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Praha - Prag: Eine geteilte Geschichte

Texte deutschsprachiger Autoren zwischen 1930 - 1948

Ausgewählt von: Katja Schickel

 

 

Für eine Veranstaltung und Lesung des PLH, denen die Autorin den Titel gab, hat sie 2008 recherchiert, an der Konzeption mitgearbeitet, mit Zeitzeugen gesprochen, sie eingeladen und die Lesung arrangiert.

Die Texte sind künstlerisch von hoher Qualität, darüber hinaus Zeitdokumente, die nicht in Vergessenheit geraten sollten.

 

 

1. Reinerová, Lenka: Das Traumcafé einer Pragerin, Berlin 1999, S. 9

2. Leppin, Paul: Gebet für die Heimat, in: Stimmen aus Böhmen. Eine Sammlung, London 1944, 8.

3. Kornfeld, Paul: Eine neue Ethik, Prag 1930

4. Brod, Max: Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion, Berlin 1968 - ursprünglich: Rebellische

Herzen 1957-, S. 46

5. Demetz, Peter: Böhmische Sonne, mährischer Mond, Wien 1996, S. 130 und S. 140

6. Grab, Hermann: Die Advokatenkanzlei , in: ders.: Hochzeit in Brooklyn, Ffm 1995, S. 55 ff

7. Sonnenschein, Hugo: Die Führer, in: ders.: Die Fesseln meiner Brüder. Ausgewählte Gedichte,

München 1984, Erstveröffentlichung 1934

8. Winder, Ludwig: Brief an die American Guild vom 11.11. 1938, aus: Prager deutsche Literatur,

Ausstellungskatalog, Literaturhaus Berlin, 1995, S. 151

9. Fürnberg, Louis: Prag 1939, in: ders.: Hölle, Hass und Liebe. Gedichte, Berlin 1960

10. Natonek, Hans: Die Paß-Stunde, in: ders.: Die Straße des Verrats, Publizistik, Briefe und ein

Roman, Berlin 1982, Erstveröffentlichung : Pariser Tageszeitung, 1. Mai 1939

11. Hahn, Joseph: Bohemia, in: ders.: Die Doppelgebärde der Welt, Gedichte, Prosa, Zeichnungen,

Göttingen 2003

12. Fürnberg, Louis: Herbstlied im Kriege, in: ders.: Hölle, Hass und Liebe. Gedichte, Berlin 1960,

Erstfassung 1944

13. Fuchs, Rudolf: Die Republik wird auferstehen!, in: Stimmen aus Böhmen. Eine Sammlung,

London 1944, S. 2

14. Mändl-Roubičková, Eva: Langsam gewöhnen wir uns an das Ghettoleben. Ein Tagebuch aus

Theresienstadt, Hamburg 2007

15. Hoffmann, Camill: So blanke Augen, in: Serke, Jürgen: Böhmische Dörfer, Wien u. a. 1987

16. Fürnberg, Louis: Die Wende, in: ders.: Hölle, Hass und Liebe. Gedichte, Berlin 1960

17. Perutz, Leo: Brief vom 17. Mai 1945 an seinen Bruder Paul nach NY, in: Klappdor, Heike: Ich

bin ein unheilbarer Europäer, Berlin 2007

18. Fürnberg, Louis: Heimkehr, in: Heimat, die ich immer meinte. Böhmen und Deutschland in

Gedichten aus dem Nachlaß, Berlin u. a. 1964

19. Fürnberg, Louis: Lauter fremde Leute, in: ders.: Hölle, Hass und Liebe. Gedichte, Berlin 1960

20. Wechsberg, Joseph: Homecoming, New York 1947, S. 21

21. Sommer, Ernst: Die Unschuldigen, in: ders.: Erzählungen, London 1944

22. Perutz, Leo: Brief aus dem Exil, in: Klappdor, Heike: Ich bin ein unheilbarer Europäer, Berlin

2007

23. Fürnberg, Louis: Abschied von Prag, in: ders.: Heimat, die ich immer meinte. Böhmen und

Deutschland in Gedichten aus dem Nachlaß, Berlin 1964

24. Urzidil, Johannes: Prager Triptychon, München 1960, S. 160

 

 

 

Magdalena Kožená: Songs my mother taught me (Když mne stará matka) by Antonín Dvořák

