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02.12.2013 – Eva Roubíčková ist gestorben


Das Leben – Ein Geschenk


„Ich wurde am 16. Juli 1921 in eine deutschsprachige jüdische Familie hineingeboren. Wir lebten in Nordböhmen, damals Teil des Sudetenlandes, heute gehört das Gebiet zur tschechischen Republik. Mein Vater unterrichtete am Gymnasium in Žatec (Saaz) Latein und Altgriechisch, meine Mutter war Hausfrau und arbeitete ehrenamtlich als Organistin in unserer Synagoge.Wir wohnten zusammen mit der Mutter meiner Mutter und ihrem Bruder Gi. Ich verbrachte viel Zeit mit meiner Großmutter, sie hatten großen Anteil an meiner Erziehung, da meine Mutter zum Zeitpunkt meiner Geburt erst einundzwanzig Jahre alt war. Ich war wohl relativ verwöhnt, als Einzelkind und einziges Enkelkind. Meine Kindheit war wundervoll, ich verbrachte meine Tage mit Tennisspielen und Schwimmen im Sommer und Skifahren im Winter zusammen mit meinen zahlreichen jüdischen und nicht jüdischen Freunden. Aber mein sorgenfreies Leben endete mit der Machtergreifung Hitlers. Als sich die Nazipropaganda in Böhmen zu verbreiten begann, bemerkte ich, wie meine Freunde nicht jüdischen Freunde mehr und mehr auf Distanz zu mir gingen und mich mit Argwohn zu betrachten begannen.“


Mit diesen Zeilen aus dem Vorwort zu Langsam gewöhnen wir uns an das Ghettoleben beginnt ein Tagebuch, das Eva Mändl-Roubíčková vom 01. Januar 1941 bis zum 05. Mai 1945 geführt hat, erst in Prag, wohin sie mit Mutter und Großmutter 1938 vor der Pogromstimmung im nordböhmischen Saaz (Žatec) flieht, bis zu ihrem Abtransport nach Theresienstadt am 17. Dezember 1941, danach dort mit wenigen Unterbrechungen bis zur Auflösung des Ghettos 1945. Dass sie nach dem Horror des Konzentrationslagers, des Ghettos Theresienstadt ihren Verlobten Richard Roubíček wieder trifft, hat sie zeitlebens als größtes Geschenk empfunden und später versucht, das Leben ihrer Tochter und ihres Sohnes nicht mit ihrer Geschichte zu beschweren. Jüdisch sein und deutschsprachig dazu, das ging in der Nachkriegs-Tschechoslowakei gar nicht, also lernte sie so schnell wie möglich Tschechisch, um „ein normales Leben“ führen zu können, um sich nicht mehr verstecken zu müssen. Ihre Muttersprache benutzte sie selten und nie öffentlich. Ihr Ehemann, der ausgebildeter Jurist war, hatte zwar für die Freiheit der Tschechoslowakei und gegen die Nazis gekämpft, aber auf der 'falschen' Seite der West-Alliierten, weswegen er lebenslanges Berufsverbot als Rechtsanwalt erhielt und „ ab in die Produktion“ musste. Eva Roubíčková arbeitete als Fremdsprachensekretärin, ausgerechnet auf dem Messegelände, auf das die Prager Juden getrieben worden waren, um dann in Zügen deportiert zu werden.

Durch die – nach dem brutalen Ende des Prager Frühlings – ab 1969 in den USA lebende Tochter erschien das Tagebuch der Mutter, das die Kinder zufällig beim Spielen in einem Schrank gefunden hatten und das daraufhin von ihrem Ehemann ins Tschechische übertragen wurde (ein schwieriges, langwieriges Unternehmen von beiden, denn Eva hatte ihr Tagebuch mithilfe deutscher Stenographie geschrieben!), 1998 in englischer Übersetzung in den USA, 2007 auch auf Deutsch – s. hier auch: Eva Roubíčková [Rezension des Buches], Tagebuch [Auszüge], Gespräch - Roubickova [über das Leben in Prag ab 1938/39, Theresienstadt und den allmählichen Neubeginn in Prag ab 1945].


Als ich in Prag lebte, haben wir uns regelmäßig gesehen und viel und lange miteinander geredet. Eva Roubíčková beeindruckte mich sofort durch ihren wachen Geist und Humor, ihre Warmherzigkeit und Gastfreundschaft. Sie war offen und gerade heraus, sie mochte mir immer gerne erzählen und ich ihr zuhören und allmählich auch ohne (oder zumindest weniger) Scheu fragen. Über sechzig Jahre hat sie in ihrer Wohnung auf der Prager Kleinseite gelebt, die sie mit ihrem Mann Richard gefunden, in der sie eine Familie gegründet hat. Solange es ginge, wolle sie dort wohnen bleiben, betonte sie noch neunzigjährig. Das direkte öffentliche Interesse, vor allem nach der Veröffentlichung des Tagebuchs auf Tschechisch 2009, hat sie belustigt und manchmal ehrlich und immer wieder erstaunt, aber es hat sie vor allem gefreut. Sie erhielt Auszeichnungen in Deutschland und in Tschechien. Sie sah darin ein Zeichen, dass ihre Erinnerungen Eingang ins kollektive Gedächtnis gefunden hatten, dass sie – mit dem Buch, mit ihrem freundlich-bestimmten Wesen – vielleicht dazu beigetragen hatte, dass nichts vergessen werden kann, weil sie es aufgeschrieben hat, weil wir es jetzt Schwarz auf Weiß haben. Letztes Jahr zog sie ins Jüdische Seniorenheim Hagibor; sie war körperlich deutlich schwächer und anfälliger, ihre zierliche Gestalt war noch schmaler, sie schutzbedürftiger geworden. Dieses Jahr wurde sie ernsthaft krank, aber immer war sie gut versorgt, nicht nur vom dortigen Pflegepersonal, sondern von ihrer mittlerweile großen Familie mit Enkeln und Urenkeln, von ihrer besten und ältesten, wunderbar temperamentvollen Freundin Margit, die ebenfalls Theresienstadt überlebt hat, von anderen Freunden und Bekannten. Eine Pinnwand voller Bilder ihrer Familie, die sie mir erst neulich erklärte.

