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Über Erica Pedretti

von Katja Schickel

 

 

 

Im Dezember 1945 fährt ein Rotkreuztransportzug von Warschau über Auschwitz, Prag, München nach St. Margrethen, mit ihm reisen Auslandschweizer, KZ-Überlebende und einige mehr, darunter die fünfzehnjährige Erica Pedretti und ihre Geschwister. In fremd genug erzählt Erica Pedretti von Abreisen und Ankünften, von Stationen ihrer Lebensreise, die sie aus der Tschechoslowakei in die Schweiz brachte, von der Schweiz in die USA und wieder zurück in die Schweiz. »Eine wunderbare Zeit, fast paradiesisch, wäre nur die Fremdenpolizei nicht gewesen: Warum sind Sie noch hier?«


Erica Pedretti, fremd genug

Insel Bücherei 1329, geb., 71 S. mit Illustrationen der Autorin 

11,80 Euro, ISBN 978-3-48-19329-6 

 

 

 

 

"Kurz bevor sie aufhörte, ein Kind zu sein, hat Anna sich geschworen, das, was sie jetzt fühlte und dachte, wie ein Kind fühlt und denkt, nie zu vergessen."

Als die Hauptfigur von Erica Pedrettis Roman nach über drei Jahrzehnten zum erstenmal in die ›engste Heimat‹, eine mährische Kleinstadt, zurückkehrt, muß sie feststellen, daß ihre Erinnerungen die kindliche Unschuld verloren haben. Zu viel ist in der Zwischenzeit geschehen: Der Krieg, der jenseits der Mauern von Großvaters Blumengarten zunächst fast unwirklich erschien, bricht in das Leben ein. Gregor – Annas Lieblingsonkel und Jungmädchenschwarm, der Kunstmaler, »der Held ihrer Kindheit« – kämpft in Frankreich an der Seite der Tschechen gegen Hitler. Doch beim Einmarsch der Russen müssen Anna und ihre Familie als Deutsche das Land verlassen

 

Erica Pedretti, Engste Heimat

Suhrkamp Taschenbuch 3323, Broschur, 198 S., 8,90 Euro

ISBN 978-3-18-39823-4

 

 

»Do you remember?« heißt es in Heiliger Sebastian. Eine Frage, die Anne nicht mag. Die Frage, die alles ins Rutschen bringt, die eine ganze Biographie durcheinanderwirbelt. Was längst vergessen schien, taucht wieder traumhaft klar herauf. Nichts bleibt ganz in dieser Lawine, die mir zunehmender Geschwindigkeit über alle Stationen — Mähren, Engadin, New York, London, Paris, Normandie, Griechenland — hinwegrast und immer wieder das Grundmuster eines bewegten Lebens nach oben kehrt: Krieg, Aufbruch, Flucht. Wie Heiliger Sebastian sind auch Harmloses, bitte und Veränderung Bücher der Erinnerungen.

  

Erica Pedretti, Harmloses, bitte / Heiliger Sebastian / Veränderung - Romane

Suhrkamp Taschebuch 2518, Broschur, 397 S., 4,95 Euro

ISBN 978-3-518-39018-4

 

 

 

„Wie lebt ein Mensch an einem fremden Ort (und wärs das Paradies), und hat noch alle Schrecken im Kopf?“

 

Erica Pedretti (*25.02.1930 als Erika Schefter im nordmährischen Sternberg/Šternberk, Tschechoslowakei) ist eine Schweizer Schriftstellerin, Objektkünstlerin und Malerin.

 

© Erica Pedretti, rozhlas.cz 

 

Bis 1945 lebte sie hauptsächlich in Zábřeh (Hohenstadt), Šternberk (Sternberg), Berlin und Freudenthal. Ihr Vater, der Bühnenautor, Journalist und Besitzer einer Seidenfabrik Hermann Heinrich Schefter war als Antifaschist während des Krieges interniert, was die Familie nach dessen Ende jedoch nicht vor der Zwangsumsiedlung schützte, auch nicht, dass ein Onkel in Frankreich in der tschechischen Auslandsarmee gegen die deutschen Nazis gekämpft hatte. Der ging, nach seiner Rückkehr in die Tschechoslowakei, später wieder nach Frankreich und brachte sich - knapp 45jährig - um. Im Dezember 1945 fuhren die fünfzehnjährige Erica und ihre Geschwister in einem Rotkreuztransportzug zur Großmutter väterlicherseits in die Schweiz, die allerdings durch die Ehe mit einem Ausländer ihre Schweizer Staatsbürgerschaft verloren hatte.

