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Vom Schuldenmachen zur Schuldenfreiheit

von Katja Schickel

 

 

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre
Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer
(Debt. The first 5,000 Years, 2011), geb. mit Schutzumschlag, 536 Seiten,
 
 

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, ISBN: 978-3-608-94767-0

 


 

 

 

 

 

 

Viele wollten die weltweite Occupy-Bewegung schon abtun als versprengte Häuflein romantisch-verirrter KapitalismusgegnerInnen, die keinerlei fundierte Kritik formulieren könnten, die Medien stimmten bereits den Grabgesang an und läuteten die Totenglöckchen, da kam einer aus ihren Reihen, noch dazu ein bekennender, nicht-dogmatischer amerikanischer Anarchist, der in London als Professor Anthropologie lehrt, und auf mehr als fünfhundert Seiten das theoretische und wissenschaftlich fundierte Rüstzeug liefert für einen Fundamentalangriff auf den Kapitalismus (wie einst Karl Marx) und dafür auch noch allseits gefeiert wird. Schulden ist eine furiose, nie ins Fundamentalistische abgleitende Erzählung über den Zustand der Welt, die einen nicht einschüchtern, sondern gescheiter machen möchte und der das auch spielend gelingt.

Was wir täglich in den Nachrichten sehen und hören, Millionen von Menschen weltweit als tiefe Einschnitte in ihre Existenz und Beraubung ihrer materiellen Grundlagen erleben, wird Bank- oder Finanzkrise genannt, hinter der sich – plötzlich wie aus einem Gespensterreich auftauchend - unvorstellbar hohe Schulden verstecken, deren Ursprung ebenso nebulös bleibt wie deren etwaige Auflösung. In seinem mit viel Verve, analytischer Begeisterung und exorbitantem Wissen geschriebenen Werk zeigt David Graeber uns fünftausend Jahre Menschheitsgeschichte als eine Geschichte von Schulden. Seit Adam Smith behaupten die Ökonomen, am Anfang sei der Markt als reine Tauschwirtschaft entstanden, viel später sei das Geld als allgemein gültiges Äquivalent erfunden worden, aus dem sich dann das Kreditwesen bis zu seinen heutigen virtuellen Formen entwickelt habe. Nonsense, sagt der Anthropologe Graeber, reine Ideologie, und bestätigt nur, was längst in anderen Wissenschaften erforscht ist, nur von Ökonomen, die sich immer mehr zu einer aufdringlichen Sekte entwickeln, die von sich behaupten, als Experten im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein, bisher ignoriert wurde. Graeber zeigt in vielen Beispielen und Anekdoten, wie sich bereits vor dem real existierenden Geld eine Kreditwirtschaft etablieren konnte. In Mesopotamien beispielsweise wurden bereits vor fünftausend Jahren in sumerischer Keilschrift Schulden und Zinsen auf Platten notiert. Vor allem Missernten sollte damit entgegengewirkt werden, die notwendige gesellschaftliche Balance erhalten bleiben. Mit dem Kreditwesen kamen zwangsläufig auch die Schulden; wo ein Schuldner ist, ist eben auch ein Gläubiger. Schon vor fünftausend Jahren. Die ökonomische Basis war eine immer ausgeklügeltere Schuldenwirtschaft aus Zins- und Zinseszins-Zahlungen, die Verbindlichkeiten und Forderungen notfalls mit Gewalt, das heißt mit Verbrechen, Krieg und Zerstörung einlöste; die einen trieb das Versprechen auf Rückzahlung in die Sklaverei, den anderen ermöglichte dieses vermeintlich moralische Prinzip den Machterhalt; die Religion stiftete dazu den psychologischen Apparat, indem Schulden mit Sünde und ihr Erlass mit Vergebung gleichgesetzt wurden. Immer neue Abhängigkeiten führen zu weiteren gewalttätigen Auseinandersetzungen. Graeber veranschaulicht dies in heutiger Zeit am Vorgehen des IWF, der mit seiner Kreditpolitik, die nichts anderes als teilweise sehr brutale Schuldeneintreibung ist, buchstäblich über Leichen geht. Geld verschwindet ja nicht einfach, es wechselt nur den Besitzer. Wer neuer Schuldner, neuer Gläubiger ist, in welcher Höhe und wie die Usancen des Geschäfts sind, regelt letztendlich fast immer eine bewaffnete Staatsmacht. Es gilt das Recht des Stärkeren. Schuldenpolitik ist immer interessengeleitet und nimmt Not und Gewalt nicht nur billigend in Kauf, sondern ist ihr konstitutives Element. Das heutzutage in Umlauf gesetzte virtuelle, d. h. nicht-existente, durch kein Wert-Äquivalent gestützte Geld führt nur in die Verlängerung der Krise, die schon längst nicht nur eine ominöse Schuldenkrise ist, sondern eine Krise des Systems selbst. Graeber zeigt die gängigen Geld- und Kredittheorien als Mythen, die die Ökonomisierung aller gesellschaftlicher Bereiche und sozialen Beziehungen vorantreiben. Der Ausgang dieser Entwicklung steht noch nicht fest. Der Autor weist aber nach, dass revolutionäre Bewegungen von der Antike bis heute immer in Schuldenkrisen entstanden sind.

David Graeber liefert das Material zum Weiterdenken und lädt ein zu Widerspruch und Diskussion  – sehr lesenswert!

 

 

David Graeber,*1961 in den Vereinigten Staaten, unterrichtete bis zu seiner umstrittenen Entlassung 2007 als Anthropologe in Yale und lehrt seither am Goldsmith-College in London. Er ist bekennender Anarchist und Mitglied der Industrial Workers of the World. Sein Vater hat im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, und er selbst hat fast zwei Jahre in einer direkte Demokratie praktizierenden Gemeinschaft auf Madagaskar gelebt. Graeber ist ein Vordenker der Occupy-Bewegung.