 

 

 

Zwischenstück

 

 

Gedanken zur so genannten tschechisch-jüdisch-deutschen Symbiose

 von Antonín J. Liehm

 


[I]m Holocaust wurden mehr als sechs Millionen europäischer Juden ermordet, und durch ihn verlor unser Kontinent einen großen Teil seiner schöpferischsten Bevölkerung. Genozid gab es schon vor dem Holocaust und Genozid hat, wie wir wissen, mehrfach auch nach ihm stattgefunden. Aber die Idee der Ausrottung der gesamten jüdischen Bevölkerung und vor allem ihre Ausführung, bleiben nicht nur in der europäischen Geschichte ein einmaliges Ereignis. Trotz dieser schon so oft analysierten Einmaligkeit bleibt der Holocaust eine immer währende Mahnung, die weit über dessen Einmaligkeit hinausgeht, ein [...] Aspekt europäischer Gegenwart und Vergangenheit [...], der mit dieser Tragödie wesentlich zusammenhängt und dem wir fortwährend begegnen, ob wir es wollen oder nicht..Ich möchte ihn als den Antisemitismus bzw. den Antijudaismus ohne Juden bezeichnen. Nach dem Holocaust haben in vielen europäischen Ländern die Juden aufgehört, als eine zahlenmäßig wichtige Bevölkerungsgruppe eine Rolle zu spielen. Und dennoch: Vor einiger Zeit im Gasthaus – mein Beispiel ist aus Nordböhmen – wird am Stammtisch beim Bier philosophiert: „An all dem sind doch die Juden schuld!“, löst einer der diskutierenden Biertrinkern entschieden das Problem. Die anderen schließen sich bereitwillig an, und schon hat das Biergerede die entsprechende Richtung angenommen. Der zufällig anwesende Gast am Nebentisch kann sich nicht mehr zurückhalten und fragt: „Gibt es hier in der Gegend viele Juden?“ Die Bierrunde wird verlegen: „Kennst Du einen Jud?“ „Nein.“ „Und du?“ „I wo ..., ist aber doch egal ...“
Ähnliches kann einem überall begegnen, und auch der den preisgekrönten Band von Rabinovici abschließende Essay zeigt dies in mehr als überzeugender Weise. Österreich, durch eigenes Verschulden in den letzten Jahren auf der Vorbühne des politischen Theaters, kann hier gleichwohl als Beispiel und als Memento dienen. Aber auch die Stammtischbrüder aus Nordböhmen gehören dazu.
In seinem Essay Credo und Credit belegt Doron Rabinovici sehr überzeugend, dass Antisemitismus im Grunde eine Folge, ja ein Produkt des Christentums ist.
„Am Anfang war der Jude. Das Abendland brauchte ihn. Der Hass gegen die Gebote des allmächtigen Vatergottes, gegen die Strenge des Monotheismus und gegen die Gesetzmäßigkeit der Kreditwirtschaft, der Herrschaft des Geldes, des Gottes aller Waren, konnte auf die Juden abgelenkt werden ...“
Aber die Stammtisch-Antisemiten von heute, die nie einem wirklichen Juden begegneten, sind nicht einmal Christen, so glaube ich jedenfalls, wie Rabinovici sie versteht. Die tschechischen Katholiken dieser Generation sind - wie schon ihre Väter und Großväter - keine eifrigen Kirchgänger, die Stimme Gottes hören sie kaum. Ihr Antisemitismus im Lande ohne Juden ist ein Aberglaube, ein Stück Folklore, der sich seit Jahrhunderten im Unterbewusstsein jener Leute herausgebildet hat, die Vorurteile und diesen bestimmten Typus von politischer Folklore existentiell benötigen, um die fehlende eigene Identität zu stärken. Sie sind keine Faschisten und im Grunde auch keine wirklichen Rassisten. Sie sind nur in erschreckender Weise unsicher und ihr „virtueller Feind“, oder „das fremde Element“, von dem sie sprechen, ist vor allem eine Stütze ihrer eigenen Nichtexistenz.