In Zürich besuchte sie von 1946 bis 1950 die Kunstgewerbeschule, dort lernte sie ihren späteren Mann Gian Pedretti kennen. Da ihre Familie keine Aufenthaltsgenehmigung erhielt, musste diese 1950 in die USA emigrieren. Zwei Jahre arbeitete Erica Pedretti in New York als Silberschmiedin, bis sie 1952 in die Schweiz zurückkehren konnte und Gian Pedretti heiratete. Das Künstlerpaar lebte 22 Jahre mit fünf Kindern in Celerina/Engadin, ab 1974 in La Neuveville; seit 1985 leben und arbeiten beide dort in einem selbst gebauten, über dem Bielersee gelegenen Atelierhaus.

 

Ab 1970 veröffentlicht Erica Pedretti eigene Texte, ab 1971 ist sie Mitglied der Gruppe Olten, ab 1976 präsentiert die bildende Künstlerin ihre Werke in Einzel- und Gruppenausstellungen in der Schweiz und im Ausland (seit der Samtenen Revolution auch in Tschechien).

Seit 1988 ist sie korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Ihr literarisches Archiv und exemplarische künstlerische Arbeiten hat das Schweizerische Literaturarchiv in Bern erworben.

 

1984 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für den Text Das Modell und sein Maler, 1996 den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für den Roman Engste Heimat. 1990 wurde ihr der Große Literaturpreis des Kantons Bern zuerkannt, 1996 der Kunstpreis der Stadt Biel, 1999 der Mitteleuro-päische Literaturpreis Vilenica, Slowenien. Als erste Frau erhielt sie 1999 den Kulturpreis des Kantons Graubünden. 2010 verlieh ihr die kantonale deutschsprachige Literaturkommission für ihre „herausragende aktuelle literarische Arbeit“ fremd genug den Literaturpreis des Kantons Bern. 2005 wurde sie von ihrer Geburtsstadt Šternberk/Sternberg zur Ehrenbürgerin ernannt. Ihr Roman Engste Heimat wurde unter dem Titel Nechte být, paní Smrti (wörtlich: „Lasst uns fahren, Frau Tod“) ins Tschechische übersetzt.

Vom 28. bis 30. Oktober 2010 fand an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ein internationales literaturwissenschaftliches Symposium statt: „was ich vor langem an einem andern Ort begonnen habe ...“ – Die ‚Erinnerungstexte‘ der Autorin Erica Pedretti. Themen waren ihr experimenteller Schreibstil, die Darstellung deutsch-tschechischer Geschichte in den Erinnerungstexten (z.B. Harmloses, bitte - 1970, Heiliger Sebastian - 1973, Veränderung - 1978, Engste Heimat -1995 und Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte - 1998, fremd genug - 2010 – alle Suhrkamp/Insel Verlag), ihre Stellung innerhalb der Schweizer Literatur sowie die Bedeutung von Schrift, Bild und Figur in ihrem künstlerischen Schaffen (Wie kommt das Bild zur Sprache?). Inzwischen befassen sich vor allem viele osteuropäische Wissenschaftlerinnen mit den Texten der Schriftstellerin, um den mittel-osteuropäischen Raum zu erschließen, den Pedrettis Prosa reflektiert. (s. dazu hier auch: Geopoetiken)

Begriffe wie Wahrnehmen, Schauen und Anschauen sind wichtige Bezugspunkte in der Poetik Pedrettis. Sie nennt Gertrude Stein ein wichtiges Vorbild.

