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Ressentiment und Vorurteil – Begrenztes Europa

Eine Polemik zur deutschen Armuts- und Zuwanderungsdebatte

von Katja Schickel


Europa war immer schon voller Grenzpfosten und Mauern, die Fremde daran hindern sollten, Einlass ins jeweilige Refugium (Trutzburg, Feste, Schloss, Stadt, Gemeinde, Kloster etc.) zu erhalten. Die Menschen vor diesen Mauern waren nicht selten völlig ungeschützt, galten als obdachlose Wegelagerer, Gesindel bzw. unliebsame Eindringlinge, manchmal sogar als Vogelfreie, die allenfalls Krankheit und Not brachten (von den vielen Kriegen, Kämpfen, Scharmützeln und Belagerungen ganz zu schweigen). Nach Königreichen, Fürsten- und Herzogtümern mitsamt all ihrer wichtigtuerischen feindseligen Kleinstaaterei kamen die Grenzen der Nationalstaaten, mit dem Kalten Krieg noch der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer hinzu: Scheinbar unüberwindbare, durch Waffenarsenale, Panzer und Raketen gesicherte Grenzwälle, die jedoch – statt wie geplant für eine (halbe) Ewigkeit gebaut – gerade mal vierzig Jahre hielten, bis sie mitsamt des Stacheldrahts und aller Schießanlagen verschwanden und von den Landkarten, aus den Legenden gestrichen wurden, allerdings offenbar nicht aus allen Köpfen. Heutzutage sind es vor allem die Geldströme, die reiche Inseln von den armen trennen. Wer gedacht hatte, spätestens mit EU-Osterweiterung und Schengen-Abkommen hätte sich die europäische Idee von Gleichheit und Freizügigkeit zumindest aller EU-BürgerInnen, immerhin die Kernsubstanz europäischer Integration, durchgesetzt, sieht sich hintergangen und getäuscht – im Stegreif etwa so: Es war doch alles gar nicht so gemeint. Es waren nur Zaubersprüche, mit denen die Menschen von der Tourismusindustrie angelockt wurden, ihr Geld einmal grenzüberschreitend anderswo auszugeben. Europa – das ist mittlerweile doch nur noch ein gewinnbringender Werbegag der Wirtschaft. Alle anderen laufen mittlerweile davon, wenn sie das Wort bloß hören. Simsalabim: Wo glänzend und großartig Europa, gar europäische Einigkeit oder Solidarität draufsteht, ist gar nichts drin. Nada, niente, nic. Das ist der Trick. Nur an den Rändern, ganz unten im Zylinder, kleben – fast wie vergessen – die altbekannten Slogans und Etiketten, der fremdenfeindliche, alltäglich-rassistische Bodensatz.
 

