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Die neue Opferlust

 

 

 

 

 

  

  von Kirstin Breitenfellner

 

Niemand will mehr etwas opfern, aber immer mehr Menschen beanspruchen, ein Opfer zu sein. Was mit Scham verbunden war, ist zur Gier geworden. Wie konnte es so weit kommen?
Lange war Österreich einfach das erste Opfer des Nationalsozialismus. Erst mit der 1986 beginnenden Affäre Waldheim begann eine breite Aufarbeitung der eigenen mörderischen Vergangenheit. Reparationszahlungen an den Staat Israel hat Österreich zwar bis heute keine geleistet, aber 1995 wurde immerhin der Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet, aus dem die wenigen Überlebenden Entschädigungen erhielten. Der Begriff des Opfers hatte die Seiten gewechselt.
Mittlerweile werden nicht nur Überlebende des Genozids oder Opfer sexueller Gewalt entschädigt. Die Sammelklage hat Konjunktur, und die Gewissheit, missbraucht, geschädigt oder betrogen worden zu sein, hat breite Bevölkerungskreise erfasst; wobei die Aussicht auf finanzielle Reparationen die neue Gier, ein Opfer zu sein, zusätzlich befeuert.
 

 

Victim oder Sacrifice?
Kaum ein Begriff wiegt so tonnenschwer und scheint dabei gleichzeitig so verzwackt wie der des Opfers. Und das liegt nicht nur daran, dass er eng mit unserem jüdisch-christlichen Erbe verknüpft ist oder daran, dass Opfer und Täter mitunter schwer aus ihrer Umklammerung zu lösen sind, sondern auch daran, dass im deutschen Wortgebrauch aktives und passives sowie religiöses und profanes Opfersein nicht so klar getrennt werden wie etwa im Französischen oder Englischen. Dort meint victim jemanden, der zum Opfer wurde, und sacrifice jemanden (oder etwas), der sich aktiv selbst opfert bzw. aus religiösen Gründen geopfert wird. „Heute hat sich die Verwendung des Begriffs klar in Richtung der passiven Variante verschoben“, sagt der Analytiker Christian Kohner-Kahler, der an einer Dissertation über den Opferbegriff arbeitet.

 

 

Rowohlt Verlag
Hardcover, 256 S., ISBN 978-3-498-03006-3

 

 

 

 

Wer wird zum Opfer? Oder gibt es eine Psychologie des Opfers? Traditionell waren das die Schwachen – Frauen, Kinder, Fremde, Behinderte. Aber da der Sündenbockmechanismus ein irrationaler gruppendynamischer Prozess ist, kann es jeden treffen. Das betonen auch Mechthild Schäfer und Gabriela Herpell in ihrem Buch Du Opfer! Wenn Kinder Kinder fertigmachen: „Opfer“ gilt unter Jugendlichen als das schlimmste Schimpfwort und ist oft der Beginn von systematischem Mobbing, dem in Schule und Beruf wohl schon die meisten begegnet sind.

 

