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Grenzland: Ukraine


Tatiana Zhurzhenko

Im Osten nichts Neues?


- Gekürzte Fassung - 


Angesichts des blutigen Konflikts zwischen den pro-russischen Separatisten im Donbas und der Regierung in Kiew erscheint die weit verbreitete Rede von den „zwei Ukrainen“, die von ihren Werten und ihrer Geschichte her nicht zusammenpassen, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die von so vielen Beobachtern im Land und in der Welt geteilte Skepsis gegenüber der Lebensfähigkeit der Ukraine als Nationalstaat scheint sich schlussendlich zu bestätigen. Zugleich wirft die Konzentration des Konflikts auf den Donbas und der Niedergang des Separatismus in anderen Regionen der Ost- und Südukraine die Frage auf, was aus der angeblichen Ost-West-Spaltung des Landes geworden ist. Ist der „Osten“ auf den Donbas geschrumpft? […]

Wie viele ukrainische Intellektuelle frage ich mich heute, wie das Land in eine solche Katastrophe geraten konnte: Was haben wir in unseren Forschungen übersehen, warum haben wir die offensichtliche Fragilität der jungen ukrainischen Nation unterschätzt? Schlimmer noch: Haben wir nicht selbst zum heutigen tragischen Konflikt beigetragen mit unseren Ideen und Modellen, die nun ihr destruktives Potential freisetzen? Andriy Portnov, ein ukrainischer Historiker und öffentlicher Intellektueller, kritisierte kürzlich den verbreiteten Hang, den Donbas zu „orientalisieren“, ihn als negativen Archetyp zu benutzen, der es erlaubt, auf Fragen der Verantwortung und Schuld einfache Antworten zu geben.2 Ohne Zweifel birgt der gegenwärtige Krieg die Gefahr, Feinde und Kollaborateure zu schaffen, doch zugleich hat er die intellektuelle Atmosphäre geklärt und die Debatte über die ukrainische Identität auf null gesetzt. Stimmen von Journalisten, Akademikern und Schriftstellern aus der Ostukraine, von denen viele russischsprachig sind, doch zugleich ukrainische Patrioten, haben eine erfrischende Wirkung auf die öffentliche Debatte im Lande. Die Ereignisse der letzten Zeit haben gezeigt, dass es eine Entität wie den Osten oder den Südosten nicht gibt. Angesichts der separatistischen Bedrohung und der russischen Aggression haben Dnipropetrowsk, Odessa, Charkiw und andere größere und kleinere Städte ihren ukrainischen Charakter in verschiedener Weise wiederentdeckt und geben dem deutlich Ausdruck. Wir wissen nicht, ob Donezk und Luhansk Teil der Ukraine bleiben werden. Auf jeden Fall aber wird die Zukunft der Ukraine als Nation heute im Osten entschieden. […] Meine Fragen sind: Warum blieb der Osten weitgehend indifferent gegenüber der Revolution in Kiew? Welche Rolle spielte das Erbe der sowjetischen Modernisierung in der Ostukraine? Wie hat die jüngste politische und militärische Krise die traditionelle Ambiguität der Grenzlandidentitäten beeinflusst? Warum ist die Idee des Russkij Mir, die in den 1990er Jahren eine Randexistenz fristete, in der Ostukraine heute, 2014, so anziehend? Kann der Donbas in die Ukraine re-integriert werden, wenn es gelingt, die pro-russischen Separatisten zu besiegen?



Die östlichen Grenzgebiete der Ukraine: das Ende der Ambivalenz

In den Cultural Studies ist der Begriff der Grenzgebiete (borderlands) heute besonders beliebt, weil er zu unserer komplexen, dynamischen und von Wechselbeziehungen geprägten Welt zu passen scheint und eine Alternative zur homogenisierenden Logik des Nationalismus und dem damit verbundenen Ideal der Monoethnizität liefert.
Seit ein, zwei Jahrzehnten stellt man sich Grenzgebiete gern als Kontaktzonen vor, als Kommunikationssysteme und soziale Netzwerke. Als geopolitisch amorphe „Zwischenzonen“ bringen diese Gebiete hybride Identitäten hervor und schaffen politische, wirtschaftliche und kulturelle Praktiken, die verschiedene, oft in sich widersprüchliche Werte kombinieren. Darüber hinaus schreibt man Grenzregionen gerne einen multikulturellen, kosmopolitischen Charakter zu und bescheinigt ihnen kulturelle Authentizität. In einer Situation der Nationenbildung, wie wir sie seit 1991 in der Ukraine erleben, sind diese Merkmale und Tugenden jedoch nicht unbedingt willkommen. Gemischte Identitäten und multiple Loyalitäten stellen eine Herausforderung für die Schaffung eines Nationalstaats dar, ja können eine Bedrohung für ihn werden.