 


 

 

 

 

 

Leseprobe


1 Über die Erfahrung der moralischen Verwirrung

Schuld, die Substantiv
1. Ursache von etwas Unangenehmem, Bösem oder eines Unglücks, die Verantwortung dafür.
2. bestimmtes Verhalten, bestimmte Handlung, womit jemand. gegen sittliche Werte, Normen oder gegen die rechtliche Ordnung verstößt.
3. Geldbetrag, den jemand einem anderen schuldig ist. Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache

Wenn Sie der Bank hunderttausend Dollar schulden, gehören Sie der Bank.
Wenn Sie der Bank hundert Millionen Dollar schulden, gehört die Bank Ihnen. Amerikanisches Sprichwort

Vor zwei Jahren besuchte ich infolge einiger Zufälle eine Gartenparty in der Westminster Abbey. Ich fühlte mich ein bisschen unbehaglich. Die anderen Gäste waren durchaus freundlich und nett, und Pater Graeme, der die Party organisiert hatte, war ein durch und durch liebenswürdiger und charmanter Gastgeber. Aber ich kam mir ein wenig fehl am Platz vor. Irgendwann sprach mich Pater Graeme an: Da stehe jemand gleich neben dem Brunnen, mit dem ich mich sicher gern unterhalten würde. Wie sich herausstellte, war es eine schick gekleidete junge Frau, laut Auskunft des Paters eine Anwältin – »aber eine von der engagierten Sorte. Sie arbeitet für eine Stiftung, die in London Gruppen juristisch berät, die gegen die Armut kämpfen. Sie beide haben sich wahrscheinlich viel zu erzählen.«
Wir kamen ins Gespräch. Sie berichtete von ihrer Arbeit. Ich erzählte ihr, dass ich seit vielen Jahren in der Bewegung für weltweite Gerechtigkeit aktiv war – bei den »Globalisierungsgegnern«, wie es üblicherweise in der Presse hieß. Das interessierte sie: Natürlich hatte sie viel über Seattle, Genua, über Tränengas und Straßenkämpfe gelesen, aber … hatten wir denn mit all dem etwas erreicht?
»Ja sicher, es ist sogar erstaunlich, wie viel wir in diesen ersten Jahren erreicht haben«, erwiderte ich.
»Zum Beispiel ?«
»Nun, zum Beispiel haben wir es beinahe geschafft, den IWF auszuschalten.«
Zufällig wusste sie nicht, was der IWF ist, und ich erklärte ihr, dass der Internationale Währungsfonds als der Schuldeneintreiber der Welt fungiert: »Man könnte sagen, er ist in der Hochfinanz das Äquivalent zu den Jungs, die kommen und einem die Beine brechen.« Ich ließ mich über den historischen Hintergrund aus, erklärte, wie die OPEC-Staaten während der Ölkrise in den 1970er Jahren so viel von ihren neu erworbenen Reichtümern an westliche Banken überwiesen, dass die Banken gar nicht wussten, wo sie das Geld investieren sollten; wie Citibank und Chase Manhattan Bank deshalb Vertreter in alle Welt aussandten, die Politiker und Diktatoren der Dritten Welt überreden sollten, Kredite aufzunehmen (damals hieß das »Go-Go-Banking«); wie sie mit äußerst niedrigen Zinsen begannen, die aber dank der rigorosen Geldpolitik der Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren bald auf 20 Prozent und mehr in die Höhe schossen; wie das in den 1980er und 1990er Jahren zur Schuldenkrise der Dritten Welt führte; wie sich dann der IWF einschaltete und darauf beharrte, zur Refinanzierung müssten die armen Länder gezwungen werden, die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln aufzugeben oder sogar die Politik, strategische Lebensmittelreserven anzulegen sowie freie Gesundheitsversorgung und freie Bildung bereitzustellen; wie all dies damit endete, dass die ärmsten und am meisten gefährdeten Völker der Welt die grundlegende Unterstützung verloren hatten. Ich sprach von Armut, von der Ausplünderung öffentlicher Ressourcen, vom Zusammenbruch von Gesellschaften, von endemischer Gewalt, Mangelernährung, Hoffnungslosigkeit und zerstörten Leben.
»Aber wie war ihre Einstellung?«, fragte die Anwältin.
»Zum IWF? Wir wollten ihn abschaffen.«
»Nein, ich meine, zu den Schulden der Dritten Welt.«
»Oh, die wollten wir auch abschaffen. Zunächst einmal wollten wir den IWF daran hindern, dass er weiter Strukturanpassungsprogramme verlangte, die unmittelbaren Schaden anrichteten, und das erreichten wir überraschend schnell. Langfristiges Ziel war der Schuldenerlass. So etwas wie der vollständige Ablass in der Kirche. Nach unserer Einschätzung reichte es, dass seit 30 Jahren Geld aus den ärmsten Ländern in die reichsten geflossen war.«
»Aber«, wandte sie ein, als wäre das offensichtlich, »sie hatten sich das Geld geliehen! Schulden muss man doch zurückzahlen.«
An dieser Stelle wurde mir klar, dass das Gespräch ganz anders verlaufen würde, als ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte.