Natürlich hat es die - pünktlich zur Jahreswende - heraufbeschworene Einwanderungswelle von Rumänen und Bulgaren nicht gegeben (weswegen wir hier ersatzweise nur ein Foto eines Stücks leckerer Donauwelle zeigen können), wie schon früher nicht die von Polen und Tschechen befürchtete. Aber auch die wurden prophylaktisch kriminalisiert und unter Generalverdacht gestellt (Diebstahl und Prostitution). Man hätte den diversen Wahrsagern, die vermutlich zwischen den Jahren (zu) tief ins Glas geschaut hatten, keinen Glauben schenken sollen, weil man es doch schon vorher hätte besser wissen können: Nachdem z. B. in Deutschland einmal die Parole ausgegeben worden war: Kinder statt Inder sind nicht nur die Kinder, sondern auch die IT-Spezialisten, die Ingenieure und Wissenschaftler vom indischen Subkontinent, die man vor ein paar Jahren so dringend haben wollte (weil man zwar immer Fachkräfte braucht, sich aber ihre Ausbildung sparen will), ausgeblieben. Die mochten das deutsche Klima nicht, und es war nicht meteorologisch gemeint. Die Auswanderungswilligen, geschätzte drei Millionen aus Rumänien und Bulgarien, haben ihre Heimat längst verlassen und leben heute überwiegend in Italien, Spanien und anderen Ländern mit romanischen Sprachen, manche zog es bis nach Nordamerika. Sie wollen offenbar ungern in Staaten sein, in denen sie zu EU-BürgerInnen zweiter oder dritter Klasse degradiert und vor allem mit niedrigen Löhnen und Gehältern abgespeist werden. Man muss ihnen Menschenwürde nicht erklären. Sie fragen nach der Bedeutung von Demokratie, Toleranz und Humanität in den westeuropäischen Zivilgesellschaften. Bulgarien und Rumänien sind seit 2007 in der Europäischen Union, der Zutritt zum grenzenlosen Schengen-Raum kann ihnen nicht verwehrt werden. Etwas hysterische Deutsche (aller Schichten übrigens!) palavern beispielsweise von Überfremdung, wenn ein paar tausend Menschen Asyl beantragen, andere ihre Arbeitskraft verkaufen und Wohnung suchen, um einigermaßen auskömmlich leben zu können. Dann fühlen sich plötzlich viele berufen, die sozialen Netze (die analogen, nicht die digitalen) zu schützen, die sie doch sonst hin und wieder gerne mal am liebsten ganz abschaffen würden, anstatt es den - in ihren Augen - Arbeitsunwilligen, Faulen und Bildungsfernen (s. hier auch: Auf der Galerie) unter die Hintern zu schieben, damit die es sich in der sozialen Hängematte (das meint: Lebenshaltungskosten abzüglich Fixkosten wie Miete, Strom und Heizung – auf Seiten dieser Kritiker das Äquivalent etwa für ein gutes Arbeitsessen oder eine extravagant-schlichte Krawatte) vermeintlich noch bequemer machen können. Armut gibt es für diese Welterklärer (die es sich offenbar auch im Kopf gerne bequem machen, vielleicht daher die Projektion) entweder gar nicht oder sie ist selbst verschuldet. Diese Maxime gilt im eigenen Land wie für ganz Europa. Wer abgehängt am Boden liegt, gehört nicht dazu (nicht zu uns). Der Armut möchte man nicht ins Gesicht schauen. Sie ist nicht schön und gestylt, manchmal riecht sie auch. Man will die Augen verschließen, um sie nicht sehen zu müssen. Wenn man sie nicht sieht, so der alte Kinderglaube, gibt es sie auch nicht. Wenn es sie dennoch gibt, muss man sie wenigstens so fern wie möglich von sich weghalten. Es wird – schon aus Prinzip – nicht geteilt. Für St. Martin-Komplexe und derlei Sentimentalitäten gibt es einen Tag im Dezember. Basta.

  

Osteuropa: Dieses unbekannte Gebilde (aus Mitteleuropa, vielen unterschiedlichen ost- und südosteuropäischen Staaten durch Kalten Krieg, Nato und Warschauer Pakt geformt) hatte man von Westeuropa aus betrachtet (das sich ebenfalls erst nach dem 2.Weltkrieg bildete und wozu natürlich bald auch der „entwickelte“ Süden und der noch entwickeltere Norden Europas gehörten) irgendwie nur hinter Mauern, eingezäunt und durch Grenz- und Schussanlagen getrennt, lieb. Dahinter waren lange keine Menschen „zum Anfassen“, sondern allenfalls vom Kommunismus Unterdrückte, eher Phantasmagorien, Gespenster als reale Personen. Ab 1989, nach dem Ableben des Sozialismus und dem Zusammenbruch der Industrien, hat sich wenigstens die Wirtschaft  um die Leute gekümmert. Alle westeuropäischen Groß- und Kleinunternehmen sind fündig geworden: Sie fanden billige Arbeitskräfte vor, günstigstes Steuerrecht, staatliche Privilegien, allerlei EU-Subventionen. Sie kauften Land und Immobilien zu besten Konditionen, kontrollieren mittlerweile ganze Wirtschaftszweige und diktieren die teuren Preise, die sich wiederum die Bevölkerung mehrheitlich nicht leisten kann, weil Löhne und Gehälter so niedrig sind (s. hier: Reise nach Košice).
Zwischenzeitlich ist noch eine Wirtschaftskrise „passiert“ (nach einiger Aufregung und eifrigem Hin und Her ist sie in unseren Kreisen und Breiten mit einem Wisch auf einmal weg, d.h. mit einigen medialen Kunststückchen von der Hauptbühne verbannt), eine Krise immerhin, die zu drastischen Sparmaßnahmen ausgerechnet in den schon vorher ärmeren EU-Ländern geführt hat, was eine Angleichung von Lebensstandard und Wohlstand von Ländern wie Bulgarien und Rumänien und dem wirtschaftlich hochgerüsteten Westen (allen voran Deutschland) zurzeit vollkommen unmöglich erscheinen lässt (Griechenland beispielsweise ist bereits jetzt schon fast zu Tode gespart). Wie der Wohlstand der einen aber mit der Armut der anderen zusammenhängt, will man lieber nicht wissen. (* s.u.)