Vom Herzland zum Grenzland

Diese beiden Vorstellungen prallten in der Ostukraine, die ehemals zum Herzland der Sowjetunion gehörte und 1991 zum Grenzland wurde, aufeinander. In den Augen nicht weniger Intellektueller aus Kiew und Lwiw (Lemberg) bestand die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine, die für die Kommunisten oder Oligarchen-Parteien stimmte und der nationalen Idee gegenüber indifferent, wenn nicht gar feindlich gesonnen war, aus postsowjetischen „Kreolen“, denen es an ukrainischer Identität mangelte. Mental immer noch dem Sowjetimperium nachhängend, schienen sie die Hauptursache für den schwierigen Übergang vom Kommunismus zu Demokratie und freier Marktwirtschaft. Der industrialisierte 'sowjetische' Donbas wurde gern als Antipode der „wahren“ europäischen Ukraine gesehen, ebenso wie die kulturelle Ambiguität von Charkiw als gefährliche Offenheit gegenüber Russland wahrgenommen wurde. Aus dieser Perspektive verkörperten die östlichen Grenzgebiete die Schwäche der nationalen Identität und eine Bedrohung für das Projekt einer unabhängigen Ukraine.
Zugleich versuchten die lokalen politischen und intellektuellen Eliten der Ostukraine, vor allem in Charkiw, Donezk und Luhansk, ihre Region als Grenzregion neu zu erfinden, in erster Linie, um Legitimität für die engen kulturellen Beziehungen zu und die grenzüberschreitende wirtschaftliche Kooperation mit Russland zu schaffen.
Indem es die kulturelle Vielfalt und Zweisprachigkeit als Stärke darstellte und Ethnizität entpolitisierte, half das Konzept der Grenzregion auch, die schwache nationale Identität zu rechtfertigen. Für die Region Charkiw knüpfte man an die einstige Sloboda-Ukraine des 17./18. Jahrhunderts an und stellte sich als Produkt einer vereinten ukrainisch-russischen Kolonisierung dar, die sich durch die Abwesenheit ethnischer Konflikte und die friedliche Koexistenz zweier Sprachen und Kulturen auszeichnet. Ähnlich wurde, im Rückgriff auf den sowjetischen Internationalismus und auf Klassen- statt ethnischer Zugehörigkeit, der Donbas als Sonderfall konstruiert, der sich nicht der Logik des „nationalisierenden“, also sich noch im Aufbau befindlichen Staates subsumieren lässt. Die Ablehnung ethnischer Kategorisierung und die Präferenz für eine lokale Identität war eine typische Reaktion auf das, was als Nationalismus Kiews und der Westukraine wahrgenommen wurde. Dieser Grenzland-Diskurs war defensiv, er entsprang dem Trauma des Zerfalls der Sowjetunion. Imaginiert wurde ein undifferenzierter gemeinsamer kultureller Raum, bewohnt von einer Bevölkerung mit verschwommenen bzw. hybriden ukrainisch-russischen, ostslawischen, orthodoxen oder residualen sowjetischen Identitäten.
Man kann diskutieren, ob es die schwach ausgebildete ukrainische Identität im Osten war, die den Weg für den pro-russischen Separatismus und den bewaffneten Konflikt ebnete, oder ob die nationale Idee nicht inklusiv genug war, um auch die östlichen Grenzregionen unter ihr Dach zu bringen. Faktum ist, dass die Zeit der postsowjetischen Ambivalenz, in der diffuse Identitäten und Doppel-Loyalitäten toleriert wurden, mit der Annexion der Krim und dem bewaffneten Konflikt im Osten ihr Ende gefunden hat. Einmal mehr wurden borderlands zu bloodlands (Timothy Snyder), und man kann nur raten, welche neue Konstellation aus dieser Krise hervorgehen wird.
Vor zwölf Jahren schrieb ich:


Die russischsprachigen Ukrainer und die Russen der Ostukraine sind gegenüber dem neuen ukrainischen Staat politisch loyal, doch viele von ihnen sind nicht bereit, sich eine ukrainische kulturelle Identität aufzwingen zu lassen, die auf einer Kombination ethnisch- sprachlicher Kriterien und anti-russischer Ressentiments beruht, ebenso wenig wie die Alternative zwischen zwei Kulturen – einer 'europäischen Ukraine' und einem 'asiatischen Russland'.3


Im Lichte der jüngsten Ereignisse muss jedes Element dieses Satzes neu geprüft werden. Die Loyalität der russischsprachigen Bevölkerung wurde bis zur Annexion der Krim im März 2014 und dem von Moskau inspirierten Russischen Frühling nie auf die Probe gestellt. Dieser Moment ist jetzt eingetreten, mit aller Brutalität – für jene, die zur Ukrainischen Armee eingezogen wurden, die sich freiwillig zur Nationalgarde melden, die verwundete Soldaten pflegen und Flüchtlingen helfen; aber auch für jene, die für die 'Volksrepubliken' Donezk oder Luhansk stimmten und die Waffen gegen die Regierung in Kiew erhoben. Die Mehrheit hat sich für den Ukrainischen Staat entschieden, die einen aus pragmatischen Motiven und Angst vor Gewalt, die anderen aus einem neuen Patriotismus, dem Schmerz über die nationale Demütigung und dem Gefühl der Solidarität gegenüber denen, die ihr Leben für die territoriale Integrität einsetzen. Es gibt aber immer noch jene, die mit den Separatisten und mit Russland sympathisiert haben oder es noch tun – einige, weil sie den Versprechen auf höhere Gehälter und Pensionen Glauben schenkten, andere, weil sie ihre russische Identität wiederentdeckten oder sich im neuen ukrainischen Staat nie zuhause gefühlt hatten. Wie diese beiden Gruppen nach dem Ende des Krieges in einem Staat – wenn es denn keine Sezession geben wird – wieder friedlich zusammenleben können, ist nur eine der schwierigen Fragen, mit denen wir in der nächsten Zukunft konfrontiert sein werden.
Zugleich vollbringt die russische Aggression, was die ukrainischen Präsidenten von Krawtschuk bis Janukowytsch nicht erreicht haben: Sie ist der Katalysator für die Bildung einer politischen Nation. Die ukrainische Identität, die so lange mit Ethnizität, Sprache und historischem Gedächtnis assoziiert wurde, ist plötzlich territorial und politisch geworden und schließt auf diese Weise russophone und russische ukrainische Bürger ein wie auch solche anderer ethnischer Herkunft. Ein gutes Beispiel sind die Krim-Tataren, die nach der Annexion Kiew gegenüber loyal blieben und heute als „echte Ukrainer“ wahrgenommen und gefeiert werden.
Nicht zuletzt werden anti-russische Einstellungen heute paradoxerweise auch von vielen ethnisch russischen und russischsprachigen Ukrainern geteilt, die sich nach wie vor dem Nachbarland kulturell zugehörig fühlen. Doch Russlands autoritäre Politik, seine immer schriller werdenden Ressentiments gegenüber dem Westen und seine wachsende Selbstisolation treiben die russischsprachige urbane Mittelklasse, die mittelständischen und Kleinunternehmer ebenso wie die intellektuellen Eliten im Osten dazu, sich eher mit einer (potentiell) europäisch gesinnten Ukraine zu identifizieren. Es gibt immer noch viele, für die Russland attraktiv geblieben ist – Leute, die anti-westlich eingestellt sind, Putins starke Hand schätzen und dem militärischen Ruhm Russlands nachtrauern. Diese Gruppe rekrutiert sich vornehmlich aus der Unterschicht und der älteren Generation. Doch ist sie wohl im Schwinden begriffen angesichts des Separatismus mit seinem hässlichen Gesicht und dem täglichen Terror und der Anomie, die er über den Donbas gebracht hat. Jedenfalls ist die russische Aggression, zusammen mit der kollektiven Demütigung, die der territoriale Verlust der Krim bedeutete, zu einem Faktor der nationalen Konsolidierung geworden. Umfragen vom März 2014 zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der ukrainischen Bürger (85 %) die Annexion ablehnte und sogar im Osten des Landes nur 24 % sie guthießen.
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Wichtiger als die Verschiebung in den Einstellungen ist wahrscheinlich die Herausbildung einer aktiv pro-ukrainischen Minderheit in den großen russischsprachigen Städten wie Odessa, Dnipropetrowsk und Charkiw. Die ehemaligen lokalen Euromaidan-Aktivisten bleiben der Motor für demokratischen Wandel. Einige von ihnen sind in die lokale Verwaltung gegangen, andere haben einflussreiche Netzwerke und Bürgerinitiativen geschaffen, die die Ukrainische Armee und Freiwillige unterstützen, Flüchtlingen helfen und in Militärkrankenhäusern die Verwundeten pflegen. Statt sich, wie nach der Orangen Revolution, obsessiv auf Fragen der Sprach- und Gedächtnispolitik zu konzentrieren, tragen diese Gruppen heute lieber zur Lösung praktischer Probleme wie Sicherheit im öffentlichen Raum, politische Kontrolle der lokalen Behörden und humanitäre Not bei. Die ukrainische Identität, die sie leben, ist eher politisch und zivilgesellschaftlich als ethnisch und kulturell. Es ist auch bezeichnend, dass ukrainische Symbole wie die Wyschywanka, also die traditionellen Stickmuster, ihre ethnische Partikularität verloren haben und politische Symbole des Widerstands und Nationalstolzes geworden sind.