Wo sollte ich anfangen? Ich hätte damit anfangen können zu erklären, wie diese Kredite ursprünglich von selbsternannten Diktatoren aufgenommen worden waren, die den größten Teil des Geldes direkt auf ihre Schweizer Bankkonten überwiesen, und ich hätte sie fragen können, ob sie es gerecht fand, wenn man darauf beharrte, dass die Gläubiger ihr Geld nicht von dem Diktator oder seinen Kumpanen zurückerhielten, sondern indem sie buchstäblich hungrigen Kindern das Essen wegnahmen. Oder denken wir nur daran, wie viele dieser armen Länder durch das Wunder des Zinseszinseffekts bis heute das Drei- oder Vierfache der geliehenen Summen zurückgezahlt haben, und trotzdem hat sich ihre Kreditsumme kaum verringert. Ich hatte auch beobachtet, dass es einen Unterschied zwischen der Refinanzierung von Krediten und der Forderung gab, dass Länder, um eine Refinanzierung zu bekommen, einen orthodox marktwirtschaftlichen Kurs verfolgen müssen, der in Washington oder Zürich beschlossen wurde und dem die Menschen in den betroffenen Ländern nie zugestimmt haben und nie zustimmen werden. Ebenso war es einigermaßen unehrlich, zu verlangen, dass diese Länder demokratische Institutionen bekommen sollten, und dann darauf zu beharren, dass die gewählten Politiker nicht über den politischen Kurs in den Ländern entscheiden dürften. Oder ich beobachtete, dass die vom IWF verordnete Wirtschaftspolitik nicht einmal funktionierte. Aber all dem lag ein grundsätzlicheres Problem zugrunde: die Voraussetzung, dass Schulden überhaupt zurückgezahlt werden müssen.
Das Erstaunliche an dem Satz »man muss seine Schulden zurückzahlen« ist, dass er nach der ökonomischen Standardtheorie nicht stimmt. Wer Geld verleiht, muss ein gewisses Risiko tragen. Wenn alle Kredite, egal wie idiotisch sie sind, immer einzutreiben wären – wenn es zum Beispiel kein Insolvenzrecht gäbe –, wären die Folgen katastrophal. Warum sollte ein Geldgeber nicht einen dummen Kredit vergeben?
»Nun, ich weiß, es klingt wie eine Selbstverständlichkeit«, sagte ich, »aber das Lustige ist, dass, ökonomisch gesehen, Darlehen nicht so funktionieren. Finanzinstitute sollen Ressourcen in profitable Investitionen lenken. Wenn eine Bank eine Garantie hätte, dass sie Geld plus Zinsen zurückbekommt, ganz gleich was sie tut, würde das gesamte System nicht funktionieren. Nehmen wir einmal an, ich gehe in die nächste Filiale der Royal Bank of Scotland und sage: ›Hören Sie, ich habe einen ganz tollen Tipp für das Pferderennen bekommen. Könnten Sie mir 2 Millionen Pfund leihen?‹ Natürlich würden mich die Leute dort einfach auslachen. Denn sie wissen genau, dass sie ihr Geld nie wiedersehen, wenn mein Pferd nicht gewinnt. Stellen wir uns aber einmal vor, es gäbe ein Gesetz, das der Bank garantiert, dass sie ihr Geld unter allen Umständen zurückbekommt, selbst wenn es bedeuten würde, dass ich, sagen wir einmal, meine Tochter in die Sklaverei verkaufen oder meine Organe verscherbeln müsste oder etwas in der Art. Warum sollten sie mir dann das Geld nicht geben? Und lieber warten, bis jemand hereinspaziert, der einen realistischen Plan für einen Waschsalon oder dergleichen hat? Im Grunde ist genau das die Situation, die der IWF auf globaler Ebene geschaffen hat – auf diese Weise kriegt man alle Banken dazu, dass sie einer Bande offensichtlicher Gauner Milliarden von Dollar zuschieben.«
Ich kam mit meinen Ausführungen nicht weiter, weil ungefähr an dieser Stelle ein betrunkener Banker auftauchte. Er hatte bemerkt, dass wir über Geld sprachen, und erzählte lustige Geschichten über individuelle Risikobereitschaft – und es dauerte nicht lange, bis das in eine nicht sonderlich interessante Schilderung seiner sexuellen Eroberungen überging. Ich schlenderte davon.
Doch noch Tage später ging mir der Satz nicht aus dem Kopf: »Aber man muss seine Schulden doch zurückzahlen.«
Der Satz klingt so gewichtig, weil er in Wahrheit keine ökonomische, sondern eine moralische Aussage ist. Geht es bei Moral denn nicht in erster Linie darum, seine Schulden zu begleichen? Den Menschen geben, was ihnen zusteht. Zu seiner Verantwortung stehen. Die Verpflichtungen gegenüber anderen erfüllen, genauso wie wir erwarten, dass andere ihre Verpflichtungen uns selbst gegenüber erfüllen. Gibt es ein besseres Beispiel, wie man sich vor seiner Verantwortung drückt, als ein Versprechen nicht einzulösen oder eine Schuld nicht zurückzuzahlen?
Die scheinbare Offensichtlichkeit, das wurde mir klar, machte diesen Satz so tückisch. Es war eine Aussage von der Art, bei der schreckliche Dinge ganz harmlos und unauffällig daherkommen. Es mag hart klingen, aber man kann nicht anders, als hart zu reagieren, wenn man einmal die Wirkungen erlebt hat. Ich hatte sie erlebt. Fast zwei Jahre lang hatte ich im Hochland von Madagaskar verbracht. Kurz vor meiner Ankunft hatte es einen Malaria-Ausbruch gegeben. Einen besonders schlimmen Ausbruch, denn die Malaria war schon vor vielen Jahren im Hochland von Madagaskar ausgerottet, und nach zwei Generationen waren die meisten Menschen nicht mehr immun dagegen. Das Problem war, dass das Programm zur Bekämpfung der Moskitos Geld kostete, denn man musste in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob die Moskitos sich nicht wieder vermehrten, und Gift sprühen, wenn es so war. Es ging nicht um viel Geld. Aber da die Regierung einem Sparprogramm des IWF unterlag, hatte sie das Geld für die Überwachung der Moskitos gestrichen. Bei diesem Malaria-Ausbruch starben 10 000 Menschen. Ich traf junge Mütter, die um ihre Kinder weinten. Man könnte denken, dass man schwerlich argumentieren kann, der Verlust von 10 000 Menschenleben sei gerechtfertigt, damit die Citibank nur keinen unverantwortlichen Kredit abschreiben muss, der in ihrer Bilanz sowieso nicht groß ins Gewicht fällt. Aber da stand eine absolut anständige Frau vor mir – die sogar für eine wohltätige Organisation arbeitete – und setzte genau dies als selbstverständlich voraus. Schließlich schuldeten sie Geld, und natürlich muss man seine Schulden zurückzahlen. Natürlich?