Macht und Ohnmacht der Opfer

Kaum wird in den USA ein Präsidentschaftskandidat nominiert, taucht auch – so sicher wie das Amen im Gebet – das erste Opfer auf, das aus unerfindlichen Gründen Jahrzehnte geschwiegen hat. Der neuen Gier, Opfer zu sein, entspricht aufseiten der Medien die Gier, Opfer auszumachen. Sexueller Missbrauch rangiert in dieser Skala ganz oben. Den Opfern ist das Mitgefühl sicher, der vermeintliche Täter muss immer öfter und schneller mit einer Vorverurteilung rechnen.
Wie die Fälle des ARD-Wettermoderators Jörg Kachelmann und des französischen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Dominique Strauss-Kahn gezeigt haben, lässt sich beim Vorwurf der sexuellen Belästigung oder Vergewaltigung der Imageschaden auch dann kaum mehr wiedergutmachen, wenn das Verfahren mangels Beweisen eingestellt worden ist.
Und das ist nur eines von vielen Indizien dafür, dass manche den Opfer-Hype auch für private Rache oder finanzielle Vorteile auszunutzen verstehen. Im Falle des „Opas“ von Braunau, dem zwei Töchter im August vergangenen Jahres jahrzehntelangen Missbrauch vorgeworfen hatten, witterten die Medien schon einen zweiten Fall Fritzl – ehe die Anklage dann zurückgezogen wurde.
Apropos Fritzl: Gerne wird betont, wie richtig die Entscheidung der Anwälte und psychologischen Betreuer gewesen sei, die Opfer des monströsen Inzestfalls von Am­stetten vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Hatte doch der Fall des Entführungsopfers Natascha Kampusch gezeigt, dass es nicht möglich ist, der Medienmeute den kleinen Finger zu reichen. Allerdings hat der Fall Kampusch auch eindrucksvoll demonstriert, was die Öffentlichkeit von einem Opfer erwartet: nämlich dass es auch Opfer bleibt – und das heißt: ohne eigene Stimme. Dass sich Natascha Kampusch diesem Klischee – um nicht zu sagen: dieser Unterdrückungsformel – bis heute nicht fügt, ist für viele das größte Ärgernis an ihrem 'Fall'.

 

Vom Sündenbock zum Mobbing
Glaubt man dem Anthropologen und Religionsphilosophen René Girard, dessen einflussreiches Werk Das Heilige und die Gewalt vor genau 40 Jahren erschien und soeben neu aufgelegt wurde, liegt das Opfer auch am Anfang der menschlichen Kultur. Denn, so schließt Girard aus der Analyse von Mythen weltweit: Archaische Menschengruppen haben sich – wie im Mobbing, allerdings mit tödlichem Ausgang – über einem zufällig ausgewählten Sündenbock versöhnt.
Aufgrund seiner friedensbringenden Kraft wurde dieses erste Opfer zum Gott erhoben. Die – freilich nur unzureichend erfüllte – Funktion von archaischen Religionen bestand darin, Gewalt zu verhindern oder zu kanalisieren, indem Tiere oder – im Übrigen meist unschuldige – Menschen rituell geopfert wurden. Wobei ein konstitutives Merkmal des Opfers darin bestand, dass es ohne Gefahr der Rache dargebracht werden konnte. Aus dem Opfer entstand Girard zufolge auch das Gerichtswesen, das durch sein Gewaltmonopol besser als die private Rache in der Lage ist, Gewalt zu verhindern. „Man muss gar nicht der umfassenden mimetischen Theorie von René Girard anhängen, um dem Opfer in den antiken Kulturen einen ursprünglichen, vorrangigen Charakter zuzuerkennen“, schreibt Guy Stroumsa, Professor für monotheistische Religionen an der Universität Oxford. In seinem Buch „Das Ende des Opferkults“ versucht er zu zeigen, dass die Wurzeln heutiger Probleme bis in die religiösen Transformationen der Spätantike, besonders im vierten Jahrhundert nach Christus, zurückreichen.

 

Von Jesus Christus zu 9/11
Die Spätantike zeichnet sich durch eine Erschütterung des Gleichgewichts zwischen Mythos und Ritus aus, das in den antiken Gesellschaften durch die Opfer noch gewährleistet war. Sie legte „in großem Maße den Grundstein für die europäische Kultur“. Dabei spielte laut Stroumsa das Judentum eine entscheidende Rolle. Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 nach Christus führt das erzwungene Ende öffentlicher Kulthandlungen zu einer Verinnerlichung von Religion: Fasten, Gebet, Almosen, das zerknirschte Herz und der gute Wille treten an die Stelle des Opfers.

Das Judentum charakterisiert Stroumsa als erste opferlose, das frühe Christentum als um das Opfer zentrierte Religion. Es weist nicht nur erstmals Frauen, Kindern, Fremden und Sklaven einen bedeutsamen Platz in der Gesellschaft zu, sondern macht alle zu potenziellen Opfern: Die christlichen Märtyrer bringen Opfer nicht mehr dar, sie sind das Opfer.