 

Die Debatte um Armutsmigration und Sozialmissbrauch in Deutschland wird unredlich aufgebauscht, ist unverantwortlich, scheinheilig und voller Dünkel. Die anti-osteuropäische Stimmungsmache, auf parteipolitischer Ebene durch CSU-Schaumschläger aufgebracht und von Teilen der CDU angeheizt, führt in die Irre, verfehlt allerdings nicht ihr Ziel: nationale Abschottung, um die Pfründe zu sichern, und rechtspopulistisches Aufwiegeln von Ressentiment und Vorurteil. Schließlich fühlen sich auch viele Deutsche abgehängt, weil sie am gesellschaftlichen Reichtum längst nicht mehr teilhaben können, selbst wenn sie erwerbstätig sind oder waren – und die Gutsituierten sichern sowieso lieber still und heimlich ihre Besitzstände, manche durchaus auch über Ländergrenzen hinweg.
Elmar Brok, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im EU-Parlament und (ehemaliger) Bertelsmann-Lobbyist, will beispielsweise gar von allen Bulgaren und Rumänen Fingerabdrücke nehmen lassen, um so Missbrauch zu verhindern. Wie das eine das andere verhindern soll, ist zwar völlig unklar, deutlich wird aber die ziemlich demokratie- und rechtsfreie Denkungsart, die gefährlich ist, weil sie Kennzeichnung und Abstempeln nach Nationalitäten bzw. Staatszugehörigkeit wieder salonfähig macht und etliche Nachahmer findet. Viele seiner Kollegen in Brüssel haben sich allerdings von diesen Überlegungen erst einmal eilig distanziert, weil sie „populistische Demagogie“ seien, wie der rumänische Ministerpräsident Victor Ponta kurz und knapp den Unmut zusammenfasste.
In Deutschland geht die von der CSU lancierte Diskussion in den Medien, den Online-Foren weiter und bekommt dort gleich krassere Dimensionen. Turnusmäßig muss offenbar mal wieder eine nationale Sau durchs Dorf getrieben werden. Da sind wieder die rechten Stimmungsmacher unterwegs, denen immer ein Stolperreim einfällt. 
Die Parole: "Wer betrügt, der fliegt", macht alle, die nach Deutschland kommen, zu potentiellen Kriminellen, vor denen man sich zurecht schützen muss. (Die NPD fand Zuspruch mit ähnlich witzig gemeinten Sprüchen wie: "Ist der Ali kriminell, raus mit ihm ganz schnell!" oder: "Unser Geld für Oma, nicht für Roma!") 

Wenn auch Zwangsmaßnahmen vermutlich nicht durchgesetzt werden (können), der Tonfall wird schärfer und fremdenfeindlicher. Je mehr Kategorisierungen und Reglementierungen neuerlich ausgedacht und auf ihre Praktikabilität hin geprüft, also alte und neue Grenzen gezogen werden – nationale innerhalb Europas, Hierarchien zwischen dem ominösen Süden und Norden, Westen und Osten, schließlich die wichtiger werdenden Außengrenzen, um den EU-Kontinent freizuhalten von unliebsamen Flüchtlingen, die man, um die Wahrheit zu sagen, lieber im Meer verrecken lässt, als sie aufzunehmen – desto enger und unwirtlicher wird der Raum, den man doch vorgab schützen zu wollen. Auch das hatten wir schon. (s. hier auch: Spots 2014)