Auch in den nächsten Wochen ließ mich dieser Satz nicht mehr los. Warum Schulden? Was macht diesen Begriff so seltsam mächtig? Verbraucherschulden sind der Lebenssaft unserer Wirtschaft. Alle modernen Nationalstaaten nehmen zur Finanzierung ihrer Ausgaben Schulden auf. Schulden sind mittlerweile das zentrale Thema der internationalen Politik. Aber niemand scheint genau zu wissen, was es damit auf sich hat, oder darüber nachzudenken.
Gerade weil wir nicht wissen, was Schulden sind − die Dehnbarkeit des Begriffs ist zugleich die Grundlage seiner Macht. Wenn die Geschichte etwas zeigt, dann dies, dass es keine bessere Methode gibt, auf Gewalt gegründete Beziehungen zu verteidigen und moralisch zu rechtfertigen, als sie in die Sprache von Schuld zu kleiden – vor allem, weil es dann sofort den Anschein hat, als sei das Opfer im Unrecht. Mafiosi wissen das. Auch die Kommandeure von Invasionsarmeen. Seit vielen tausend Jahren reden gewalttätige Männer ihren Opfern ein, sie würden ihnen etwas schulden. Und wenn die Opfer ihnen sonst nichts schulden, dann »verdanken sie ihnen ihr Leben« − ein vielsagender Satz−, weil sie nicht getötet wurden.
Heute ist militärische Aggression ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und wenn so etwas vor einen internationalen Gerichtshof kommt, muss der Aggressor üblicherweise eine Entschädigung leisten. Deutschland musste nach dem Ersten Weltkrieg hohe Reparationen zahlen; der Irak zahlt immer noch an Kuwait für Saddam Husseins Invasion 1990.
Aber die Schulden der Dritten Welt, die Schulden Madagaskars, Boliviens und der Philippinen etwa, funktionieren offenbar genau andersherum. Schuldnerstaaten in der Dritten Welt sind fast immer solche, die früher von europäischen Staaten angegriffen und erobert wurden – oft von denselben Staaten, denen sie heute Geld schulden.
So drang Frankreich im Jahr 1895 nach Madagaskar vor, setzte die Regierung der damaligen Königin Ranavalona III. ab und erklärte das Land zur französischen Kolonie. Als eine der ersten Maßnahmen nach der »Befriedung«, wie man gern sagte, erlegte General Gallieni der Bevölkerung von Madagaskar hohe Steuern auf, teils als Rückzahlung der Kosten, die bei der Invasion entstanden waren, teils auch, um die Kosten für den Bau von Eisenbahnlinien, Straßen, Brücken, Plantagen und so weiter, die die Franzosen errichten wollten, herein zubekommen, denn die französischen Kolonien sollten sich selbst aus eigenen Mitteln finanzieren. Die Steuerzahler auf Madagaskar wurden nie gefragt, ob sie diese Eisenbahnen, Straßen, Brücken und Plantagen überhaupt wollten, und durften auch so gut wie nie darüber entscheiden, wo und wie sie gebaut wurden. Ganz im Gegenteil: In den nächsten 50 Jahren richteten die französische Armee und Polizei unter den Madagassen, die zu heftig protestiert hatten, ein Massaker an (nach einigen Berichten gab es bei einem Aufstand 1947 bis zu einer halben Million Tote). Nie hat Madagaskar Frankreich ein vergleichbares Verbrechen zugefügt. Trotzdem hörten die Madagassen 
vom ersten Tag an, sie schuldeten Frankreich Geld, und daran hält man bis heute fest, und der Rest der Welt findet das gerecht. Soweit die »internationale Gemeinschaft« ein moralisches Problem erkennt, ist es üblicherweise ihre Einschätzung, die Regierung von Madagaskar zahle ihre Schulden zu langsam zurück. Aber Schulden sind nicht nur die Gerechtigkeit des Siegers. Sie können auch eine Möglichkeit sein, Sieger zu bestrafen, die nicht hätten siegen sollen. Das spektakulärste Beispiel dafür ist die Republik Haiti – das erste arme Land, das auf Dauer in Schuldknechtschaft geriet. Der Staat Haiti wurde von ehemaligen Plantagenarbeitern gegründet, Sklaven, die nicht nur die Kühnheit besaßen, sich in der Epoche der großen Menschenrechtserklärungen und universellen Freiheiten zu erheben, sondern auch noch Napoleons Armeen schlugen, die man dorthin gesandt hatte, um sie erneut zu unterwerfen. Frankreich forderte von Anfang an, dass die junge Republik 150 Millionen Franc als Entschädigung für die enteigneten Plantagen zu zahlen habe, außerdem die Kosten für die Ausstattung der gescheiterten militärischen Expeditionen tragen müsse, und alle anderen Länder einschließlich der Vereinigen Staaten stimmten der Verhängung eines Embargos gegen Haiti zu, bis die Schulden bezahlt wären. Die Summe war absichtlich unmöglich hoch festgesetzt worden (nach heutigem Geldwert 18 Milliarden Dollar), und das Embargo sorgte dafür, dass der Name »Haiti« seither ein Synonym für Schulden, Armut und menschliches Leid ist.
Manchmal scheinen Schulden allerdings auch das genaue Gegenteil zu bedeuten. Seit den 1980er Jahren häufen die Vereinigten Staaten, die selbst auf strikten Bedingungen für die Rückzahlung der Schulden der Dritten Welt beharren, Schulden auf, die mit Leichtigkeit die Schulden der gesamten Dritten Welt in den Schatten stellen – hauptsächlich durch Rüstungsausgaben. Die Auslandsschulden der Vereinigten Staaten haben die Form von Staatsanleihen im Besitz institutioneller Anleger in Ländern (Deutschland, Japan, Südkorea, Taiwan, Thailand, den Golfstaaten), die mehrheitlich de facto militärische Protektorate der USA sind, amerikanische Militärbasen voller Waffen und Ausrüstungen beherbergen, die mit eben diesen Schulden bezahlt wurden.