In ähnlicher Weise ist der Rassismus gegen Schwarze bzw. Araber oft am stärksten gerade in Ländern, die keine koloniale Tradition haben. In Frankreich z. B. ist die äußerste Rechte nicht nur anti-jüdisch, sondern am stärksten anti-arabisch, und zwar zum Beispiel im Elsass, wo es wenige Araber gibt. [...]
Das Wort Böhmen gibt es im Tschechischen nicht. Und dabei können wir darauf nicht verzichten, wenn wir das Geheimnis und die Einmaligkeit der tschechischen Kultur, der tschechischen Literatur begreifen wollen. Böhmen, nicht das, was man heute so unschön Tschechien nennt, war ein Land, in welchem die tschechische Kultur aus drei Wurzeln gewachsen ist: aus der tschechischen, der deutschen und der jüdischen. Ihre Sprache war tschechisch, aber ihr tiefes vor-bewusstes Fundament war eben jene Symbiose von drei Kulturen, die jede genau so in ihr ihre Spuren hinterlassen hatte, wie diese in ihnen. Und dies gilt vor allem für die jüdische Kultur.
Ein anderer ausgezeichneter Essay von Rabinovici ist Leo Perutz (s. hier auch: Empfehlungen) gewidmet, dem mit Verspätung wiederentdeckten Stern am literarischen Firmament Europas im überaus wichtigen Sternbild dessen, was man als Prager deutsche Literatur bezeichnet. Fast überflüssig hier zu erwähnen, dass diese Literatur vor allem jüdisch war und deutsch geschrieben wurde.
Die Josephinischen Reformen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben den Juden Österreichs die Türe der Emanzipation zu gleichberechtigten Bürgern eines zentralistisch regierten Staates unter der Bedingung geöffnet, dass sie in deutschsprachigen Schulen schreiben und lesen lernen, obwohl sie seit Jahrhunderten, vor allem auf dem Lande, in Böhmen und Mähren, in einer tschechischsprachigen Umgebung lebten. Auch die deutsch sprechenden Bürger von Prag waren nur eine kleine Minderheit unter den Tschechen. Von diesen dreißigtausend Prager Deutschen waren dabei zwei Drittel Juden. Die tschechische Umgebung hat sie alle, Juden wie Nichtjuden, geprägt. Sprachlich gerade dort am stärksten, wo den Deutschen der Hintergrund der Sprache und des Argots fehlte und „das schöne böhmische Prager Deutsch“, die Literatursprache eines Franz Kafka, entstanden ist.
Der Prager Franz Kafka spricht von der noch heute uns faszinierenden Gefangenschaft durch die Stadt, in der er lebte: „Dieses Mütterchen (Prag) hat Krallen“ schrieb er und sicherlich meinte der damit nicht nur die einmalige Gefangenschaft seiner Sprache, aber diese alten und auch neueren Themen, die die ganze Prager deutsche Literatur durchdringen und ihre so oft beschworene Einmaligkeit zum großen Teil ausmachen.
Natürlich verkehrten die deutsch schreibenden Prager Literatur in anderen Kaffeehäusern und Gaststätten als diejenigen, die sich des Tschechischen bedienten. Undenkbar aber, dass sie sich nicht auf den wenigen Quadratkilometern jenseits der beiden Moldau-Ufer auch anderweitig begegneten, miteinander kommunizierten und sich auf verschiedenste Art und Weise gegenseitig beeinflussten.
So war es bekanntlich der Prager jüdische, deutsch sprechende Schriftsteller Max Brod, der Jaroslav Hašek und seinen Šveik die Tür zur Weltliteratur aufgestoßen hat, und derselbe Max Brod war es, was allerdings schon weniger bekannt ist, der auch dem Genie von Leos Janáček zur Weltgeltung verhalf.
