LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

 


Dragana Mladenović – Jemand muss Josef K. bestochen haben

12. Internationales Literaturfestival Berlin 2012 – Europe Now

 

 

 

Gelegentliche Sommerurlaube in Griechenland einmal ausgenommen, habe ich die Länder der Europäischen Union erst im Alter von zwanzig Jahren betreten. Das war im Jahr 1997, das in der Bundesrepublik Jugoslawien [SRJ], oder besser gesagt in den Resten der einstigen großen SFRJ [Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien], so elend war. Dem Jahr waren die finstersten Tage der neueren serbischen Geschichte vorausgegangen – sinnlose Kriege und entsetzliche Verbrechen. Der serbische Alltag war in diesen Tagen von Isolation, Geldmangel, Inflation, Stromsparen, Visum-Bürokratie, von Schlangen beim Warten auf Grundnahrungsmittel, von ständiger Indoktrinierung durch die Medien und von Studentendemonstrationen geprägt…
Zu dieser Zeit reisten nur reiche Leute [für die das Milošević-Regime in der Regel kein Problem darstellte], dann Leute mit einem Ticket nur in eine Richtung, junge Männer, die vorübergehend vor der Einberufung flüchteten, Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien oder diejenigen, denen es gelungen war, einen Platz bei einer günstigen Gruppenreise zu ergattern. Ich zählte zu den Letzteren. Von Belgrad fuhr ich mit etwa vierzig Oberstufenschülern und ihren Lehrern mit dem Bus los. Ich kannte keinen von ihnen.
In der Reiseroute war die Besichtigung von Wien, Paris, Mailand, Verona und Venedig in sieben Tagen enthalten. Da meine Pilgerfahrt nach Europa hauptsächlich im Bus stattfand, versuchte ich, die hormonellen Störungen meiner Teenager-Reisegefährten und ihre entsetzliche Turbofolk-Tortur als »all inclusive« aufzufassen. Neben mir saß ein Professor für serbische Sprache und Literatur, der, wie ich später erfahren habe, so oft von Kafka sprach, dass ihm die Schüler den Namen Josef K. Verpasst hatten. Da er schweigsam war, überraschte mich seine heftige Reaktion darauf, dass der Fahrer von jedem Fahrgast eine Mark verlangte, da das Benzin über Nacht teurer geworden war und er nicht vorhatte, 50 Mark aus eigener Tasche zu bezahlen.
»Wie unterstehen Sie sich, Kinder auszurauben! Der Preis wurde im Vorhinein vereinbart! Lassen Sie den Blödsinn!«, schrie Professor K. Der Fahrer blieb aber stur. Um die Reise so schnell wie möglich fortzusetzen, hatten wir die verlangte Summe schnell beisammen. Josef wollte nicht daran teilnehmen.
»Wenn man im Modergeruch lebt, stinkt man irgendwann selbst danach«, meinte er wütend. Von meiner Heimat habe ich kurz vor der Grenze zu Ungarn Abschied genommen, in der Kabine eines türkischen Klos, an dessen Tür »Serbien bringt mich um« stand. Obwohl es auf der Toilette weder warmes Wasser noch Seife, noch Papierhandtücher gab, musste man für die Benutzung natürlich bezahlen. Ich hatte mir etwas anderes gewünscht.
Wenn ich in diesem Moment mein erstes Erlebnis von Europa wieder zum Leben zu erwecken versuche, fallen mir ständig die Windräder auf dem Weg nach Wien ein, von denen es damals weniger gab als heute, und Toiletten, die, je weiter wir in die entwickelte Welt vordrangen, immer mehr sensorische Möglichkeiten boten. Den stärksten Eindruck hinterließ jedoch eine warme Raststätte am Fuße der Alpen. Es war dunkel, die Luft war kalt und herb. Wir machten etwa eine Viertelstunde halt. Das Motel oder die Gaststätte oder das Geschäft, oder was immer dieses hübsche Holzhäuschen war, war beleuchtet und warm. Alles darin war sehr gemütlich. Es roch nach Kaffee und Zimt und die Regale waren prall gefüllt mit bunten Waren. Ungeachtet all dessen, was ich in den nächsten Tagen auf meiner ersten Europareise sehen sollte, blieb dieser Raum in meinem Bewusstsein das Symbol für diese feine, wohl versorgte und nach menschlichen Maßstäben geschneiderte Union.
Josef K. verbrachte die alpine Pause im Bus. Ich war sicher, dass er sich schlafend gestellt hatte. Vierzehn Jahre später. Weder ist Serbien so, wie es unter dem Milošević-Regime war, noch haben sich unsere Hoffnungen zur Gänze erfüllt. Den Mund voll Europa, die Ohren voll Kosovo. Die Verwaltung, die alles bremst, die Bestechungsgelder, die alles beleben. Der Polizist hat das Vergehen für 20 Euro nicht gesehen, der Arzt hat die Hüfte nicht operiert – 300 Euro, die Krankenschwester hat die Wunde nicht verbunden – 50 Euro sind zu wenig, der Ankläger hat die Akte nicht versteckt – 1000 Euro, der Richter hat keinen Freispruch verkündet – 1500 Euro, keiner hat die Prostituierte auf der Brücke gesehen, keiner hat sie auch nur angerührt. Den Mund voll Kosovo, die Ohren voll Europa.
