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Gary Shteyngart von Katja Schickel

11. Internationales Literaturfestival Berlin 2011

 

Gary Shteyngart hat ein gesellschaftskritisches Buch geschrieben, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft spielt; er hatte sich alles fein ausgedacht und witzig gefunden - und nun ist seine fiktionale Satire von der Realität eingeholt geworden. In Super Sad True Love Story trifft der nicht mehr ganz taufrische Lenny auf eine junge, reiche koreanisch-stämmige Amerikanerin, die nichts im Kopf hat außer Shoppen, Sex, Chatten und Telefonieren. Lenny arbeitet in einer Art Wiederaufbereitungs-Anlage für menschliche Körper, sprich in der Schönheitsindustrie, denn nichts ist so verpönt wie das Altern. Sein etwa siebzig-jähriger Chef hat sich gerade in einen knapp Fünfunddreißig-Jährigen ummodeln lassen, die gesamte Gesellschaft liegt für das perfekte Aussehen in modernen Prokustes-Betten. Ziel ist die bestmögliche Vermarktung der eigenen Person. Von Terminals an jeder Straßenecke, von den eigenen Smartphones aus streamen und bloggen alle im Internet, rufen ständig Daten ab, nicht nur die eigenen, sondern auch die aller anderen: Kontostand, Fickfaktor (wer mit wem wie oft als Gradmesser für Attraktivität und gesellschaftliche Akzeptanz), Schönheits-OP´s, Gesundheitszustand und was man sonst so braucht, um mit jemand in Kontakt zu treten oder eher nicht bzw. ihn oder sie fertig zu machen. Die deutsche Kritik hat ein bisschen naserümpfend auf das vergnügliche, flott geschriebene Buch reagiert: es war ihr zu viel Kulturpessimismus, Schwarzmalerei und moralische Biederkeit. Da merkt man, dass die Leute keine Ahnung von sog. sozialen Netzwerken wie z.B. facebook, haben, die bereits heute schon fleißig solche Informationen sammeln und in denen der Grad der Selbstentblößung ständig steigt - von der faltenfreien Prominenz und Semiprominenz ganz zu schweigen. - Shteyngart ist auch auf dem Podium ein gut gelaunter, zu Späßen aufgelegter Gesprächspartner, obwohl er sagt, wenn er die Welt so betrachte, verginge ihm ab und zu das Lachen. Die durchsichtigen Jeans, die nippelfreien BH´s fand er einen lustigen Gag, sie waren allerdings bereits in diesem Jahr schon der letzte Schrei auf den diversen Laufstegen. Im Buch sind die USA pleite, werden von China gestützt, haben sich in einen Überwachungsstaat verwandelt und verzetteln sich in sinnlosen Kriegen. In Wirklichkeit bricht 2008 der Finanzmarkt zusammen, die EU fast auseinander, China bietet pro forma seine Hilfe an, ist aber schon längst in den USA und Europa Großinvestor, kauft Aktien, Immobilien und Ländereien auf. Es gibt 25% Arbeitslosigkeit, kein Geld für Bildung und Gesundheit und jeder sechste Amerikaner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Obama hat keine einzige Reform durchsetzen können. Lenny ist auch Gary Shteyngart, den man nicht für voll nimmt und auslacht, weil er zu Hause Regale voller Bücher hat und auf Papier schreibt. Während er zum Schluss noch über den Einfluss eines neu erstandenen iPhones auf seine Psyche erzählt, werden reflexartig schon die ersten Handys und Smartphones gezückt. Schließlich muss man den nächsten Termin vereinbaren. Sonst glauben die Leute gar, man sei ganz aus der Welt.

Bio-Bibliographisches: *1972 im damaligen Leningrad als Sohn einer jüdischen Familie. 1979 Emigration nach New York. Schon als Kind begeisterter Leser russischer und jüdisch-amerikanischer Literaten, Studium der Politikwissenschaften am Oberlin College in Ohio. Arbeit bei einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge, Kulturjournalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, Kreatives Schreiben an der City University of New York, MFA.
Eine Reise nach Prag inspiriert ihn zu seinem ersten Roman, mit dem er auf einen Schlag in den USA bekannt wird: The Russian Debutante’s Handbook (2002; dt. Handbuch für den russischen Debütanten, 2003). Darin erzählt Shteyngart von einem jungen russischen Einwanderer, der in Amerika an eine Gruppe mafiöser Landsleute gerät. Er lässt sich von der Russenmafia anheuern und geht in eine Hauptstadt in Europas Wildem Osten, wo ihm eine Blitzkarriere als Gangster winkt. Der Roman war nicht zuletzt eine humorvolle Abrechnung mit dem Prag der Neunziger, das bekiffte junge Amerikaner so toll fanden. 2006: Absurdistan (dt. Snack Daddys abenteuerliche Reise, 2006) erzählt von einem russischen Amerikaner, der zugleich der fettleibige Sohn des reichsten Mannes von ganz Russland ist. Nachdem sein Vater jedoch einem Attentat zum Opfer gefallen ist, sitzt der Oligarchenspross in Petersburg fest und gerät in post-sowjetische Bürgerkriegswirren. Vorbilder wie Nabokov, Turgenjew und Philip Roth stehen bei seinem Schreiben Pate, aber zugleich ist Shteyngart „so böse wie Borat und lustiger als Nabokov [...], ein großer Satiriker, in dessen Händen sich die Gegenwart zu einem Gebilde verbiegt, das schillert und glänzt und rattert und rappelt wie eine Albtraummaschine für erwachsene Kinder (Die Zeit). - Fellow an der American Academy in Berlin, Stephen Crane Award for First Fiction und National Jewish Book Award for Fiction. Gary Shteyngart lebt in Manhattan. - Die ins Deutsche übersetzten Bücher sind im Berlin Verlag, das neueste bei Rowohlt erschienen.

Sein Satz: Wahrscheinlich wird es irgendwann mehr Leute geben, die Romane schreiben, als solche, die sie lesen - so ist das ja heute schon bei Gedichten.



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