Und genauso wahr, obwohl noch weniger bekannt, ist, dass in der Anarchistenrunde von Jaroslav Hašek, der einmal mit seiner Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen des Gesetzes den Wahlkampf der etablierten Parteien ad absurdum führen wollte, des öfteren auch der Klidas, „der Schweiger“ Franz Kafka saß - die Lieblingsautorin von ihm war z. B. Božena Nemcová mit ihrer Babička (Die Großmutter), die noch heute in jedem tschechischen Bücherregal steht. Es war derselbe Kafka, dessen Freunde sich ausgezeichnet amüsierten und laut lachten, während er ihnen aus seiner Prosa vorlas.
Aber bei weitem geht es nicht nur um diese zwei Riesen der Weltliteratur, um Kafka und um Hašek. Die tschechische Literatur saugte an den Leben spendenden Quellen, die wir unter den Namen Meyrink, Urzidil, Perutz, Kisch, Stefan Zweig, Kubin, Werfel und andere[n] kennen in gleicher Weise, wie diese deutsch schreibenden Schriftsteller in sich und in ihr Werk die tschechische Umgebung und nicht zuletzt auch die tschechische Literatur aufgenommen haben.
Vor einiger Zeit wurde ich gefragt, ob es im 19. Jahrhundert Prager jüdische Schriftsteller gab, die tschechisch schrieben. Mir fiel schließlich nur der so katholische Julius Zeyer ein und dann noch Rychlik mit seinem wunderbaren Buch Modche und Rezi. „Und wo bleibt Ignat Hermann, einer der populärsten und am meisten gelesenen tschechischen Autoren der Jahrhundertwende?“, warf jemand dazwischen. Ich war überrascht. Ich wusste es nicht, ich hatte es nie so gesehen. – Warum eigentlich nicht? Hätte ein nicht-jüdischer Schriftsteller mit dem Roman unter dem Titel Beim aufgegessenen Laden sein populärstes Buch schreiben können?
Und so gingen sie durch die Straßen von Prag, Schriftsteller und ihre Leser, sie schrieben und sie sprachen miteinander, tschechisch und deutsch, und dies alles hinterließ tiefe Spuren in ihrem Werk, im tschechischen Humor, in der tschechischen Ironie, die so typisch für die tschechische Literatur ist. Ich wollte schon immer wissen, wo der tschechische Humor endet und wo der jüdische beginnt. Denn ohne den letzteren hätte es auch unseren Švejk, das Symbol des Tschechischen par excellence, sicherlich nicht gegeben.
Erst im amerikanischen Exil musste ich die Erfahrung machen, dass die jüdischen Witze und Anekdoten, die ich überall erzählte und die ich sozusagen fast für unsere eigenen tschechischen Geschichten hielt, denn sie haben so wunderbar unsere tschechischen Gefühle und Situationen illustriert, nicht überall zum Lachen waren. Doron Rabinovici hat ihnen auch ein Kapitel gewidmet, und er kann sie wunderbar erzählen. Ich möchte mich anschließen mit einer Anekdote, die in Böhmen am populärsten zu Zeiten des so genannten „realen Sozialismus“ war:
Herr Kohn kriecht nach einem furchtbaren Pogrom irgendwo in Galizien aus dem Keller auf die Straße. Überall liegen Leichen. Zwischen den noch rauchenden Ruinen an einer Tür festgenagelt, durchbohrt mit einem Bajonett, sieht er plötzlich seinen Freund. Löwy. Er fragt: „Was machst du hier, Löwy, es muss doch furchtbar weh tun?“ „Ah, ah, nur wenn ich lache“.