Von jeder Person erzählte sie voller Stolz und Zärtlichkeit, durchaus in dem Bewusstsein, dass sie dazu beigetragen hatte, dass es diesen Kreis von unterschiedlichen Menschen überhaupt gibt, aber auch als eine alte gebrechliche Frau, die sich einigermaßen über das Glück wundert, ein Teil davon zu sein. Und während sie über all die Menschen sprach, auch über Schwierigkeiten und Fehler Einzelner, so wie sie es eben sah, und immer wieder auf die Bilder schaute, wie um sich zu vergewissern, konnte man in ihrem Blick wieder dieses fast kindliche Erstaunen spüren und Überraschung, dass das Leben „es doch so gut mit mir gemeint hat.“ Und nach längerem Innehalten und Stille: „Wer hätte das gedacht, dass ich einmal eine so große Familie haben würde“; verschmitzt sagte sie es und zögerte doch zwischen den Silben, mit diesem besonderen weichen Klang, den manche fälschlicherweise nur auf ein 'Prager Deutsch' reduzieren, obwohl es doch ein böhmisch-mährisches Deutsch ist, das man kaum noch hören kann, weil fast alle gestorben sind, die es gesprochen haben, deren Muttersprache es einmal war.

Ich habe ihr spöttisches Lachen im Ohr, ihr Innehalten und Seufzen, wenn sie erzählte. Und sie tat es gerne. ohne sich damit in den Vordergrund spielen zu wollen. Beachtung wollte sie, vielleicht auch Anteilnahme. Manches Schreckliche konnte sie in eine Anekdote verpacken, so ließ sich leichter darüber sprechen. Sie war voller Demut und Dankbarkeit; bei ihr lernte ich, dass diese beiden Worte keine Floskeln sind. Sie hatte überlebt, hatte ihren Verlobten wiedergefunden, konnte heiraten und eine Familie gründen. Sie lernte Leben. Sie lernte wieder Leben kennen. Sie lernte mit ihren deutsch-jüdisch-tschechischen Identitäten zu leben. Das war das Geschenk, das sie erhalten hatte und von dem sie ab und zu sprach, leise und voller Staunen und Ehrfurcht, wie von einem Wunder. Aber das war es ja auch.

Sie war sanft und streitlustig, fröhlich und unverzagt. Sie munterte auf und mischte sich ein, reiste so viel wie möglich (auch allein, nachdem ihr Mann gestorben war), nahm am gesellschaftlichen Leben teil, informierte sich über Gott und die Welt, las viel und hatte bis zu ihrem Umzug nach Hagibor sogar noch einen Englisch-Schüler. In den letzten zwei, drei Jahren ließen ihre Kräfte merklich nach, sie war nicht mehr gut zu Fuß, wie sie es nannte, und hörte ohne Hörgerät kaum noch. Aber sie strahlte, als ich sie Ende Oktober besuchen kam und als ich mich verabschiedete: „Komm bald wieder. Ich freue mich auf deinen Besuch!“

Foto: Eva auf dem Balkon, die letzten warmen Sonnenstrahlen genießend, Prag 18.10.2013

 

Eva Mändl-Roubíčková, Langsam gewöhnen wir uns an das Ghettoleben - Ein Tagebuch aus Theresienstadt, mit Vor- und Nachwort der Autorin, 240 Seiten, geb., Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 2007, ISBN 978-3-89458-255-5

- dies., Terezínsky Deník, Nakladatelství P3K, Praha 2009 (tschechische Ausgabe)

 

s. hier auch: Eva Roubíčková [Rezension des Buches], Tagebuch [Auszüge], Gespräch - Roubickova [über das Leben in Prag ab 1938/39, Theresienstadt und den allmählichen Neubeginn in Prag ab 1945].


© Text und Fotos: Katja Schickel


Zu Kurz //   

Schnee im Haar
komme ich zu dir //
lege dir meine Worte
zu Füßen // Du
traurig wie ich
weil der Tag zu kurz
das Jahr zu kurz
das Leben zu kurz //
um das vollkommene
JA
zu sagen

(aus: Rose Ausländer, Gesammelte Gedichte, Fischer Verlag Ffm)


Dezember 2013

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