Auf den Ruinen der sowjetischen Moderne

Der Maidan 2013/14 ist von vielen Beobachtern als Versuch interpretiert worden, die 1989er Revolutionen in Ostmitteleuropa nachzuholen und die Entsowjetisierung der Ukraine zu vollenden. Forderungen, die herrschende Elite einer Lustration zu unterziehen oder die Kommunistische Partei zu verbieten, spiegeln die verbreitete Auffassung wider, dass fast alle Probleme des Landes mit der immer noch lebendigen sowjetischen Vergangenheit zusammenhängen. Während überall, wo der Euromaidan das Land erfasste, Lenin-Denkmäler gestürzt wurden, blieben sie im Osten, insbesondere in Charkiw, Donezk und Luhansk und in vielen kleinen Städten des Donbas, nicht nur stehen, sondern erhielten ein zweites Leben als Orte pro-russischer Mobilisierung und des symbolischen Widerstands gegen die Regierung in Kiew. Doch geht es bei dem Zusammenprall von Werten und Ideologien in der Ukraine tatsächlich um den endgültigen Abschied von den Überbleibseln des Sowjetsystems?
Vor zwölf Jahren widersprach ich der These der Rückständigkeit und Inferiorität des Ostens mit dem Argument, dass die Ukraine ihre moderne industrielle, kommunikative und kulturelle Infrastruktur und den Rahmen ihrer kollektiven Identität aus der Sowjetära geerbt habe und dass dieses Erbe nicht unbedingt etwas Negatives sein müsse. Ich war auch davon überzeugt, dass die Ostukraine mit ihrem industriellen und wissenschaftlichen Kapital, ihren Humanressourcen und ihrer modernen urbanen Kultur ein vitales Moment des europäischen Projekts der Ukraine sein könne. Die ostukrainischen Städte beriefen sich stolz auf das Erbe der sowjetischen Urbanisierung und den ukrainischen Modernismus der 1920/30er Jahre. In Charkiw wurde 1928 Derschprom, das gewaltige konstruktivistische Haus der Staatsindustrie, fertiggestellt. Die Architektur gemahnt an Fritz Langs ein Jahr zuvor entstandenen Film Metropolis, Dsiga Wertow und Sergei Eisenstein verwendeten das Gebäude in ihren Filmen als Symbol der Moderne, und Charkiw, das sich gern als „Erste Hauptstadt der Ukraine“ (1919-1934) präsentiert, hat es zu seinem Wahrzeichen gemacht. Ebenso waren die mit der Sowjetära assoziierte Industriekultur und das Ethos der Arbeiterklasse der ganze Stolz des Donbas und wesentliche Elemente der lokalen Identität.
Heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, bin ich nicht mehr so optimistisch. Es scheint, dass die sowjetische Moderne keine Basis mehr für die längst fällige postsowjetische Modernisierung bildet. Das grandiose Scheitern von Dmitri Medwedews groß angekündigtem Modernisierungsprogramm für Russland ist nur ein weiteres Beispiel dafür. De-Industrialisierung ist ein globaler Trend und nicht spezifisch für den postsowjetischen Raum. Auch und gerade in den hochentwickelten Ländern leiden die alten Industrieregionen unter Strukturproblemen, man denke nur an das Ruhrgebiet oder Detroit. Ihre Wiederbelebung erfordert Investitionsbereitschaft, Kreativität und politischen Willen. Die postsowjetische Privatisierung und die lokalen Varianten neoliberaler Wirtschaftsformen bieten keine Lösung für die komplexen Probleme der alten Industrieregionen im Osten der Ukraine, im Gegenteil, sie haben sie verschärft. Die aus der Sowjetzeit geerbten Industrieanlagen wurden und werden in der Regel nicht modernisiert, sondern bis an die Grenzen ausgebeutet. Der in der Ostukraine entstandene postsowjetische Kapitalismus ist aus einer Symbiose von „Roten Direktoren“ und lokalen kriminellen Clans hervorgegangen, während Gewerkschaften bzw. eine institutionalisierte Arbeiterbewegung weitgehend fehlten.
5 Wer das Glück hat, beschäftigt zu sein, hat zeitlich befristete Verträge und ist der Willkür des lokalen Managements ausgeliefert. Viele kleinere Städte mit industrieller Monokultur, vor allem im Donbas, sind heute entvölkert, weil ihre arbeitsfähigen Einwohner in Russland Geld verdienen, sich Schmugglerbanden angeschlossen haben oder versuchen, sich mit Subsistenzwirtschaft über die Runden zu bringen. Die städtische Infrastruktur ist allenthalben überaltert, und die Bürgermeister verbuchen es schon als Erfolg, wenn sie die Mittel auftreiben, wenigstens das Zentrum kosmetisch zu renovieren. Von der Fußball-Europameisterschaft 2012, die die Regierung Janukowytsch mit großen Versprechungen verband, blieben ein paar Stadien und Hotels in Donezk, Charkiw, Kiew und Lwiw; der erhoffte Impuls für die ukrainische Wirtschaft stellte sich nicht ein.