„Wollen Sie mit all dem etwa behaupten, dass es in Böhmen keinen Antisemitismus gab?“ werden Sie vielleicht fragen. Natürlich gab es ihn. Sie werden ihn auch auf Seiten der tschechischen Literatur vorfinden. Und nach dem zweiten Weltkrieg, nach der fast totalen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Böhmens, fand der tschechische Stalinismus, genug jüdische Opfer für seine Prozesse. Die Reaktion allerdings, die er sich davon bei der tschechischen Bevölkerung erhoffte, blieb aus. Die verfolgten tschechischen Intellektuellen haben gerne von sich behauptet: „Wir sind die Juden dieses Regimes“.
Im Frühsommer des Jahres 1967, am Vorabend des heute schon berühmten Schriftstellerkongresses in Prag, als die bedrohlichen Wolken des Parteiapparats über den Köpfen der Intellektuellen ganz schwarz wurden, haben sie ein Manifest verfasst und namentlich unterzeichnet, Juden und Nichtjuden, gegen die antiisraelische Politik ihrer kommunistischen Regierung während des Sechstageskrieges. Und gerade dieses Manifest wurde von der kommunistischen Partei zum Anlass eines darauf folgenden antiintellektuellen Pogroms genommen. Aber sechs Monate später kam die Antwort der gesamten tschechoslowakischen Gesellschaft: der Prager Frühling des Jahres 1968.
Und so lebten wir nebeneinander, ohne zu wissen und ohne zu fragen, wer Pessach und wer Ostern feiert. Mein Vater, Rechtsanwalt und tschechischer Nationalist, nahm einen jungen jüdischen Rechtsanwalt in seine Kanzlei auf, nachdem dieser 1938 nach dem Münchener Abkommen das Sudetenland verlassen musste. Er hieß Kurt und in der Kanzlei durfte er nicht lange bleiben. Als Ausgleich für weitere Unterstützung sollte er mir Stunden in deutscher Konversation geben. Daraus sind bald unendliche gemeinsame Spaziergänge durch Prag geworden und so hat ein deutsch sprechender Jude in den zwei Jahren, bevor er auf Nimmerwiedersehen mit einem der Transporte irgendwo im Osten verschwand, einem fünfzehnjährigen tschechischen Jungen aus einer christlichen, tschechisch-nationalen Familie beigebracht, Prag kennen und lieben zu lernen, seine Geschichte, seine Tschechen, seine Deutschen und seine Juden. Dem Jungen ist es seit dem stecken geblieben und er hat „Kurtchen“ sein Leben lang nie vergessen.
Heute ist das Land ethnisch sauber. Die Deutschen, die Juden, auch die Slowaken sind verschwunden. Es verschwand auch das, was einmal Böhmen hieß, und übrig blieb, was man heute Tschechien nennt. Die einmal so lebendige, drei-einige Quelle der tschechischen Kultur ist zu einer bloßen Erinnerung geworden. Es blieb aber der in den Kneipen vegetierende Antisemitismus, in einem Land ohne Juden.
Was wird die Zukunft bringen? Wer weiß? Auch ich gehöre immer dorthin und lebe in einer Art Galut. „Warum ist das so?“, werde ich manchmal gefragt. „Eine gute Frage“, antworte ich.
Und dann geht mir irgendwie nicht aus dem Kopf, wie sich Doron Rabinovici an Ben Gurion erinnert: „Der Jüdische Staat sei noch nicht gegründet, denn dieser Staat werde ein Land des Friedens und der Gerechtigkeit sein. Vielleicht. Vielleicht im nächsten Jahr, spätestens im übernächsten“.
Wir alle sind Doron Rabinovici für sein kleines Buch Credo und Credit zu Dank verpflichtet. Und nicht nur für dieses, und nicht nur dafür, dass er uns sagt, was wir nicht genug wussten und nicht genug verstanden haben, sondern auch dafür, dass er uns dadurch, wie er selbst über sein Thema nachdenkt, zum weiteren Nachdenken zwingt. Auch über das, was mit seinem Thema scheinbar nicht so ganz zusammenhängt und darüber hinausgeht. So ist es auch mir geschehen.