Fakten
Seit dem 01.01.2014 haben rumänische und bulgarische Staatsangehörige also die gleichen Rechte wie alle anderen EU-BürgerInnen auch, wozu der Grundsatz der Gleichbehandlung mit inländischen Staatsangehörigen gehört. Deutschland ist neben Österreich das letzte Land, dass bis zu diesem Stichtag abgewartet hat. Freizügigkeit heißt, dass alle EU-BürgerInnen in der gesamten EU arbeiten und sich drei Monate lang grundsätzlich ohne Erlaubnis in jedem EU-Land aufhalten dürfen. Anrecht auf längeren Aufenthalt haben z.B. ArbeitnehmerInnen, Selbständige, Familienangehörige, Studierende und unter bestimmten Umständen auch Arbeitssuchende. Nach fünf Jahren besteht ein Daueraufenthaltsrecht.
Der uneingeschränkte Zugang zum EU-Arbeitsmarkt gilt für alle rumänischen und bulgarischen StaatsbürgerInnen: Selbständige, Fachkräfte, Hochqualifizierte, Pflegepersonal und Saisonarbeiter arbeiteten und lebten schon vor dem 01.01.2014 in Deutschland. Das Zerrbild einer bedrohlichen sog. Armutszuwanderung ist also falsch. Deutschland profitiert von der Freizügigkeit, insbesondere auch von der Beschäftigung, den Beitrags- und Steuerleistungen der eingewanderten BürgerInnen aus Rumänien und Bulgarien.
Für den jetzt wieder beklagten, bislang nie nachweisbaren Missbrauch gibt es keinerlei Belege. Bulgarische und rumänische Staatsangehörige machen mit rund 400.000 Personen etwa 5,5 % der ausländischen Bevölkerung in Deutschland aus. 2014 könnte sich ihre Zahl um 100.000 bis 180.000 erhöhen, die Bundesregierung rechnet jedoch nicht mit „erheblichen Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt“. In der Vergangenheit gab es in Bezug auf osteuropäische Beitrittsländer, etwa Polen, stets vollkommen überzogene Migrationszahlen. Die „Flut“ und „Schwemme“, vor der da in regelmäßigen Abständen gewarnt wurde, ist stets ausgeblieben. Ein großer Teil der auswanderungswilligen Rumänen und Bulgaren befindet sich (s.o.) bereits im EU-Ausland, überwiegend allerdings nicht in Deutschland. Vergleicht man den Zeitraum von Ende 2010 bis Ende 2012, so ist die Zahl sozialversicherungspflichtig beschäftigter Rumänen (+73 %) und Bulgaren (+67,8 %) in Deutschland stärker gestiegen als deren Zuzugszahlen (+ 62 % bzw. + 58,6 %). Das Fazit der Bundesregierung lautet: „Diese Entwicklung deutet auf weiterhin gute Beschäftigungsaussichten auf dem deutschen Arbeitsmarkt hin“.
Die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen ist ähnlich: Die Arbeitslosenquote unter den erwerbsfähigen MigrantInnen beider Länder betrug Mitte 2013 7,4 % (etwa 15.000 Erwerbslose Ende des Jahres 2013) – und lag damit noch unter dem Wert der Gesamtbevölkerung (7,7 %), und erst recht unter dem der ausländischen Bevölkerung (15 %). Jeder zehnte Bulgare und Rumäne war auf Hartz IV-Leistungen angewiesen, als Arbeitsloser oder „Aufstocker“, auch das liegt unter dem Wert aller Ausländer (15 %). Der Anteil von rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen an allen Hartz IV-Beziehenden betrug im Juli 2013 nur 0,6 Prozent – dies waren gerade einmal 38.000 Personen.
Dass Armutsmigranten häufiger ein Gewerbe anmeldeten, um dann staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen (Scheinselbständigkeit), ist ebenfalls aus der Luft gegriffen. Ende 2012 bezogen gerade einmal 3,3 % aller rumänischen Selbstständigen in Deutschland ergänzende Sozialleistungen (561 von 17.000) – eine sehr geringe Zahl, die nicht für einen etwaigen Missbrauch, von wenigen Einzelfällen abgesehen, spricht. Das Klischee, die Betroffenen kämen vor allem wegen des Kindergelds, bestätigt sich ebenfalls nicht: Ende 2012 erhielten nur 27.000 von etwa 324.000 rumänischen und bulgarischen Elternteilen Kindergeld (8,3 %).
Die von der CSU geforderten Wiedereinreisesperren sind nach EU-Recht wegen des überragenden Werts der Freizügigkeit nur in sehr begrenzten Ausnahmefällen möglich, nämlich nur bei akuten Gefahren für die öffentliche Ordnung. Bereits jetzt gibt es im deutschen Recht Möglichkeiten, ungerechtfertigte oder gar missbräuchliche Ansprüche auf Aufenthalt oder Sozialleistungen abzuweisen. Bisher wurden jedoch weniger als siebenhundert Personen aus Rumänien und Bulgarien deswegen zur Ausreise gezwungen. Nach deutschem und europäischem Recht sind Sozialleistungen während der ersten drei Monate sowieso ausgeschlossen. Das deutsche Sozialrecht sieht darüber hinaus zunächst eine pauschale Ausschlussregelung für EU-BürgerInnen vor, die eine Arbeit suchen. Sozialgerichte zweifeln allerdings, ob diese Regelung mit EU-Recht vereinbar ist. Nach einem Urteil vom September 2013 muss in jedem Einzelfall geprüft und abgewogen werden, ob einer EU-Bürgerin oder einem EU-Bürger Leistungen zustehen oder nicht, ein pauschaler Ausschluss sei EU-rechtswidrig. Der Europäische Gerichtshof betont den Grundsatz der Gleichbehandlung und der Solidarität innerhalb der Europäischen Union. (Zahlen: Hartz IV-Info)