Verlust von Heimat und Identität prägen ihre autobiografischen Arbeiten. Sie möchte „das, was während des Schreibens passiert, in die Geschichte einbringen“; die Erzählerin in Engste Heimat, die ihr Alter Ego in die Tschechoslowakei schickt, zeigt, „dass es sich nicht um eine Biograpie handelt, dass es sich wirklich um Fiktion handelt, dass also jemand dasitzt und an etwas arbeitet, das dann diese Geschichte wird, und dass man das nicht rein biographisch liest, obwohl sehr viel biographisches Material verarbeitet ist“ (aus einem Interview in: Le Culturactif Suisse 10/1999, wie auch die titelgebene Zeile oben).

 

Ihre Prosa handelt von Abschied und Ankunft, von Räumen, die sich vor ihr öffnen, während sich andere für immer schließen. In einer offenen, fragenden Sprache lässt Erica Pedretti aufleuchten, was geschehen ist und nicht vergeht.

© Kunstraum_Kreuzlingen. ch/editionen-ericapedretti

 

 

Romane wie Erzählungen sind durch Erinnerungen, die geschichtlichen Zeitläufte vielfach miteinander verwoben, durch die wiederkehrenden Motive von Heimat, ihrem Verlust und den frühen Verletzungen, die zeitlebens nachwirken wie Phantomschmerzen - es sind Traumata, die ihr Leben prägten. Ihr Schreiben ist schnörkellos und kommt ohne jede Larmoyanz aus, Verdichtung und Aussparung sind ihre Stilmittel. Wie die Leiche am Tatort durch ihre Umrisse zwar kenntlich bleibt, behält sie doch ihr Geheimnis. Wahrheit ist nicht vordergründig zu haben, nicht als naturalistisches Abbild von Realität. Die (eigene) Wirklichkeit entzieht sich den Worten, dem einfachen Sachverhalt. Vor den sowjetischen Befreiern muss sich die Familie verstecken, sie selbst verwandelt sich in einen Jungen, um sich und ihren Körper zu schützen. Über viele Erfahrungen lässt sich nicht sprechen, Erica Pedretti tastet sich mit jedem Wort an die Wunden. Sie erklärt sie nicht. Oft geht es in ihren Texten um Reisen, freiwillige wie unfreiwillige, auch fiktive (Heiliger Sebastian), in denen die Stationen, die topographischen Orte den Text strukturieren, gleichzeitig vollkommen unverbunden nebeneinander stehen (können).

Immer wieder geschieht mir das: Ich sitze in einem Zug, der fährt von Osten nach Westen, ich werde von Zàbreh nach St. Margrethen gebracht. Niemand hat mich vorher gefragt, willst du oder willst du nicht, man fährt doch gern ins Gelobte Land, besonders unter den herrschenden Umständen, warum sollte jemand eine Ausnahme machen, mache ich eine Ausnahme?" (aus: fremd genug). In collageartig montierten Texten, die immer das Bruchstückhafte betonen, thematisiert sie Entfremdung, gerade die zwischen den Geschlechtern, beispielsweise im Verhältnis von Maler und Modell. Ausgangspunkt von Valerie oder Das unerzogene Auge ist Ferdinand Hodlers erschütternder Bilderzyklus Ein Maler vor Liebe und Tod über das langsame Sterben von Valentine Godé-Darel, seinem Modell, seiner Geliebten und der Mutter des gemeinsamen Kindes, der die Schriftstellerin eine Stimme verleiht, ihr eigenständiges Denken und Fühlen zubilligt. Das wird nicht chronologisch erzählt, sondern fragmentarisch aus Erinnerungen, Dialogfetzen, Fantasien und Träumen, Berichten und Tagebuch-Aufzeichnungen zusammengesetzt. Während sich der geschulte Blick des Mannes/Malers auf sein Objekt, das sterbenden Modell, richtet, hält die Frau mit ihrem quasi unerzogenen dagegen, wird die Totgeweihte mithilfe der Autorin zum Subjekt des Geschehens, sie wird sich – wenn auch im Angesicht des eigenen Todes - selbst gewahr.