Die ukrainische Variante des postsowjetischen Kapitalismus korrespondiert mit einem spezifischen politischen System, das seine Wurzeln in der Ostukraine hat. Insbesondere dem Donbas fehlt es an politischem Pluralismus und Wettbewerb, und es war das hier etablierte Modell, das die regionalen Eliten auf das gesamte Land übertragen wollten. Das politische Monopol der Partei der Regionen, das die Interessen eines Oligarchen-Clans vertritt, hat die Entstehung politischer Alternativen verhindert. Als unangefochtene wirtschaftlich-politische Beteiligungsgesellschaft konnte es sich die Partei der Regionen erlauben, ihre Wählerschaft zu ignorieren und auf Ideologie weitgehend verzichten. Dieses Modell hat, wie die Politologen Oleksandr Fisun und Oleksiy Krysenko argumentieren, eine Zeitbombe unter den ukrainischen Staat gelegt. Es konnte nicht gutgehen, dass Wahlen zu einer formalen Prozedur degenerierten, deren einziger Zweck es war, das bestehende, durch Ungerechtigkeit und Intransparenz charakterisierte Machtsystem mit Legitimation zu versehen.
6 Es konnte nicht gutgehen, dass die erwerbstätige Bevölkerung in technisch obsoleten, aus der Sowjetzeit ererbten und staatlich subventionierten Industrieunternehmen arbeitete und Aufstiegschancen blockiert waren. Anders als in den übrigen Regionen gab es im Donbas so gut wie keine Gegen-Eliten. Daher waren dort die lokalen Ausbildungsformen des Euromaidan marginal, und die im Frühjahr 2014 organisierten Anti-Kiew-Proteste zogen vor allem die Verlierer der postsowjetischen Transformation an. Ähnliche Tendenzen waren in anderen ostukrainischen Städten zu beobachten, etwa in Charkiw, wo Gouverneur Dobkin und Bürgermeister Kernes die lokalen politischen Ressourcen monopolisierten und alle Geldflüsse, gleich ob privat oder öffentlich, unter ihre Kontrolle brachten.
Die Partei der Regionen beanspruchte, die Interessen der russischsprachigen Ostukraine zu vertreten, doch in Wahrheit reflektierte sie nur die anti-demokratische, anti-liberale politische Kultur ihrer Wählerschaft, die nicht an Repräsentation, sondern an Protektion interessiert war. Paternalismus – von Geschenken, etwa Buchweizen, der vor Wahlen gratis an Pensionäre verteilt wurde, bis zum Versprechen, den Osten vor der „faschistischen Bedrohung“ aus dem Westen zu beschützen – war das Fundament für die apolitische Politik der Partei der Regionen. Deren lokale Führung versuchte, die Proteste auf dem Maidan in Kiew zu ignorieren und warb Demonstranten für Gegenproteste an, in der Regel Angestellte aus dem öffentlichen Dienst. Angeheuerte Schläger aus dem kriminellen Milieu, die Tituschki, wurden losgeschickt, um die Euromaidan-Aktivisten einzuschüchtern, und verprügelten Demonstranten auf offener Straße. Das Phänomen der Tituschki – oft ehemalige Sportler, die informell mit der Polizei zusammenarbeiteten und vor allem in der Geschäftswelt als Leibwächter und Schlägertruppen eingesetzt wurden – illustriert gut den Mafia-Hintergrund eines Teils der lokalen Elite.

Der Donbas war der Extremfall, aber zusammen mit den vielen ost- und südukrainischen Städten und ihren enttäuschten Einwohnern, die immer noch unter den wirtschaftlichen Auswirkungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion litten, mit einem Unternehmertum und einer politischen Landschaft, die von in die örtliche Polizei und Sicherheitskräfte integrierten Donezker Aufpassern kontrolliert wurden, waren die sozialen und politischen Voraussetzungen für eine ukrainische Vendée gegeben. Es ist nicht die sowjetische Moderne, sondern ein auf ihren Ruinen gewachsenes monströses Neoplasma, das die Europäisierung der Ukraine behindert. Von daher verfehlt die aggressive anti-sowjetische Rhetorik vieler Euromaidan-Aktivisten ihr Ziel. Für sie symbolisieren die Lenin- Denkmäler eine sowjetische Identität, die in den desolaten Industrieenklaven des Ostens überlebt hat. Doch womit die Regierung in Kiew hier konfrontiert ist, hat wenig mit sowjetischer Ideologie und Werten zu tun, vielmehr steht sie wohl vor einem Phänomen, das der russische Soziologe Lev Gudkov als „negative Identität“ beschrieben hat.7 Diese konstituiert sich über ein Feindbild: Aus der Perspektive der pro-russisch eingestellten Bürger sind es die „Banderisten“ und „Nationalisten“ aus Kiew und der Westukraine, die „unsere Denkmäler“ stürzen und „unsere Vergangenheit“ stehlen. Die Lenin-Denkmäler verkörpern nicht mehr die Sowjetunion, sondern sind ein Ort und Symbol pro-russischer Mobilisierung geworden – „leere Zeichen“, die keinen ideologischen Inhalt transportieren, sondern die lokale Identität als „anti-Kiew“ markieren.



