gehen; wie sich Menschen - als Täter - ihrer Verantwortung entziehen (wollen), wie andere sie mit allen Mittel, wie es verschleiernd heißt, daran hindern, wer mit wem abrechnet und warum; wie Recht definiert wird und Rechtsansprüche geltend gemacht werden, wie man also versucht, sich zum Recht zu verhelfen, an den eigenen früheren Besitz zu gelangen beispielsweise, alte Lebensverhältnisse wiederherzustellen, obwohl es die anderen Menschen, die ganze gewohnte Umgebung gar nicht mehr gibt; welche persönlichen, politischen, finanziellen Kalküle für die Zukunft jeweils im Spiel sind; wie Traumata entstehen und Traumatisierte reagieren, welche Verhaltensweisen zum eigenen Überleben als notwendig erachtet werden. Das zu lesen ist nicht angenehm, aber heilsam.

Es geht um die Darstellung von Menschen und ihre Reaktionen auf Verhältnisse, die sie nicht (mehr) durchschauen, denen sie nicht gewachsen sind. Irgendeine innere oder äußere Instanz verlangt Haltung und Entschlossenheit, die dann den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmt.

Hatten die meisten Deutschen alle im 3. Reich propagierten Zerrbilder verinnerlicht, und vielfach an der Verfolgung, Registrierung, Enteignung und dem Tod derer mitgewirkt, die man als abweichend von der Norm (arisch), also bereits als Nicht-Menschen ansah (vor allem Juden, aber auch Homosexuelle, sozial Schwache, sog. Behinderte, Sinti und Roma), brachte die Stunde Null keine Läuterung. Die Reichsdeutschen sahen sich u.a. mit einer Flut von Flüchtlingen und Vertriebenen konfrontiert, die sie auf keinen Fall haben wollten, was sie diese auch durch vielfältigste Bosheiten, Hindernisse und alltägliche Beschimpfungen spüren ließen. Oft entstand eine Parallelwelt, die Vertriebenen lebten jahre-, wenn nicht jahrzehntelang in Lagern und Siedlungen, die einheimische Bevölkerung wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Sie hatte das mindestens zwölf Jahre lang Gelernte nicht vergessen und gab es weiter. Herablassend sprach man noch in den 1970er Jahren über diese Menschen als Flüchtlinge - war schon damals ein Schimpfwort – allerdings gab es längst schon andere Objekte des einheimischen Zorns: „wirkliche“ Ausländer! Außerdem war man mehrheitlich gegen Wiedergutmachungszahlungen an überlebende Jüdinnen und Juden oder Familienangehörige, die Tote zu beklagen hatten. Schon damals entbrannte der Streit, der ein Skandal ist, darüber, wer - und warum überhaupt - Geld bekommen solle. Bei Geld hört für die Deutschen nämlich die Freundschaft auf.
Die Hassobjekte haben sich geändert, mittlerweile stehen andere im Fokus (generell alle Ausländer – egal ob mit oder ohne deutschen Pass; Türken, Sinti und Roma, Muslime, Juden, zurzeit wieder im Trend: Flüchtlinge). Die Art und Weise des Umgangs mit Fremdem, Unbekanntem und Fremden ist ziemlich gleich geblieben. Wie es dazu kommen konnte, welche Konflikte, mit denen wir heute konfrontiert sind, in dieser Zeit entstanden, kann man in diesem eindrucksvollen Buch nachlesen, um - wie Breton formulierte - einen kleinen Teil des Vergessenen zu lernen.


© Klett-Cotta, Leseprobe: PDF; Foto: Verlag; Liza Messing


 

Keith Lowe, *1970, ist einer der herausragenden britischen Historiker der jüngeren Generation. Für Der wilde Kontinent erhielt er 2013 den angesehenen Sachbuchpreis des englischen PEN: den »Hessell-Tiltman Prize for History«. Das Buch war einer Top Ten Bestseller.

 






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Die Vergangenheit ist nicht tot; sie ist nicht einmal vergangen. William Faulkner 



08V2015



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