 

© Pro Litteris Zürich, Doppelflügel (Eisendraht, Baumwollstoff, Acrylharz), 1991, Lugano

 

Ihr bildnerisches Schaffen umfasst vielgestaltige Flügelwesen, gerüstartige Objekte und Installationen, mit denen sie Heimat („das Land der alten Ängste und Schmerzen“ - Engste Heimat), Entwurzelung (Die Fremde in der Fremde) und Exil thematisiert; die Serien von Bild- und Wortkompositionen korrespondieren mit den Textcollagen ihrer Prosawerke. Neuerdings arbeitet sie - ähnlich wie schon ihr Mann, der Bildhauer und Maler Gian Pedretti - mit so genannten Überschreibungen: Nur leicht mit Farbe übermalte Zeitungsseiten, Bilder und Fotos werden Schicht um Schicht mit der eigenen Handschrift überschrieben, so dass immer neue Schriftmuster und -bilder entstehen.

 

 

© Erica Pedretti, o. T., 2007, www.kulturraum.ch

 

Bevorzugte Materialien für ihre Skulpturen sind Bambus, Schilf und Ruten, aber auch Gummi und Baumwollstoffe, die in Plexiglaslösung getränkt wurden. Es sollen aber dezidert keine Flugmaschinen sein; sie selbst erinnern ihre Skulpturen eher an Fledermäuse oder geflügelten Ahorn-Samen. In einem ganz und gar unliterarischen Sinn seien sie poetische Wesen, die viel Raum für Assoziationen ließen. Ihre Objekte schweben, muten häufig jedoch auch verletzt an, gerupft und zerfetzt, nurmehr als Reste von Flügeln erkennbar (Ikarus-Motiv). Sie sind filigran und dennoch raumgreifend.

 

 

 

Pedretti arbeitet auch mit geometrischen Formen: Zylinderröhren,Würfeln oder Pyramiden. So entstand z.B. die Installation Asyl aus sechs achteckigen Zelten aus Eisengestänge und hellblauen, durchsichtigen Kunststoffnetzen als Dach, das keinen Schutz bietet. Ein Zelt als tragbarem Zuhause und die Worte der tschechischen Nationalhymne Kde domov m ů

j (Wo ist meine Heimat?), die sie an Wände und auf den Fussboden sprühte, genügten Erica Pedretti, um sich in ihrer alten Schule, dem ehemaligen Augustinerkloster ihrer Geburtsstadt Sternberg/ Šternberk zu präsentieren.

 

 

 

 

 

 

© galleria_edizioni periferia -erica pedretti, Luzern

 

 

 

 

Ausgewählte Literatur zu Erica Pedretti

Ingeborg Fiala-Fürst (Hrsg.): Lexikon deutschmährischer Autoren. Loseblattsammung. Univerzita Palackého, Olomouc 2002, 2006.

Meike Penkwitt: Erinnern zwischen Performanz und Referenz. Die Erinnerungstexte der Autorin Erica Pedretti. In: Erinnern und Geschlecht, Band II. Josef Fritz Verlag, Freiburg 2007, S. 237–263

Jürgen Serke, Erica Pedretti. In: Ders.: Frauen schreiben. S. Fischer, Frankfurt am Main 1982, S. 265–282

Lucy Topolská: Erica Pedretti und ihr Roman vom Erinnern und Vergessen. In: Topolská/ Václavek: Beiträge zur deutschsprachigen Literatur in Tschechien, Olomouc 2000, S. 207–210

Beatrice von Matt: Frauen schreiben die Schweiz. Verlag Huber Frauenfeld, Stuttgart, Wien 1998, Pedretti u.a. S. 157– 174

Dominik Müller: Erica Pedretti – Ferdinand Hodler, In: Konstanze Fliedl (Hrsg.): Kunst im Text. Stroemfeld/nexus 72, Frankfurt und Basel 2005, S. 181–199

Sigrid Weigel (Hrsg.): Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin. Böhlau Verlag: Köln/ Weimar/Wien 1992, S. 77–99

Gerda Zeltner: Erica Pedretti. In: Dies.: Das Ich ohne Gewähr. Gegenwartsautoren aus der Schweiz. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 101–123

 

 

 

© Katja Schickel/www.letnapark-prager-kleine-seiten.com


 

 


 


 



 

 



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