Inzwischen hat sich das etwas verschoben, seit China ins Spiel gekommen ist.
China ist ein Sonderfall aus Gründen, die ich weiter unten erläutere. Aber das Schuldenspiel hat sich nicht sehr viel verändert, denn China fühlt sich, weil es so viele amerikanische Staatsanleihen hält, in gewisser Weise den amerikanischen Interessen verpflichtet und nicht umgekehrt.
Was ist das für ein Geld, das da kontinuierlich dem amerikanischen Finanzministerium zufließt? Sind es Kredite? Oder Tributzahlungen? In der Vergangenheit hießen Militärmächte, die außerhalb ihres Territoriums Hunderte Militärbasen unterhielten, in der Regel »Imperien«, und Imperien verlangten Tributzahlungen von unterworfenen Völkern. Die US-Regierung beharrt natürlich darauf, kein Imperium zu sein – aber man kann ohne Weiteres argumentieren, diese Zahlungen würden nur deshalb als »Darlehen« und nicht als »Tribute« bezeichnet, weil die wahre Realität verschleiert werden soll.
Nun, es stimmt, dass in der Geschichte immer bestimmte Schulden und bestimmte Schuldner ganz unterschiedlich behandelt wurden. In den 1720er Jahren war die britische Öffentlichkeit doch äußerst empört, als die Presse enthüllte, dass es in den Schuldgefängnissen zwei Abteilungen gab: Aristokratische Insassen, die einen kurzen Aufenthalt in Fleet oder Marshelsea eher schick fanden, wurden von livrierten Dienern mit Wein und Essen bewirtet und durften regelmäßig Besuch von Prostituierten empfangen. In der »gemeinen Abteilung« hockten verarmte Schuldner in kleinen Zellen zusammengepfercht, »voller Dreck und Ungeziefer«, wie es in einem Bericht heißt, »und blieben mitleidslos dem Tod durch Hunger und Fieber überlassen«.
In gewisser Weise kann man die heutige ökonomische Situation auf der Welt als ein stark vergrößertes Abbild dieser Zustände ansehen: Die Vereinigten Staaten sind die Aristokraten unter den Schuldnern; Madagaskar ist der arme Schlucker, der in der Zelle nebenan verhungert, während ihm die Bediensteten des aristokratischen Schuldners vorhalten, er sei an seiner Lage selbst schuld, schließlich habe er verantwortungslos gehandelt.
Und hier haben wir noch etwas von grundsätzlicher Bedeutung vor uns, eine philosophische Frage, bei der wir gut daran tun, sie zu bedenken. Was ist der Unterschied, ob ein Gangster eine Waffe zieht und von Ihnen 1000 Dollar »Schutzgeld« verlangt, oder ob er fordert, dass Sie ihm 1000 Dollar »Kredit« geben? In vielerlei Hinsicht ist es kein Unterschied, aber in einem Punkt doch. Wie im Fall der amerikanischen Schulden gegenüber Südkorea oder Japan macht es einen Unterschied, wenn das Machtgleichgewicht sich verschieben sollte, wenn der Gangster seine Helfershelfer verliert oder Amerika seine militärische Vormacht; dann könnte ein »Kredit« sehr anders behandelt werden. Er könnte eine echte Verbindlichkeit werden. Aber entscheidend dabei wäre immer noch die Waffe.
Ein alter Varieté-Gag bringt das noch deutlicher zum Ausdruck – hier in der Version von Steven Wright:
Neulich war ich mit einem Freund unterwegs, und da springt ein Typ mit einer Knarre vor und ruft »Hände hoch«. Ich greife nach meiner Brieftasche und denke, es »sollte kein Totalverlust werden«. Also hole ich einen Schein raus, drehe mich zu meinem Freund um und sage: »He, Fred, hier ist der Fünfziger, den ich dir schulde.«
Das ärgerte den Räuber so, dass er 1000 Dollar aus seiner Tasche holte, Fred mit vorgehaltener Waffe zwang, sie mir zu leihen, und sie mir dann wieder abnahm.
Letzten Endes muss der Mann mit der Waffe nichts tun, was er nicht tun will. Aber ein auf Gewalt gegründetes Regime funktioniert nur nach Regeln, die völlig willkürlich sein können. Es spielt nicht einmal eine Rolle, was für Regeln es sind, jedenfalls ist dies nicht der wichtigste Punkt. Das Problem ist, dass in dem Augenblick, da man die Dinge als Schulden darstellt, die Leute unvermeidlich zu fragen beginnen, wer tatsächlich wem was schuldet.
Streitigkeiten über Schulden gibt es seit mindestens 5000 Jahren. Den größten Teil der Geschichte der Menschheit – oder wenigstens der Geschichte von Staaten und Imperien – hat man den meisten Menschen erzählt, sie seien Schuldner. Historiker, vor allem jene, die sich mit Ideengeschichte befassen, waren merkwürdig zurückhaltend, die Folgen für die Menschen zu untersuchen, zumal wenn man bedenkt, wie viel Zorn und Empörung diese Situation – mehr als jede andere – verursacht hat. Wenn man den Menschen sagt, sie seien unterlegen, gefällt ihnen das wahrscheinlich nicht, führt aber erstaunlich selten zu bewaffneter Revolte. Wenn man ihnen sagt, sie seien potentiell gleichrangig, hätten aber versagt und verdienten deshalb selbst das nicht, was sie haben, es gehöre ihnen nicht rechtmäßig, löst man ziemlich sicher Wut und Empörung aus. Das lehrt uns wenigstens allem Anschein nach die Geschichte. Seit vielen tausend Jahren wird der Kampf zwischen Reichen und Armen überwiegend in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgetragen – mit Argumenten über Recht und Unrecht von Zinszahlungen, von Schuldknechtschaft, Schuldenerlass, Enteignung, Rückgabe, der Konfiszierung von Schafen oder Weinbergen oder dem Verkauf von Kindern in die Sklaverei. Ebenso haben in den letzten 5000 Jahren mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit Volksaufstände auf gleiche Weise begonnen: mit der rituellen Zerstörung von Schuldverzeichnissen – Tafeln, Papyrusrollen, Kontobüchern, wo immer die Schulden zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort verzeichnet waren. (Anschließend wandten sich die Rebellen gewöhnlich den Unterlagen über Landbesitz und Steuerpflicht zu.) Wie der bedeutende Althistoriker Moses Finley immer wieder betonte, hatten alle revolutionären Bewegungen in der Antike ein einziges Programm: »Streicht alle Schulden und verteilt das Land neu.« Unsere Neigung, all dies zu übersehen, ist umso seltsamer, wenn wir bedenken, wie viele unserer heutigen moralischen und religiösen Begriffe auf eben diese Konflikte zurückzuführen sind. Bei Wörtern wie »Abrechnung« und »Wiedergutmachung« ist es ganz offensichtlich, sie stammen direkt aus der Sprache der alten Finanzgeschäfte. In einem weiter gefassten Sinn gilt das auch für »Schuld«, »Freiheit«, »Vergebung« und sogar »Sünde«. Auseinandersetzungen darüber, wer wem wirklich was schuldet, haben erkennbare Spuren in unserem Vokabular für Richtig und Falsch hinterlassen.
Obwohl also unsere Sprache in Auseinandersetzungen über Schuld Gestalt angenommen hat, ist das Konzept seltsam vage geblieben. Schließlich muss man, wenn man mit dem König diskutieren will, die Sprache des Königs sprechen, ob die Grundvoraussetzungen einen Sinn ergeben oder nicht.
Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Schulden, ist der erste Eindruck der von tiefer moralischer Verwirrung. Das erste Indiz dafür ist die Feststellung, dass die Mehrheit der Menschen überall gleichzeitig die Auffassung vertritt, 1. es sei ein moralisches Gebot, geliehenes Geld zurückzuzahlen, und 2. das regelmäßige Verleihen von Geld sei verwerflich.
Die Meinungen zu dem letzten Punkt schwanken erheblich. Eine extreme Position fand der französische Anthropologe Jean-Claude Galey in einer Region im östlichen Himalaja vor, wo bis in die 1970er Jahre die niederen Kasten – man bezeichnete sie auch als »die Besiegten«, weil man glaubte, sie seien die Nachfahren von Menschen, die vor vielen Jahrhunderten von der heutigen Landbesitzerkaste besiegt wurden – in beständiger Abhängigkeit durch Schulden lebten. Ohne Land und ohne Geld mussten sie bei den Landbesitzern um Kredite betteln, einfach um essen zu können – dabei ging es ihnen nicht um das Geld, denn die Summen waren zu gering, sondern arme Schuldner bezahlten die Zinsen üblicherweise durch Arbeit ab, damit sie wenigstens zu essen und ein Dach über dem Kopf hatten, solange sie die Wirtschaftsgebäude ihrer Gläubiger putzten und ihre Scheunen neu deckten. Für die »Besiegten« – wie für die meisten Menschen weltweit – waren die wichtigsten Ausgaben im Leben Hochzeiten und Begräbnisse. Diese Ereignisse verschlangen viel Geld, das immer geliehen werden musste. In solchen Fällen war es, wie Galey darlegt, gang und gäbe, dass die Geldverleiher aus der oberen Kaste eine Tochter des Schuldners als Sicherheit verlangten. Musste ein armer Mann für die Hochzeit seiner Tochter Geld leihen, so war häufig die Braut selbst die Sicherheit für den Kredit. Es wurde erwartet, dass sie sich nach der Hochzeitsnacht im Haus den Kreditgebers einfand und dort ein paar Monate lang seine Konkubine abgab. War er seines neuen Spielzeugs überdrüssig, wurde sie ins nächste Holzfällerlager geschickt, wo sie ein oder zwei Jahre lang die Schuld ihres Vaters als Prostituierte abarbeitete. Danach kehrte sie zu ihrem Ehemann zurück und begann ihr Eheleben.
Das klingt schockierend, sogar empörend, aber Galey spricht nicht von einem verbreiteten Bewusstsein der Ungerechtigkeit. Alle empfanden es wohl so, dass dies die Ordnung der Dinge war. Auch die lokalen Brahmanen, die höchste Instanz in moralischen Fragen, erhoben keinen Einspruch – was nicht verwunderlich ist, weil die wichtigsten Geldverleiher oft Brahmanen waren. 
Aber auch in diesem Fall wissen wir nicht, was die Menschen hinter verschlossenen Türen sagten. Wenn eine Gruppe maoistischer Rebellen plötzlich die Kontrolle über das Gebiet übernähme (es gibt einige in diesem Teil des ländlichen Indien) und die ortsbekannten Wucherer vor Gericht stellte, bekämen wir wohl viele unterschiedliche Ansichten zu hören.
Galey beschreibt meines Erachtens ein Extrem: Die Wucherer sind selbst die höchste moralische Instanz. Vergleichen wir dies zum Beispiel mit Frankreich im Mittelalter, wo der moralische Status der Geldverleiher sehr zweifelhaft war. Die katholische Kirche hatte die Gewohnheit schon immer verurteilt, Geld gegen Zinsen zu verleihen, aber die Regeln gerieten häufig in Vergessenheit. Daraufhin ordnete die Kirchenführung Predigtfeldzüge an, schickte Bettelmönche von Stadt zu Stadt, die Wucherer warnen sollten, sie würden in der Hölle enden, wenn sie nicht bereuten und ihren Opfern die Zinsen in voller Höhe zurückerstatteten.