Kollektives Gedächtnis und politische Kultur

Die populäre Rede von den „zwei Ukrainen“ geht davon aus, dass der Osten und der Westen des Landes unterschiedliche kulturelle Identitäten haben, die in verschiedenen historischen Erinnerungen und verschiedenen, oft konträren Werten wurzeln. Der Osten, so die gängige Vorstellung, könne nicht auf eine Tradition nationaler Massenbewegungen zurückblicken, seine Bevölkerung habe, anders als der westliche Teil, eine Sowjetidentität verinnerlicht und das kollektive Trauma des Holodomor verdrängt. Was die beiden Teile des Landes insbesondere trenne, sei das Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs und die Narrative von Heldentum und Leiden, die unvereinbar seien. In der Tat: Während in der Westukraine die Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) geehrt werden, die gegen Hitler und Stalin für eine unabhängige Ukraine focht, teilt man in der Ostukraine das Narrativ vom Großen Vaterländischen Krieg mit dem russischen Nachbarn.
Damals, 2002, erschienen mir, wie vielen anderen, diese Vorstellungen eine potentielle Bedrohung für die ukrainische Einheit, aber niemand ahnte, wie tief sie das Land dann tatsächlich spalten würden. Die Geschichte wurde politisch instrumentalisiert, insbesondere während des Präsidentschaftswahlkampfs 2004 und der Orangen Revolution. Beide Lager betrieben eine Identitätspolitik, die die Ost-West-Differenz essentialisierte und zu einer politischen Waffe machte: Alte Klischees über das „nationalistische“ Galizien, das eine „faschistische Bedrohung“ darstelle, wurden wieder aufgewärmt und gegen die von der anderen Seite propagierten Stereotypen vom „entwurzelten“, „kriminellen“ Donbas ins Feld geführt. Auf diese Weise wurde die öffentliche Debatte über Jahre vergiftet. Die Partei der Regionen, die ihre Position in den Regionalwahlen 2006 festigen konnte, fuhr damit fort, ihre politischen Gegner als „Faschisten“ zu denunzieren und profilierte sich selbst als „anti-faschistische“ Kraft. Zugleich schöpfte die von der Partei der Regionen in ihren Hochburgen Donezk und Luhansk betriebene lokale Identitätspolitik aus einem gemischten Repertoire neo-sowjetischer Symbolik und Diskurse (wie dem Großen Vaterländischen Krieg), konservativer russisch-orthodoxer Werte und Stereotypen wie der hart arbeitenden Bevölkerung, die den Rest der Ukraine ernähren müsse; und nicht zuletzt beschwor sie das Bild einer Bedrohung für die russische Sprache und Kultur herauf, die angeblich vor den „ukrainischen Nationalisten“ geschützt werden müsse.
Die Wahl von Wiktor Janukowytsch zum Präsidenten 2010 änderte die Situation kaum. Weil er der West- und Zentralukraine wenig zu bieten hatte und über keine kohärente Identitätspolitik auf nationaler Ebene verfügte, konzentrierte er sich weiterhin auf seine Klientel im Donbas, und es blieb bei der qua Absetzung gegen die „fremden“ kulturellen und politischen Werte der Westukraine definierten Identität des Donbas.



Krieg der Identitäten

Der jahrelang schwelende Krieg der Identitäten sollte dann im Winter 2013/14 offen ausbrechen, als der Euromaidan den östlichen Phobien vor einem radikalen ukrainischen Nationalismus neue Nahrung gab. Allerdings war es nicht so sehr der ideologische, auf den Zweiten Weltkrieg zurückgreifende Ost-West-Gegensatz, als andere, individuelle wie kollektive Erinnerungen, die die im Osten vorherrschende negative Einstellung gegenüber dem Euromaidan erklären. Es sind Erinnerungen an die Perestroika und den Zerfall der Sowjetunion, die dort weniger mit einem Neubeginn – der Geburt der unabhängigen Ukraine -, als mit dem Zusammenbruch der bestehenden Ordnung, dem wirtschaftlichen Kollaps und der schmerzhaften Trennung von Russland verbunden sind. In den ostukrainischen Städten, wo große Firmen und viele Kleinunternehmen in einem hohen Maße vom russischen Markt leben, dachte man an die Rezession von 1990. Ebenso ließ die Eskalation der Gewalt in Kiew Erinnerungen an die russische Verfassungskrise von 1993 wiederaufleben, als die Konfrontation zwischen Präsident Jelzin und dem Parlament mit blutigen Straßenkämpfen und dem Sturm auf das Parlamentsgebäude endete. Viele Menschen im Osten und Süden der Ukraine erlebten diese Krise noch als Teil ihrer eigenen Geschichte, und nicht als Geschichte eines Landes, das nicht mehr das ihre war. Nicht zuletzt spielte in der Wahrnehmung des Euromaidan auch der negative Eindruck eine Rolle, den die Orange Revolution auf viele Ostukrainer gemacht hatte: In ihren Augen steht sie für das Scheitern der Orangen Koalition, der es nicht gelang, die Korruption zu bekämpfen und die notwendigen Reformen durchzusetzen; was man im Osten mit dieser Zeit assoziiert, sind ebenso schrille wie fruchtlose politische Konflikte und endlose Intrigen. Von daher ist es verständlich, dass die schweigende Mehrheit die relative Stabilität begrüßte, die mit der Konsolidierung der Partei der Regionen einherging. Während es zahllose Untersuchungen zu den kontroversen Erinnerungen des Zweiten Weltkriegs gibt, wurde dem kollektiven Gedächtnis der jüngsten Vergangenheit und seinem Einfluss auf die lokale politische Kultur und kulturelle Identität bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Zur politischen Kultur der Ostukraine gehört auch ihre Anfälligkeit für Verschwörungstheorien, die sie mit dem postsowjetischen Russland teilt. Solche Theorien erlauben es, den Zusammenbruch der Sowjetunion geheimen Operationen des CIA, westlicher Regierungen oder gar des Weltjudentums zuzuschreiben. Auch glauben viele, dass die Orange Revolution vom Westen angezettelt wurde, um Russlands geopolitische Interessen zu untergraben. Neun Jahre später sollte der Euromaidan in dasselbe Wahrnehmungsmuster fallen. Es wurde von den russischen Medien in der Ukraine systematisch verbreitet und bestärkte die Vorurteile der Leser und Zuschauer im Osten über die Ereignisse in Kiew. Selbst wer nicht davon überzeugt war, dass der Euromaidan nur eine weitere Machination der USA war, konnte doch nicht recht glauben, dass die Proteste von unten kamen – in den Augen vieler mussten sie von irgendwelchen geheimen und mächtigen Kräften inszeniert worden sein. Hinter dieser Einstellung steckt nicht nur Misstrauen gegenüber der Politik, sondern die Überzeugung, dass weder das Engagement von Individuen noch von Gruppen irgendetwas an den bestehenden Verhältnissen ändern kann. Diese Mischung aus Resignation und Zynismus war von den herrschenden Eliten kultiviert worden. Die letzten Massenproteste in Charkiw gab es im Sommer 2010, als Bürger gegen die Privatisierung des Gorki-Parks auf die Straße gingen; es war das letzte Zeichen des Widerstands gegen die Vormachtstellung der Partei der Regionen, die sich mit der Wahl von Hennadij Kernes zum Bürgermeister verfestigen sollte. Die Verbannung der Oppositionsführerin Julija Tymoschenko nach Charkiw, wo man sie unter Kontrolle glaubte, führte nur dazu, dass die Politik zunehmend als groteskes Spektakel wahrgenommen wurde: Vor dem Gericht sowie vor dem Krankenhaus, in dem Tymoschenko lag, versammelten sich täglich eine Gruppe flammender Anhänger und gelangweilte Journalisten, um für die Medien die neueste Episode der Soap Opera um Julija zu inszenieren. Nachdem der Gouverneur und der Bürgermeister von Charkiw Ende Februar 2014 nach Moskau geflohen waren, riefen Bürger dazu auf, zum Zoo zu eilen und Futter mitzubringen, weil Gerüchte aufgekommen waren, dass die Tiere wegen des leeren Stadtsäckels verhungerten. So wurde der Mangel an Vertrauen in die Politiker und an Solidarität zwischen den Bürgern durch das Mitgefühl für Tiere kompensiert.