© Antonín J. Liehm, Auszüge aus seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2002 an Doron Rabinovici. Liehm bezieht sich auf: Credo und Credit. Einmischungen. Essays, Suhrkamp, Frankfurt 2001


Doron Rabinovici, * 1961 in Tel Aviv, lebt seit 1964 in Wien, ist Schriftsteller, Historiker, Essayist, u.a. von: Papirnik. Stories Suhrkamp, Frankfurt 1994; Suche nach M. Roman in zwölf Episoden. Suhrkamp, Frankfurt 1997; Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Historische Studie,  Ohnehin,Jüdischer Verlag, Frankfurt 2000 (Zugleich Diss. Phil. Universität Wien 2000); Ohnehin, Roman. Suhrkamp, Frankfurt 2004; Der ewige Widerstand. Über einen strittigen Begriff, Styria, 2008; Jooloomooloo. Kinderbuch mit Illustrationen von Christina Gschwantner, Wien 2008; Andernorts. Roman. Suhrkamp, Berlin 2010 (2010 nominiert für den Deutschen Buchpreis).


Antonín Jaroslav Liehm, *1924 in Prag, ist ein tschechischer Autor, Publizist, Übersetzer, Film- und Literaturwissenschaftler und lebt in Paris. 1984 gründete er in Paris die europäische Kulturzeitschrift Lettre International. Neben der deutschen Ausgabe existiert zurzeit noch eine italienische, eine rumänische, eine spanische und eine ungarische Ausgabe. Liehm übersetzte literarische Werke aus dem Englischen, Französischen, Deutschen und Russischen ins Tschechische, u.a. von Louis Aragon, Robert Merle und Jean-Paul Sartre, schrieb Bücher über den Prager Frühling 1968, den Filmemacher Miloš Forman, den Philosophen Karel Kosík, über tschechische Kultur, Literatur und Filme.

 

 

Lenka Reinerova

Wohin, so frage ich mich oft, wenn ich durch mein Prag streife, wohin sind die Kaffeehäuser verschwunden, in denen man über einer Tasse schwarzen Kaffees einen halben oder beinahe den ganzen Tag diskutieren und Pläne schmieden, Freundschaften schließen oder gar eine große Liebe finden konnte. Und weil es sie nicht mehr gibt, diese Zufluchtswinkel ferner Jahre, spinne ich jetzt gern an einem ganz persönlichen Prager Traum: Irgendwo in dem schleierhaften blau-grauen Dunst über den von Grünspan bezogenen Kuppeln und den gestrengen Kirchtürmen, gibt es ein Café mit vielen Tischen, und von jedem kann man hinunterblicken in unsere Stadt, und die das tun, haben hier fast alle einmal gelebt. Und ich habe sie gekannt. (aus ihrem Erzählband Das Traumcafé einer Pragerin).

 

Hugo Sonnenschein, genannt Sonka

die führer, werkzeuge morscher mächte,

sind auserwählte henkersknechte,

im sinnbild des schafotts regierend,

in dem des kreuzes mordhaß schürend:

sie hüten wie die feuerdrachen

den schlaf der welt, profit zu machen.

 

wann wird sie vom schlaf erwachen?

 

der laune feisten goldes dienen

die dichter mit erlösermienen,

die leisetreter, nurpoeten,

nicht dichter: konjunkturästheten,

die, schatten niedriger gewalten,

den mythos jeder fron gestalten.

 

wann wird die welt vom schlaf erwachen?

 

(erstmals unter dem Titel "Die Führer" 1934 veröffentlicht;

aus Hugo Sonnenschein, Die Fesseln meiner Brüder - Ausgewählte Gedichte, München 1984)

 

 geb. 25.05.1889 in Gaya/Slowakei, gest. 20.07.1953 in Mírov (Gefängnis)

Geboren als Sohn eines jüdischen Bauern, der gemeinsam mit seiner Frau noch im Ghetto gelebt hatte. Nach der Reifeprüfung in Brünn-Brno ging er als Achtzehnjähriger nach Wien, wurde politisch aktiv und begann zu schreiben. Von 1912 - nach seiner Militärzeit 1911 - zog er als Vagabund durch Europa, lebte u.a. in Paris, Florenz, Amsterdam und Lemberg. Er war vermutlich eher Anarchist und Sozialutopist, als einer, der sich strengen Regeln und Parteidisziplin unterordnen wollte, 1918 ließ er sich in Prag nieder.

Wegen politischer Aktivitäten, zuerst in der Sozialdemokratischen, dann in der Kommunistischen Partei, die ihn als trotzkistischen Abweichler ausschloss, war er mehrfach in Haft. Wegen seiner Teilnahme am sog. Februaraufstand 1934, wurde er als tschechischer Staatsbürger aus Österreich ausgewiesen, war im Schutzbund deutscher Schriftsteller und im internationalen PEN aktiv und leistete Widerstand gegen Annexion und Okkupation. 1940 wird er von der Gestapo verhaftet und 1943 nach Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung des Vernichtungslagers durch die Sowjetarmee wird er 1945 nach Moskau gebracht. Mit Edvárd Beneš kann er wieder zurück nach Prag. Dort wird ihm kurze Zeit später, vermutlich aufgrund von Denunziation durch einen hohen kommunistischen Funktionär, der Prozess wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen gemacht, er wird zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt, stirbt allerdings bereits 1953 in Haft.