Mein Mann und ich eilen durch die Straßen von München. Um 17 Uhr fährt der Bus nach Belgrad. Wir beeilen uns im naiven Glauben, dass auch dieser Bus, wie alle Züge, mit denen wir Deutschland bereist haben, pünktlich sein wird. Die Bahnsteige befinden sich unten, im Untergeschoss des Gebäudes. Es ist dunkel, wir schauen uns verstohlen um. Es stehen zwielichtige Gestalten herum. Ein muskulöser Glatzkopf mit einer schweren Halskette, eine betrunkene, männlich wirkende Dame, junge und alte Frauen, ihre Männer, Koffer, die kaum zugegangen sind, Umarmungen, jene, die wegfahren, die, die sich von ihnen verabschieden …
»Gastarbeiter«, flüstere ich meinem Mann zu; er bedeutet mir aber, still zu sein. Vom unterirdischen Bahnhof fahren nur zwei Busse ab. Der eine nach Kroatien, der andere nach Serbien. Beide fahren um 17 Uhr los. Beide haben Verspätung. Ein junger Mann in leuchtend gelber Weste, einer vom Busunternehmen, wiederholt ständig:
»Leute, habt ein bisschen Geduld, der Bus kommt gleich!«
»Gibt es sicher genug Platz für alle?«, fragt ein Mann mit Geheimratsecken.
»Wenn Sie eine Fahrkarte haben, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, versichert ihm der leuchtend gelbe Bursche.
Wir warten, schweigen und spähen in die Dunkelheit. Der leuchtend Gelbe überbringt in der Rolle des Fahrdienstleiters die Nachricht: »Der Bus nach Kroatien kommt in zehn Minuten, der nach Serbien in einer halben Stunde. «
»Gibt es aber wirklich genug Platz?«, fragt wieder der Geheimrat.
»Na, sicher.«
Eine Stunde später kommt auch unser Bus. Während wir die Koffer abgeben, hören wir den Typen abermals fragen, ob es im Bus genug Platz für alle gebe. Wir müssen lachen; was für eine Nervensäge! Beim Einsteigen zeigt sich allerdings, dass der Geheimrat nicht grundlos besorgt war. Wir sehen, dass nur einzelne Sitze frei sind, das heißt, dass mein Mann und ich uns trennen müssen. Es ist eine lange und womöglich nicht sehr angenehme Fahrt. Wir sind schon zu sehr im Verzug. Der Fahrer beruhigt meinen Mann:
»Gleich nach der Grenze steigen eine Frau und ihr Sohn aus, dann kriegen Sie Ihre Plätze …«
Wütend setze ich mich auf den ersten freien Sitz. Mein Mann sitzt irgendwo vorne. Nie wieder mit dem Bus, nie wieder – ich versuche mich zu beruhigen. Dann schaue ich nach links, zu meinem Sitznachbarn.
Ich bin erstaunt. Das ist doch Josef K.!
»Entschuldigen Sie«, sage ich, »sind Sie nicht vielleicht Serbischprofessor an einem Belgrader Gymnasium?«
»Nein!«, entgegnet er grob.
»Verzeihen Sie. Ich hatte das Gefühl, dass wir schon einmal zusammen gereist sind …«
»Sie haben mich sicher mit jemandem verwechselt.«
»Vielleicht«, sage ich und weiß, dass es nicht stimmt. Diese Haltung, diese Arroganz, diese Stimme.
Josef K., Professor Josef K.!
Ich muss lächeln und sehe, dass auf den kleinen Bildschirmen der Vorspann eines idiotischen serbischen Films erscheint, von einem jener Filme, die man ohne Gehirn versteht. Ich kann die Pause kaum abwarten, um meinem Mann zu erzählen, was für einen Reisegefährten wir da haben. Das ist keine Kleinigkeit. Wir fahren durch das Dunkel.
Plötzlich beginnt der halbe Bus unruhig hin- und herzurutschen. Die Leute greifen nach ihren Geldbörsen, die Münzen klingeln. Ich frage eine füllige Dame in meiner Nähe, was los sei.
»Jetzt geht der Plastikbecher herum. Da muss man drei Euro für die ungarischen Zöllner reinwerfen.
Besser, wir geben es ihnen, als dass sie uns traktieren.«
Bei der Abgabe seiner drei Euro knirscht Josef K. mit den Zähnen.
Ein Jahr später. Ich habe in der Zeitung etwas Erstaunliches gelesen.
»Jovan Krstić, Professor an einem Belgrader Gymnasium, verlangte von der Mutter einer Schülerin
200 Euro für eine positive Note. Die Frau hatte das Treffen mit ihm mit dem Handy gefilmt und die Aufnahme an unsere Redaktion geschickt. Die Polizei hat immer noch nichts unternommen.«
Der Modergeruch ist echt ansteckend.
(Übersetzt aus dem Serbischen von Jelena Dabić)
© Dragana Mladenović, ilb.de