Der Export der Russischen Welt

Der Diskurs von den „zwei Ukrainen“ hat immer ein Echo im pro-russischen Teil des politischen Spektrums der Ukraine gefunden und wurde ebenso von einer ganzen Reihe von Politikern und Journalisten in Russland geteilt und verstärkt. In meinem Kommentar von 2002 zitierte ich einen ukrainischen Politiker, der verkündete, dass die Ukraine ihrem Ursprung nach der „slawisch-orthodoxen Zivilisation“ angehöre und ihrem Wesen nach russische kulturelle Werte teile, während der ukrainische Nationalismus, vor allem seine in Galizien beheimatete radikale und traditionell anti-russische Ausprägung, als Mittel zur Zerstörung ebendieser Zivilisation diene. Damals war diese Sicht eine Ausnahme und schien kaum eine Bedrohung darzustellen. Außer der Ukrainischen Kommunistischen Partei, die offen ihrer Nostalgie für die Sowjetunion nachhing, gab es keine politische Kraft, die für eine Wiedervereinigung mit Russland eingetreten wäre. Russlands Wirtschaft war ähnlich desolat wie die ukrainische, und der Tschetschenien-Krieg und wiederholte Terroranschläge in russischen Städten ließ die Ukrainer den Frieden und die relative Stabilität schätzen, die sie zuhause genossen. Die herrschenden russischen Eliten hatten in den 1990er Jahren andere Sorgen als die Unabhängigkeit der Ukraine. Nach ihrer demütigenden Niederlage im Kalten Krieg waren die Verfechter eines russischen Messianismus eher eine marginale Erscheinung, und die russischen Nationalisten hatten, auch wenn einige von ihnen in Abchasien, Transnistrien oder im ehemaligen Jugoslawien gekämpft hatten, kaum einen Einfluss auf die russische Politik.

Mit der Orangen Revolution und dem Scheitern des Kreml, den (manipulierten) Sieg des pro-russischen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowytsch durchzusetzen, änderte sich die Perspektive Moskaus radikal. Es sah in der Orangen Revolution einen gegen Russlands legitime geopolitische Interessen gerichteten westlichen Coup. Die pro-westliche ukrainische Elite wurde als Verräter am gemeinsamen kulturellen Erbe betrachtet und Parallelen zu dem Kosaken-Hetman Iwan Masepa und dem Partisanenführer Stepan Bandera gezogen, die ihre Waffen gegen die Zaren- bzw. die Sowjetherrschaft gerichtet hatten. Die Orange Regierung in Kiew wurde in den russischen Medien als direkte Erbin der „Banderisten“, also der ukrainischen Nationalisten dargestellt, die im Zweiten Weltkrieg „den sowjetischen Soldaten in den Rücken gefallen“ waren. Moskau zog also die alten Register der sowjetischen Propaganda über den ukrainischen Nationalismus und des bewährten Schwarz-weiß-Narrativs vom Großen Vaterländischen Krieg. Ziel dieser Politik war und ist, die ukrainischen pro-westlichen Eliten als archaische Nationalisten zu diskreditieren und auch noch den moderaten und demokratischen ukrainischen Nationalismus als „Faschismus“ zu brandmarken, der eine Bedrohung für die in der Ukraine ansässigen russischen und russischsprachigen Bürger darstelle. Man sieht, die Rhetorik des Kreml ist hier praktisch kongruent mit der Identitätspolitik der Partei der Regionen.

Nach der Orangen Revolution verstärkte Moskau seine Unterstützung pro-russischer Gruppierungen und Organisationen in der Ukraine, insbesondere solcher, die die Rechte der Russophonen und Russen gegen eine „Zwangsukrainisierung“ verteidigten und sich aktiv dem pro-westlichen Kurs Kiews widersetzten. Anti-Nato-Proteste, Demonstrationen gegen die Glorifizierung der UPA und Stepan Banderas und für die Verteidigung der russischen Sprache, die Schändung „nationalistischer“ Mahnmale wurden organisiert. Hauptziel dieser Aktionen war, in die Medien zu gelangen und so eine starke Opposition zu der Politik des Gewinners der Orangen Revolution, Wiktor Juschtschenko, zu suggerieren. Vereint durch eine Anti-Orange-Agenda, fanden sich verschiedene Akteure – pro-russische Parteien (Kommunisten und Natalia Witrenkos populistische Fortschrittliche Sozialisten), Vereinigungen sowjetischer Veteranen, russische Kosaken und orthodoxe Brüderschaften – zu einem heterogenen, aber schlagkräftigen und aggressiven Milieu zusammen, das 2014 den Nährboden für den pro-russischen Separatismus liefern sollte.