In diesen Predigten lesen wir zahllose schreckliche Geschichten, wie Gott mit Geldverleihern verfährt, die nicht bereuen: Geschichten von reichen Männern, die dem Wahnsinn verfallen oder schrecklich erkranken, auf dem Sterbebett von Alpträumen geplagt werden, dass Schlangen und Dämonen sie in Stücke reißen oder bei lebendigem Leib verschlingen. Im 12. Jahrhundert, als die Predigtfeldzüge einen Höhepunkt erreichten, wurden zunehmend direkte Sanktionen eingesetzt. Der Heilige Stuhl erließ Anweisungen an einzelne Gemeinden, alle bekannten Wucherer seien zu exkommunizieren; sie durften die Sakramente nicht mehr empfangen und unter keinen Umständen in geweihter Erde bestattet werden. Der französische Kardinal Jakob von Vitry, der um 1210 schrieb, berichtet von einem besonders einflussreichen Geldverleiher, dessen Freunde versuchten, den Priester ihrer Gemeinde zu bewegen, die Regeln zu übergehen und den Mann auf dem örtlichen Friedhof zu begraben:
Da die Freunde des Wucherers sehr in ihn drangen, sprach der Priester zu ihnen, um ihrem Druck nachzugeben: »Lasst uns seinen Leichnam auf einen Esel legen und sehen, wohin Gottes Wille ihn führt: Wo der Esel den Leichnam auch hintragen mag, in eine Kirche, auf einen Friedhof oder anderswohin, dort will ich ihn begraben.« So legte man den Leichnam auf den Esel, der ihn, ohne rechts noch links abzuweichen, geraden Weges aus der Stadt trug bis zum Schindanger, wo man die Diebe henkt; da schlug der Esel aus und warf den Leichnam auf den Misthaufen unter dem Galgen.
In der gesamten Weltliteratur finden wir kaum eine freundliche Darstellung eines Geldverleihers – oder genauer eines gewerbsmäßigen Geldverleihers, was definitionsgemäß bedeutet, dass er Zinsen nimmt. Ich bin nicht sicher, ob es eine andere Berufsgruppe (Henker vielleicht?) mit einem so konstant schlechten Image gibt. Dies ist umso bemerkenswerter, als Geldverleiher im Gegensatz zu Henkern oft zu den reichsten und mächtigsten Mitgliedern ihrer Gemeinschaft zählten. Doch allein das Wort »Zinswucherer« weckt Assoziationen von Kredithaien, Blutgeld, gnadenlosen Forderungen, Seelenverkauf und hinter all dem die Assoziation des Teufels, der selbst oft als Wucherer dargestellt wird, ein boshafter Buchhalter mit seinem Hauptbuch, oder als Gestalt, die hinter dem Wucherer lauert und wartet, bis seine Stunde kommt und er die Seele des Schurken holen kann, der durch seine Tätigkeit einen Pakt mit der Hölle geschlossen hat.
Im Lauf der Jahrhunderte gab es immer zwei Möglichkeiten, wie ein Geldverleiher versuchen konnte, sich aus der Schande herauszuwinden: entweder, indem er die Verantwortung einem Dritten zuschob, oder indem er behauptete, der Schuldner sei noch viel schlimmer. Im mittelalterlichen Europa wählten die adligen Herren oft den ersten Weg und machten die Juden zu Sündenböcken. Viele sprachen sogar von »unseren« Juden – das heißt Juden unter ihrem persönlichen Schutz –, obwohl das in der Praxis üblicherweise bedeutete, dass sie auf ihrem Territorium den Juden jede Möglichkeit verweigerten, ihren Lebensunterhalt anders zu verdienen als durch Zinswucher (weshalb ihnen allgemeine Verachtung sicher war), und die Juden dann regelmäßig attackierten mit der Begründung, sie seien verachtenswerte Kreaturen, und das Geld an sich nahmen. Die zweite Strategie ist natürlich geläufiger. Aber sie führt in der Regel zu der Schlussfolgerung, dass beide Beteiligte an einem Kreditgeschäft gleichermaßen schuldig sind; die ganze Sache ist ziemlich schäbig, und mit großer Wahrscheinlichkeit sind beide verdammt.
In anderen Weltreligionen gibt es andere Sichtweisen. Nach mittelalterlichen Hindu-Gesetzen waren nicht nur verzinste Darlehen zulässig, deren wichtigste Bestimmung lautete, dass die Zinsen das Kapital nicht übersteigen durften. Aber es wurde oft betont, ein Schuldner, der seine Schuld nicht zurückzahle, werde als Sklave im Haushalt seines Gläubigers wiedergeboren – oder, in späteren Gesetzbüchern, als sein Pferd oder Ochse. Die gleiche tolerante Haltung gegenüber Geldverleihern und Warnung vor der Rache des Karmas an denen, die sich Geld leihen, finden wir in vielen Richtungen des Buddhismus.
Entstand der Eindruck, ein Geldverleiher gehe zu weit, tauchten die gleichen Geschichten auf wie in Europa. Ein mittelalterlicher japanischer Autor berichtet – er betont ausdrücklich, die Geschichte sei wahr – vom schrecklichen Schicksal der Hiromushime, Ehefrau eines reichen Bezirksgouverneurs um das Jahr 776. Sie war eine außerordentlich habgierige Person und goss Wasser in den Reiswein, den sie verkaufte, und machte mit dem verdünnten Sake hohen Gewinn. Wenn sie jemandem etwas lieh, verwendete sie ein kleines Messgefäß, aber wenn sie die Schuld zurückforderte, kam sie mit einem großen. Wenn sie Reis verlieh, wog ihre Waage kleine Mengen, wenn sie die Zahlung entgegennahm, waren es große Mengen. Die Zinsen, die sie erhob, waren notwendigerweise gewaltig – oft das Zehnfache oder sogar das Hundertfache der ursprünglichen Summe. Beim Eintreiben der Schulden war sie streng und ohne jedes Erbarmen. Deshalb verfielen viele Menschen in Angst; sie verließen ihre Häuser, um von ihr wegzukommen, und zogen in andere Provinzen.