 

Werke (u.a.):

Die Legende vom weltverkommenen Sonka, Gedichte, 1920

Der Bruder Sonka, 1930

Schritte des Todes, Gedichte aus Auschwitz, veröffentlicht erst 1964

Die Fesseln meiner Brüder, Gedichtauswahl, 1984

Terrhan oder Der Traum von meiner Erde (geschrieben von Ende der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre, erschienen erst 1988, Zsolnay Verlag, Wien)

© Foto von Hugo Sonnenschein, Sonka: friedensbibliothek.de

   

Ernst Weiß

Prag im anarchistischen Geist

Über dem jungen, lebensfreudigen und lebenswilligen Prag lastet der Geist der Gotik und mehr noch, alles andere bedrückend, oft erdrückend, der Geist des habsburgischen Barock wie eine uralte Fürstin mit versteinerten, immer noch schönen Zügen, die alle Urenkel überlebt hat, allen Reichtum besitzt und auf deren Tod niemand mehr zu hoffen wagt. Was an bedeutenden Geistern hier gewirkt hat, von Rilke bis zu Franz Kafka, war immer von diesem Geist des Barock beschattet. Was ist dieses Barock? Es ist nicht mehr die reine spirituelle Flamme des kristallisierten Christentums, die Gotik, sondern es ist ein Christentum, das schon an den Geistesgütern des wiedererstandenen Altertums und an denen der neu erstandenen Naturwissenschaften (Alchimisten) geleckt hat, eine grandiose Gegengeste des Katholizismus, so überwältigend noch in der Agonie, dass ihr selbst der alte Goethe im Faust nicht zu widerstehen vermocht hat. Wir stehen heute vor der zweiten Wiedergeburt der Freiheit. Von wo sie ausgehen wird, ob aus dem Kern Europas, dessen geographischer, und vielleicht auch politischer Mittelpunkt eben dieses Prag ist, ob aus anderen Gebieten der Welt, wer weiß es? Sicher ist, dass von hier aus heute schon Mäner und Kräfte am Werk sind, in erster Linie Staatsminister Beneš, die illussionslos, zwar rational, aber nicht karg rationalistisch, vernünftig, aber nicht vernünftelnd, den großen Mut gefunden haben, dem engstirnigen Egoismus, dem „heiligen“ der Nation und „Rasse“ etwas Größeres, Freieres, Freudigeres und seiner selbst Sicheres entgegenzustellen. Böhmen (es ist sehr schade, dass die Tschechoslowakei diesen wundervollen Namen nicht offiziell kennt) hat von jeher große, das heißt selbstbescheidene, ihrer Grenzen klar bewußte Lehrer hervorgebracht, von Amos Komenius bis zu Masarýk, vielleicht kommt der Lehrer der neuen Völker und Menschengemeinschaft, der Bebründer einer Renaissance II., aus diesem herrlichen, dunklen, aber nicht unheimlich, sondern eher gemütlich dunklen Boden […], und dort wo es warm wird, weht der Hauch von blühenden Feldern des großen Smetana herüber, der einst im größten Elend gestorben sein soll, wofür ihm jetzt ein Denkmal gesetzt werden wird. Sonst sind die Menschen hier nicht von besonderer Dankbarkeit. Mozart hat eine für sein kurzes Dasein lange Zeit hier verbracht, fast das Bedeutsamste hier geschaffen, in der Bertramka, in einem verrußten Fabrikviertel, jetzt im Verfall, wenn man nicht die nötigen Gelder herbei bettelt, - kein Denkmal erinnert daran, dass hier seine größten Opern unter ungeheurem Jubel uraufgeführt wurden, worauf Mozart allerdings „im tiefsten Elend“, dem Refrain der Ballade vom Genie, gestorben ist. - Auch an den genialen Jaroslav Hašek, den größten Humoristen der letzten fünfzig Jahre (bescheiden gesprochen) erinnert hier nichts, nicht einmal der Name einer Kneipe. (1938)

zitiert aus: Die unheimliche Stadt, Frankfurt/Main 1992, S. 168 f.

 

Ernst Weiß, geb. 28.08.1882 in Brünn-Brno brachte sich am 15.06.1940 beim Einmarsch der deutschen Nazitruppen in Paris, wohin er geflüchtet war, um. Nach einem Medizinstudium in Prag und Wien war er Chirurg, entschied sich aber ab 1920 für die Literatur und wurde Schriftsteller und Dramatiker.