Moskau verweigert der Ukraine die Anerkennung als eigenständige Nation und bietet stattdessen alternative Identitäten an. Sie sind weitgehend auf das Konzept des Russkij Mir, der „Russischen Welt“, gegründet. Dieses ist in den 2000er Jahren von einer intellektuellen Randexistenz zu einer neuen Staatsideologie aufgestiegen, die vom russischen Staat wie von der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstützt wird.8 Russkij Mir ist ein vieldeutiger und offener Begriff, der ursprünglich Russland jenseits seiner Staatsgrenzen bezeichnete, dann aber ein Synonym für das Konstrukt einer russischen / orthodoxen / slawischen Zivilisation wurde. In diesem Sinne umschreibt der Begriff eine supranationale Gemeinschaft, die sich auszeichnet durch die russische Sprache und Kultur, durch ein spezifisches historisches Gedächtnis und die damit verbundenen Werte, durch die orthodoxe Religion und die Loyalität gegenüber der russischen Staatstradition (die das Russische Imperium und die UdSSR einschließt). Je nach Kontext nimmt Russkij Mir verschiedene Konnotationen an, von einem neutralen ethnisch-kulturellen Konzept über imperiale Vorstellungen bis zu einem offen revanchistischen Kampfbegriff. Nach der Interpretation der Russisch-Orthodoxen Kirche, die sich in den russischen Medien einer starken Präsenz erfreut, bilden die drei ostslawischen Nationen Russland, Ukraine und Belarus das Herz des Russkij Mir, gehen ihre gemeinsamen spirituellen und kulturellen Wurzeln doch auf die Taufe Kiews durch Fürst Wladimir im Jahre 988 zurück. Auf diese Weise wird die Ukraine (mit der Ausnahme des griechisch-katholischen Galizien) zum Teil einer tausendjährigen Zivilisation, deren Bindungen viel tiefer reichen als jede neuere, „künstliche“ Konstruktion nationaler Identität.
Diese Ideologie wird nicht nur in Russland verbreitet, sondern auch exportiert, durch die Orthodoxe Kirche und durch staatlich geförderte Institutionen, etwa die Russkij Mir-Stiftung, die 2007 gemeinsam vom Außen- und Kulturministerium gegründet wurde. Die Stiftung hat Niederlassungen in der ganzen Welt, insbesondere auch in verschiedenen ukrainische Städten, vor allem im Osten und Süden des Landes, und kooperiert mit russischsprachigen Schulen. Offiziell fördert sie die russische Sprache und Kultur, propagiert aber zugleich das Narrativ der russischen imperialen Geschichte und Russlands Interpretation des Zweiten Weltkriegs. Ähnlich haben zahlreiche Institutionen im Bereich der höheren Bildung (insbesondere auf der Krim) russische Werte und Ideen gefördert. Nicht zuletzt werden diese durch kulturelle Produkte aus Russland verbreitet, die den ukrainischen Markt dominieren und die Tradition des Russischen Imperiums und den russischen Patriotismus feiern, die russische bzw. sowjetische Armee und die Geheimdienste verherrlichen und anti-westliche Einstellungen verbreiten.

Vielen Beobachtern ist ein neuer Ton in der offiziellen Rhetorik Russlands nach der Annexion der Krim aufgefallen. Putin wendet sich an die ukrainischen Bürger russischer Herkunft und legitimiert sein politisches Handeln mit der Notwendigkeit, seine „Landsleute“ zu beschützen, unter schlichter Ignorierung der ukrainischen Regierung. Die „Russische Welt“ scheint so mittlerweile auf blanken russischen Nationalismus geschrumpft, der ethnisch argumentiert und die Russen und Russophonen der Ukraine in einen Topf wirft, bei gleichzeitiger Leugnung der Existenz ihres Landes, zumindest östlich des Dnepr. Um diese „andere Ukraine“ mit einer neuen Identität zu versehen, benutzten die russischen Medien anfangs den geographischen Begriff Jugo-Wostok (Südosten), der seinen Bezugspunkt immer noch in Kiew hatte. Er wurde dann rasch durch das wesentlich wirkmächtigere geographisch-historische Konzept Noworossija ersetzt, das mehrere ukrainische Oblaste (Donezk, Luhansk, Odessa, Mykolajiw, Cherson, Dnipropetrowsk, Saporischschja, Charkiw) unter Berufung auf die Geschichte in einer Russland zugeschriebenen Region zusammenfasst.9 Hier geht es nicht um eine harmlose Umbenennung, sondern um die Schaffung einer neuen (geo-)politischen Wirklichkeit.10 Mittlerweile ist eine Art alternativer Nationsbildung im Gange, die einhergeht mit der Schaffung staatlicher Strukturen. Eine „Volksrepublik Donezk“ wurde ausgerufen, ebenso wie eine „Volksrepublik Luhansk“, andere solche Gebilde warten, z.B. in Odessa oder Charkiw, auf ihren historischen Moment. Mit Unterstützung russischer Medien schaffen diese Konstrukte sich ihre eigene kollektive Mythologie, ihre eigenen Helden und Märtyrer und ihre nationale Mission: Antifaschismus.


 

Revolution, Krieg und Frieden

Haben die Proteste auf dem Maidan 2013/14 den alten Riss zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine vertieft? Die Pro-Janukowytsch-Medien präsentierten den Euromaidan als radikale nationalistische Bewegung, die ihre Massenbasis in der Westukraine hat. Tatsächlich war der radikale ukrainische Nationalismus auf dem Maidan vertreten, doch die überwältigende Mehrheit demonstrierte unter bürgerrechtlichen Parolen – für eine pro-europäische Ukraine, gegen Janukowytschs korruptes Regime, gegen Polizeigewalt, verfassungswidrige Einschränkungen von Menschenrechten und für Meinungsfreiheit. Dieses Kräfteverhältnis spiegelte sich auch auf der symbolischen Ebene wider: Es waren kontroverse nationalistische Symbole wie Bilder von Stepan Bandera oder die rot-schwarze Fahne der OUN-UPA11 auf dem Maidan zu sehen, doch die pro-europäische Symbolik (besonders am Anfang der Proteste) und die Tradition der Saporoger Kosaken (mit dem Maidan und seinen Barrikaden als Reinkarnation des Saporoger Sitsch) dominierten klar.12 Nach einer von der ukrainischen Stiftung Demokratische Initiativen im Dezember 2013 durchgeführten Erhebung war die Westukraine zwar stärker auf dem Maidan vertreten (51,8 % während der Massenproteste und 42,4 % unter den permanent Protestierenden), doch waren die Zentralukraine (30,9 % und 34,4 %) sowie die Ost- und Südukraine (17,3 % und 23,2 %) ebenfalls präsent.13 Darüber hinaus hatte die letzte Phase der Massendemonstrationen gegen Janukowytsch und gegen den pro-russischen Separatismus ihre Schauplätze auch in den Städten des Ostens und Südens. Der Lwiwer Historiker Vasyl Rasevych meint, dass nunmehr der Zeitpunkt gekommen sei, die auf unversöhnliche historische Erinnerungen gegründete destruktive Identitätspolitik endlich durch ein einigendes Narrativ zu ersetzen: Die Revolution der Würde und der Krieg um eine souveräne unabhängige Ukraine, sie stellen bereits eine übergreifende ukrainische Geschichte dar, die Geschichte einer politischen Nation im Entstehen, die Geschichte des Siegs der ukrainischen Bürgergesellschaft.14 Dieses neue, Einheit stiftende Narrativ einer siegreichen Revolution gegen ein korruptes, autoritäres Regime kam allerdings zu spät für die Krim. Hier belebte der Rechte Sektor, die Vogelscheuche des radikalen ukrainischen Nationalismus, alte Ängste vor ethnisch motivierter Gewalt und der Zwangsukrainisierung der russischsprechenden Bevölkerung. Das Ende des alten Regimes und die ersten, nicht eben glücklichen Maßnahmen der neuen Regierung in Kiew (wie etwa die – schnell wieder aufgegebene – Rücknahme des Gesetzes von 2012, das dem Russischen den Status einer Regionalsprache verleiht) schien diese Ängste zu bestätigen. Sie wurden von Moskau im Zuge einer wohlvorbereiteten Operation instrumentalisiert, die – ungeachtet der Proteste einer pro-ukrainischen Minderheit und der Krimtataren – in der Annexion der Krim gipfelte.