Nach ihrem Tod beteten Mönche sieben Tage lang an ihrem versiegelten Sarg. Am siebten Tag erwachte der Leichnam auf einmal wieder zum Leben: Allen, die kamen, um zu schauen, schlug ein unbeschreiblicher Gestank entgegen. Von der Taille aufwärts war sie ein Ochse mit einem zehn Zentimeter langen Horn, das aus ihrer Stirn ragte. Ihre beiden Hände waren zu Hufen geworden, die Nägel gespalten, sodass sie dem Spann eines Ochsenhufs glichen. Von der Taille abwärts hatte sie immer noch den Körper eines Menschen. Sie mochte Reis nicht und aß lieber Gras. Ihre Art zu essen war Wiederkäuen. Nackt lag sie in ihren Exkrementen.
Schaulustige strömten herbei. Voller Schuldgefühle und beschämt versuchte die Familie verzweifelt, Vergebung zu erkaufen. Sie erließ allen Schuldnern ihre Schulden und verschenkte einen großen Teil ihres Reichtums an kultische Einrichtungen. Schließlich starb das Monstrum gnädigerweise.
Der Verfasser, selbst Mönch, befand, die Geschichte sei ein klarer Fall von vorzeitiger Reinkarnation: Die Frau wurde vom Gesetz des Karmas dafür bestraft, dass sie gegen das verstoßen hatte, »was sowohl vernünftig als auch gerecht ist«. Die buddhistischen Schriften lieferten, soweit sie zu der Angelegenheit etwas zu sagen hatten, jedoch keinen Präzedenzfall. Normalerweise glaubte man, Schuldner würden als Ochsen wiedergeboren, nicht Gläubiger. Deshalb wurden seine Ausführungen ziemlich konfus, als er daran ging, die Moral der Geschichte darzulegen:
Es ist, wie es in einer Sutra heißt: »Wenn wir die Dinge nicht zurückzahlen, die wir geliehen haben, besteht unsere Rückzahlung darin, als Pferd oder Ochse wiedergeboren zu werden.« Oder auch: »Ein Schuldner ist ein Fasan, und sein Gläubiger ist ein Falke.« Oder: »Der Schuldner ist wie ein Sklave, der Gläubiger wie ein Herr.« Wenn du in der Situation bist, einen Kredit gewährt zu haben, übe nicht unvernünftigen Druck hinsichtlich der Rückzahlung auf deinen Schuldner aus. Wenn du es tust, wirst du als Pferd oder Ochse wiedergeboren werden und wirst für den, der in deiner Schuld stand, arbeiten müssen, und dann wirst du die Schuld viele Male zurückzahlen.
Wer wird nun was sein? Sie können nicht beide als Nutztiere im Stall des jeweils anderen enden. Allem Anschein nach stoßen sich alle Weltreligionen an diesem Dilemma. Einerseits sind alle moralisch kompromittiert, soweit bei Schulden zwischenmenschliche Beziehungen ins Spiel kommen. Beide Beteiligte sind wahrscheinlich schon, allein dadurch, dass sie in Beziehung treten, schuldig; zumindest laufen sie erheblich Gefahr, schuldig zu werden, wenn die Rückzahlung verschoben wird. Andererseits beschreiben wir jemanden nicht gerade als Inbegriff von Tugend, wenn wir von ihm sagen, er »sei er niemandem etwas schuldig«. In der säkularen Welt besteht Moral wesentlich darin, seinen Verpflichtungen gegenüber anderen nachzukommen. Hartnäckig neigen wir dazu, uns diese Verpflichtungen als Schulden vorzustellen. Mönche können diesem Dilemma vielleicht entgehen, indem sie sich ganz aus dem weltlichen Getriebe zurückziehen, aber wir hier draußen sind, wie es scheint, dazu verurteilt, in einem Universum zu leben, das nicht unbedingt Sinn ergibt.
Die Geschichte von Hiromushime ist eine perfekte Illustration des Impulses, die Anklage gegen den Ankläger zu wenden – genau wie in der Geschichte über den toten Wucherer, der auf den Esel gesetzt wird, ist die Hervorhebung von Exkrementen, Tieren und Demütigung als dichterische Form der Gerechtigkeit zu verstehen: Der Gläubiger soll die gleichen Gefühle von Schande und Demütigung empfinden, die üblicherweise beim Schuldner verursacht werden. Alles in allem ist es eine direktere, anschaulichere Art zu fragen: »Wer schuldet wem wirklich was?«
Es ist auch eine perfekte Illustration, wenn wir in dem Augenblick beginnen, da wir die Frage stellen: »Wer schuldet wem wirklich was?«, die Sprache des Gläubigers zu sprechen. Wenn wir unsere Schulden nicht zurückzahlen, »wird unsere Zahlung darin bestehen, als Pferd oder Ochse wiedergeboren zu werden«; wenn Sie ein unvernünftiger Gläubiger sind, werden Sie genauso »zurückzahlen« müssen. Selbst die Gerechtigkeit des Karmas kann so auf die Sprache eines Geschäfts reduziert werden.
Und damit kommen wir zur zentralen Fragestellung dieses Buches: Was heißt es genau, zu sagen, unser Gefühl für Moral und Gerechtigkeit werde auf die Sprache eines Geschäfts reduziert? Was bedeutet es, wenn wir moralische Verpflichtungen auf Schulden reduzieren? Was ändert sich, wenn das eine zum anderen wird? Und wie sprechen wir darüber, wenn unsere Sprache so sehr vom Markt bestimmt wurde? Auf einer Ebene ist der Unterschied zwischen Verpflichtung und Schuld einfach und offensichtlich. Eine Schuld ist die Verpflichtung, eine bestimmte Geldsumme zu zahlen. Folglich lässt sich eine Schuld anders als jede andere Form der Verpflichtung genau quantifizieren. Dadurch werden Schulden einfach, kalt und unpersönlich – und das macht sie wiederum übertragbar. Wenn man jemandem einen Gefallen schuldet oder sein Leben verdankt, ist man dieser bestimmten Person verpflichtet.

 

 

© Leseprobe und Fotos: Klett-Cotta

  

07/2012

 

 



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