 

 

Dragana Mladenović, *1977 im sächsischen Frankenberg wuchs in Serbien auf. Sie studierte Serbische Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft. Neben ihrer dichterischen Tätigkeit arbeitet sie als Journalistin.Sie gilt als eine der wichtigsten Vertreterinnen der serbischen Poesie ihrer Generation. Seit 2003 veröffentlichte sie insgesamt sechs preisgekrönte Gedichtbände, in denen sie sich u.a. mit politischen Szenarien, insbesondere dem Scheitern von Utopien, auseinandersetzt: Nema u tome nimalo poezije (2003; Ü: Darin ist kein bisschen Poesie), Raspad sistema (2005; Ü: Systemzerfall), Tvornica (2006; Ü: Fabrik), Asocijalni program (2007; Ü: Das asoziale Programm), Omot spisa (2008; Ü: Schrifteinband). Ihr zuletzt erschienener Lyrikband ist zugleich der erste, der auch in deutscher Sprache (in einer Übertragung von Jelena Dabić) vorliegt: Rodbina (2010; dt. Verwandtschaft, 2011) zeichnet lyrisch-fiktiv das Schicksal zweier Familien nach, einer bosnischen und einer serbischen, beide auf unterschiedliche Weise geprägt von den Folgen der Kriegsverbrechen. Das Besondere an ihrer in Kleinschreibung abgefassten Lyrik ist, dass sie narrativ, bilderreich und sprachbewusst zugleich ist. So spiegelt sie die Geschichte in den individuellen Erfahrungen des Kriegs wider, wobei Mladenović verschiedenste Perspektiven einnimmt. Ihre Sprache ist kühl und einfühlsam zugleich; nüchtern in der Schilderung begangener Gräuel, empathisch hinsichtlich der kleinsten menschlichen Regungen. Wie sie Vergangenheit und Gegenwart, Alltag und Krieg zusammenfallen lässt, zeigt sich exemplarisch in einer gerade des lakonischen Tonfalls wegen erschreckenden Passage: »opa stanko hat gestern / einen knochen ausgegraben / von der tür aus rief er / ein alter / leute / der alte / daran / war nichts / hinreichend glückliches / nichts hinreichend lustiges / oder hinreichend trauriges dass man / weinen könnte / das war der sechste / alte den / opa stanko / in diesem monat ausgegraben hat.« Verwandtschaft ist in drei Teile gegliedert, die sich inhaltlich überschneiden, formal jedoch äußerst unterschiedlich abgefasst sind. Auffällig an ihren Gedichtzyklen ist die ungewöhnliche szenische Form, in welcher sie mit wenigen Figuren und prägnanten Versen ein Abbild der Gesellschaft entwirft. Täter, Opfer und Zeugen – sie alle erscheinen als gezeichnet, versehrt und oft in Schweigen gehüllt. Eine Verdrängung der Schuld einerseits, stiller Schmerz auf der anderen Seite. Jüngst hat Mladenović ihre Kunst des Prosagedichts mit Magda (2012) weitergeführt, einem 'Roman in Versen', der aus der Innensicht eines im Koma liegenden Schriftstellers erzählt ist. Dragana Mladenović lebt in Pančevo bei Belgrad.  © internationales literaturfestival berlin

 



Tweet