Werke (u.a.):

Die Galeere – 1913; Der Kampf – 1916; Tiere in Ketten – 1918; Mensch gegen Mensch – 1919

Das Versöhnungsfest, Tanja, Stern der Dämonen – 1920; Nahar – 1922; Olympia – 1923

Atna, wie auch Hodin und Die Feuerprobe - 1923; Daniel – 1924; Männer in der Nacht – 1925

Das Unverlierbare – 1928; Georg Letham, Arzt und Mörder – 1931; Der Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen -1934; Der Verführer – 1938; Der Augenzeuge – 1963

 

Louis Fürnberg

Im Zeitalter von Nationalismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus werden die deutschsprachigen Prager zu Deutschen gemacht. Als Juden sind sie in der Tschechoslowakei dann sogar eine Minderheit in der Minderheit. Dies erlebte auch der Prager Dichter Louis Fürnberg. Als Jude fühlte sich der Schriftsteller kommunistischer Gesinnung zwar nie. Dennoch musste er nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten 1939 aus Prag fliehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Fürnberg 1946 aus dem Exil nach Prag zurück, ab 1952 bis zu seinem Tod 1956 lebte er in der DDR.

 

DIE HEIMKEHR

War heut heimgekehrt eine Stunde lang. Abendsonne fiel auf Hof und Haus. Klopfte an die Tür. Niemand öffnet mir und die Toten stehen nimmer auf. Ziegel staubt im Gras, Mörtel fällt vom Sims, ging der Hausherr fort in tiefe Nacht. ‚Vater, bist Du hier?’ Keiner öffnet mir. Kehr doch heim von jahrelanger Fahrt. Geht das Fenster auf, eine fremde Frau schaut verwundert auf den fremden Mann in den Hof hinaus. ‚Bin der Sohn vom Haus, der lang fort ist und nicht fort sein kann.’ Doch die fremde Frau kann mich nicht verstehen und sie macht das Fenster wieder zu. Und die Sonne fällt langsam aus der Welt in die andere Welt, vor der mich friert.


LAUTER FREMDE LEUTE

Nicht daran rühren! Sie sind noch da

und alles zeugt noch von ihnen.

Der Spiegel, in den die Mutter sah,

des Vaters Taschenuhr ist da,

das Halstuch, das der Bruder trug,

das Haus, in dem sie wohnten.

 

Der Apfelbaum ist noch da

und das grüne Gartengitter,

an dem die Stachelbeeren stehn.

Wer wird sie heuer pflücken gehn?

… Lauter fremde Leute.

 

Dort drüben zieht die Eger hin

und der Wald steht schön dahinter.

Wie dunkeltief die Tannen stehn.

Wer mag denn dort spazierengehn?

… Lauter fremde Leute.

 

Sommer war und Winter war

und immer derselbe Himmel.

Nicht daran rühren! Kein Menschenlaut …

Man trieb sie … und wo sie hingeschaut

… Lauter fremde Leute …

 

Hans Natonek

1892 in Prag geboren, arbeitete Natonek in der Weimarer Republik als Journalist. Als Jude musste er Deutschland 1935 verlassen und floh nach Prag. Nach der Besetzung Böhmens und Mährens im März 1939 flüchtete er vor den Nazis über Frankreich und Portugal in die USA; wo er 1963 starb.

 

DIE PASS-STUNDE

Ich träumte. Ich saß in der Schule der Emigration. Wir hatten gerade Pass-Stunde. Die Bank war hart, härter als Schulbänke sonst sind. Der Lehrer war streng und unfreundlich und die Prüfung dauerte lang und war schwer. Dann verlangte der Professor, ich solle eine kleine Redeübung über den Pass in freier Themenwahl extemporieren. Ich wählte das Thema ‚Ich blättere in meinem Pass’. Es ist nicht ein Pass, es sind viele Pässe, in denen ich blättere. In ihnen ist der Zerfall und Irrsinn der Zeit. Nacheinander besaß ich einen österreichischen Pass von Geburt, einen tschechoslowakischen, einen Reichsdeutschen durch Naturalisierung in der Weimarer Republik, einen staatenlosen durch Ausbürgerung und wieder einen tschechoslowakischen, heimgekehrt in meine Vaterstadt und aufgenommen vom Staate Masaryks.

 

 

 


 


 


 


 

 

 

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