* Umgekehrt wird ein Schuh draus

Die gängige Praxis zwischen Deutschland und Ländern wie Rumänien und Bulgarien sieht so aus: Großunternehmen und kleinere mittelständische Firmen gründen Dependencen in den von den jeweiligen Kommunen und Gemeinden bereits erschlossenen Gewerbegebieten: d.h. Land und Infrastruktur kosten sie nichts oder nur wenig; sie halten sich an die Vorgaben des jeweiligen nationalen Mindestlohns: d.h. sie produzieren mit billigsten Arbeitslöhnen oft hochwertige Waren, die teuer verkauft werden können; ihre Tochterfirmen genießen die Vorzüge niedriger Steuern in den Ländern und bleiben unbehelligt vom deutschen Finanzamt. Das alles ist legal.

Legal ist auch die quasi Au Pair-Stellung (franz.: auf Gegenleistung) mancher ArbeitnehmerInnen aus Rumänien oder Bulgarien (ähnliches gilt übrigens auch für andere EU-Staatsangehörige): Sie kommen aus den in ihren Heimatländern etablierten deutschen Firmen in einer als Austausch deklarierten Aktion nach Deutschland, um vor Ort in gleicher Position zu arbeiten, erhalten allerdings nur den jeweiligen nationalen Mindestlohn (in Rumänien und Bulgarien zurzeit rund dreihundert Euro monatlich), also für die gleiche Arbeit eine wesentlich geringere Bezahlung als ihre deutschen ArbeitskollegInnen. Es handelt sich im Übrigen häufig um hochqualifizierte Arbeitskräfte. Dadurch verdienen die Unternehmen zusätzlich ein Vielfaches. Auch diese Ausbeutung ist legal. Der Austausch, die simulierte Gleichstellung findet von vornherein auf einer vollkommen schiefen Ebene statt. Vielleicht soll mit der schmutzigen Kampagne nur von diesem Tatbestand des Missbrauchs (vom eigenen Schmutz sozusagen) abgelenkt werden. Man muss allerdings über den Missbrauch von Scheinselbständigkeit reden, in die Migranten von Subunternehmern gezwungen werden, um sie für Hungerlöhne (ohne Sozial- und Krankenversicherung) arbeiten zu lassen. Man sollte endlich die vielen Hausbesitzer belangen, lauter ehrenwerte Bürger, die vor allem in den Großstädten Menschen auf engstem Raum zusammenpferchen und überteuerte Mieten verlangen. Die aus dieser Situation entstehenden Probleme (Müll, mangelnde Hygiene-Einrichtungen, Zoff) werden in der Regel den dort Lebenden angelastet, nicht den eigentlich kriminellen Abzockern. Das mittlerweile deutliche Armutsgefälle zwischen den EU-Staaten wird noch tiefer, wenn man selektiv die gut Ausgebildeten aus den ärmeren Ländern gerne aufnimmt, sie quasi absaugt und sich damit auch noch eigene Ausbildungskosten spart (Lehre, Studium, Fachausbildung), aber diejenigen, die man aus eigener nationaler Sicht nicht braucht, in manchmal extrem prekären Verhältnissen belässt. Darauf müsste die EU sofort reagieren. Gerade das politisch so starke, reiche Deutschland sollte darüber hinaus auch zeigen, dass es aus seiner Vergangenheit gelernt hat. 

 

© Cartoons: Harm Bengen; Fotos: Marcel Dzama - Scared of his own ghost, sw; Sicherung der europäischen Außengrenze im Mittelmeer - wienerzeitung.at

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