Das christliche Gedenken an das Opfer Jesu – dessen Auferstehung an Ostern jedes Jahr gefeiert wird – ist unvergleichlich viel mächtiger als die jüdische Erinnerung an die Tempelopfer; denn im priesterlichen Vollzug reaktiviert es das Opfer des Gottessohnes“, schreibt Stroumsa, für den Jesus (zumindest theoretisch) auch das letzte Menschenopfer darstellt: „Die offen bekundete Abscheu der Christen vor dem Opfer im Allgemeinen und ihr Grauen vor dem Menschenopfer im Besonderen spielten eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Ausmerzung des Menschenopfers in den Mittelmeerländern.“
Mit der Verwandlung der Opfernden zu Geopferten vollziehe sich allerdings auch ein radikaler Wandel im religiösen Verhalten, dessen „absurde Konsequenzen“ wir offenbar noch nicht verstanden hätten, wie Stroumsa in explizitem Verweis auf die Kamikaze-Piloten und die Selbstmordattentäter von 9/11 anmerkt.

 

Von Bertolt Brecht zu Lars von Trier
Zu den vehementesten Kritikern des Opferbegriffs gehört hier der französische Philosoph Jacques Rancière. In Das Unvernehmen. Politik und Philosophie definiert er das Opfer als „pathetische Gestalt desjenigen, dessen Menschlichkeit verneint wird“. Den Opfern wird keine eigene Stimme zugestanden, und ihre Hilflosigkeit, die durch ihren Opferstatus beglaubigt wird, liefert zugleich die moralische Legitimation für „humanitäre Interventionen“, in letzter Konsequenz das Recht auf Invasion, Krieg, Verhängung des Ausnahmezustands oder immer massiver werdende Sicherheitsmaßnahmen, bei denen stets Rechte verloren gehen.
Täter und Opfer sind laut Rancière keine politischen Kategorien, sondern gehörten zur „ethischen Wende“ eines „humanitären Zeitalters“, das sich von der Politik verabschiedet habe. Diese Wende löse nicht die spezifische Praxis der Politik auf, die auf der Trennung von Gewalt, Moral, Recht und Ästhetik basiert, sondern zerstöre darüber hinaus auch den Wesenskern der alten Moral – „die Unterscheidung zwischen der Tatsache und dem Recht, dem Sein und dem Sein-Sollen“.

War Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929/30) nach Rancière noch eine Fabel der Politik, verweisen die Peinigungen und die Ausbeutung, denen die von Nicole Kidman dargestellte Grace in Lars von Triers Film Dogville (2003) ausgeliefert ist, „auf keinen anderen Grund als auf sich selbst“. Grace, die sich auf der Flucht vor Gangstern in Dogville versteckt und zum Opfer der moralischen Experimente eines Möchtegernschriftstellers wird, „ist nicht mehr die gute Seele, die durch die Unwissenheit über die Gründe des Bösen irregeleitet ist. (…) Ihre Desillusionierung und ihre Leidenschaft beziehen sich auf kein Herrschaftssystem mehr, das es zu verstehen und zu zerstören gälte.“
Was Rancière dabei übersieht, ist die unheilvolle Verstrickung von Opfer- und Täterrolle, die von Trier in diesem Film thematisiert und der er sein künstlerisches Schaffen gewidmet hat. Der Dialog am Ende von Dogville, in dem Grace mit ihrem Gangster-Vater (James Caan) über Opfer und Täter, Macht und Verantwortung diskutiert, gehört dabei zu seinen Meisterstücken.

Nachdem der Vater ihr Arroganz vorgeworfen hat, weil sie die bitteren Lebensumstände ihrer Peiniger als Entschuldigung gelten lasse und an sich selbst höhere moralische Ansprüche stelle, entschließt sich die vermeintliche Dulderin, sich doch zu wehren oder vielmehr zu rächen und lässt den ganzen Ort niedermetzeln.
Teil zwei der noch unvollendeten Trilogie, Manderlay (2005), handelt von einer Gruppe von Menschen, die die Abschaffung der Sklaverei in ihrem Lebensvollzug ignorieren. Es geht um perverse Spiele von Macht und Manipulation, um freiwillige Unterwerfung und die Last der Freiheit. Auch hier schwingt sich Grace gleichsam zur Entwicklungshelferin auf und sorgt so dafür, dass der Status der Opfer festgeschrieben wird.
Vor ziemlich genau 100 Jahren, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, waren sich die Nationen Europas parteienübergreifend in ihrer euphorischen Zustimmung zum Krieg einig und befanden sich nach Arnold Angenendt in einem „säkularen Sog des Opferdenkens“. Sich reif zum Opfer zu fühlen, charakterisierte die Grundstimmung der Zeit.

 

Kultur der Zerknirschung
Heute scheinen sich die Vorzeichen umgekehrt zu haben: Niemand will mehr etwas opfern, aber immer mehr Menschen wollen Opfer sein. Was ist geschehen?
Angenendt rekapituliert in seiner Studie Die Revolution des geistigen Opfers (die ihrer undeklarierten christlichen Perspektive wegen etwas unbefriedigend bleibt) den Wandel vom Brandopfer zum geistigen Opfer der Nächstenliebe. Und zitiert dabei Paul Veyne: „Ein Heide war zufrieden mit seinen Göttern, wenn sie seine Gebete und Gelübde erhörten und ihm Hilfe gewährten; ein Christ hingegen war eher darum bemüht, dass sein Gott mit ihm zufrieden war.“

 

Wir leben in einer Gesellschaft, die den Opfern mehr Beachtung schenkt als jede andere zuvor. Dennoch klagen wir uns ständig selbst an. Wir haben nicht genug getan, sind noch immer zu egoistisch, imperialistisch, ethnozentrisch … Eine Kultur der Zerknirschung hat sich breit gemacht, deren echte oder simulierte Demut unzweifelhaft auf das Christentum zurückgeht.
Neben fraglos positiven Folgen wie dem Ausbau des Opferschutzes und der Untersuchung auch Jahre und Jahrzehnte zurückliegender Missbrauchsfälle zeitigt die Konjunktur des Opfers aber auch einen merkwürdigen, ans Hysterische grenzenden Wettbewerb, Opfer aufzuspüren, vermeintliche Täter oder auch gleich sich selbst zu beschuldigen. Auf diese Weise wird ein politischer Diskurs, dem es um einen Zuwachs an Freiheit und Mündigkeit zu tun ist, durch selbstgerechtes Moralisieren ersetzt: Die Welt ist schlecht, sagen wir – und fühlen uns gut dabei.

 

© Erstveröffentlichung: Kirstin Breitenfellner in Falter - Wien 14/2012 vom 04.04.2012 (Seite 22), mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion

http://www.falter.at/web/shop/detail.php?id=36580


 

 

Kirstin Breitenfellner lebt und arbeitet seit 1989 als Autorin und Kritikerin in Wien.

Von 1986–1992 hat sie Germanistik, Philosophie und Russisch an den Universitäten Heidelberg und Wien studiert. Arbeitsschwerpunkte: Gedicht, Erzählung, Roman, Sachbuch, Kritik, Übersetzung.

Auszeichnungen/Ehrungen/Preise (Auswahl): Autoren-Stipendium der Stadt Wien (2003). Bestes ausländisches Buch/Beste Übersetzung bei der Buchmesse Grüne Welle, Odessa (2004). Autorenprämie des BK im Bereich Belletristik (2004).

Veröffentlichungen (Auswahl): Lavaters Schatten. Physiognomie und Charakter bei Ganghofer, Fontane und Döblin. Mit einem Exkurs über den Verbrecher als literarische Gestalt (2000, University Press).Der Liebhaberreflex, Roman (2004), das ohr klingt nur vom horchen, Gedichte (2005). Falsche Fragen, Roman (2007) alle bei Skarabaeus.

 

 

04/2012 



 

 

 

 

 



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