Im Osten und Süden verlief die Entwicklung nach dem Machtwechsel in Kiew anders. Während in Donezk und Luhansk die lokalen Führer der Partei der Regionen Massenproteste gegen Kiew unterstützten, um in den Verhandlungen mit der neuen Regierung ein Faustpfand zu haben, bemühten sich in Dnipropetrowsk, Saporischschja, Odessa and Charkiw die örtlichen Gegeneliten, die Opportunisten aus der Partei der Regionen und die von Kiew eingesetzten Spitzen der lokalen Administration, die Situation zu stabilisieren. Was hier half, die aggressive pro-russische Minderheit in Schach zu halten, war weniger die Unterstützung seitens des pro-ukrainischen Teils der Bevölkerung als vielmehr die gemeinsame Anstrengung, einen Kollaps der staatlichen Institutionen zu verhindern, sich der Loyalität von Polizei- und Sicherheitsapparat zu versichern und Entschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein zu demonstrieren. Eine neue Allianz zwischen Geschäftsleuten, Bürgergesellschaft und früheren Gegeneliten ist entstanden, die sich elementare Ziele auf die Fahnen geschrieben hat, nämlich Frieden, Stabilität und Sicherheit zu garantieren – eine Agenda, die sich als de facto pro-ukrainisch erwiesen hat. Das Beispiel Dnipropetrowsk ist hier besonders aufschlussreich. Dort setzte der Oligarch Ihor Kolomojskyj seine finanziellen und organisatorischen Ressourcen erfolgreich ein, um einen bewaffneten separatistischen Coup nach dem Szenario in Donezk und Luhansk zu verhindern, und unterstützte die Agenda der pro-ukrainischen Kräfte. So ist aus einer ukrainischen Industriestadt sowjetischen Typs, die noch bis vor kurzem für die Partei der Regionen gestimmt hat, in den letzten Monaten die Bastion eines von der Bürgergesellschaft getragenen ukrainischen Patriotismus geworden.15 In Charkiw, das nahe an der Front des Krieges gegen die Separatisten liegt, hat sich der lokale Euromaidan in ein Netzwerk von Bürgerinitiativen verwandelt, die die schlecht ausgestattete ukrainische Armee unterstützen und sich um verwundete Soldaten und um die wachsende Flut von Flüchtlingen aus dem Donbas kümmert. Odessa erholt sich nur langsam von den gewaltsamen Zusammenstößen des 2. Mai, die Dutzende von Toten gefordert haben, doch haben die neue Stadtverwaltung und engagierte Bürger eine öffentliche Untersuchung dieser Vorfälle initiiert und einen Versöhnungsprozess in Gang gesetzt, der helfen soll, das posttraumatische Syndrom zu heilen, unter dem die Stadt und ihre Bürger leiden.16

So darf man wohl behaupten, dass der „Osten“ oder „Südosten“ im alten Sinne nicht mehr existiert. Die dramatischen Ereignisse des Frühjahrs 2014 haben gezeigt, dass kollektive Identitäten kontextabhängig sind und sich rasch ändern können, besonders unter Bedingungen territorialer Sezession, externer Aggression und militärischen Konflikts.
Der anhaltende Krieg im Donbas wird tiefgreifende und nachhaltige Folgen für die Region haben. Er hat in einem Teil der dortigen Bevölkerung die bestehenden anti-ukrainischen Ressentiments sicherlich verschärft, er hat andere Teile aber auch gelehrt, Sicherheit, Stabilität und starke staatliche Institutionen zu schätzen. Falls es der Regierung in Kiew, vereint mit Armee und Polizei, gelingt, die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten, könnte dies ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Wiedereingliederung des Donbas in die Ukraine sein.

Doch zugleich liefert der anhaltende bewaffnete Konflikt weitere Nahrung für die Entfremdung des Donbas im öffentlichen Diskurs.17 Die treibende Kraft hinter dem Konflikt ist Russland, doch unterstützten zumindest anfangs beträchtliche Teile der lokalen Bevölkerung die Donezker und Luhansker Republiken wenn nicht aktiv, so doch passiv. Während ukrainische Liberale diskutieren, wie diese abtrünnigen Bürger für ihr Land gewonnen und ihnen eine ukrainische Identität eingepflanzt werden könnte, kultivieren einige Nationalisten einen sozialen Rassismus und ziehen sogar „Säuberungen“ in Betracht. Zehntausende Bürger fliehen vor dem Krieg in sichere Städte, und zugleich setzen Hunderte von Männern aus dem Donbas ihren Krieg gegen die ukrainische Armee fort. In diesem merkwürdigen Krieg gibt es keine klare Frontlinie. Zivilisten, die in den Konfliktzonen ausharren, können je nach Standpunkt als Sympathisanten mit den Separatisten oder als deren Geiseln betrachtet werden. Viele Hundert verloren bereits ihr Leben, wurden verwundet oder verloren ihr Eigentum. Eine Weise, wie man versucht, mit diesen Schrecken fertig zu werden, besteht darin, den Opfern selbst die Schuld zuzuweisen – sie bezahlen nun den Preis für ihre pro-russischen Sympathien. Und viele Familien im Westen und in der Zentralukraine sehen nicht ein, warum ihre Väter und Söhne an die Front geschickt werden und ihr Leben einsetzen sollen für eine Region, die sich nicht als Teil der Ukraine begreift. Gleichzeitig aber hat sich inzwischen der Donbas mit den Kriegsnachrichten aus Slawiansk, Krasnyj Lutsch oder Tores, vorher unvertraute Toponyme, tief in die mentale Landkarte der Ukrainer eingeprägt. Der Donbas ist zu einem Boden geworden, auf dem die ukrainische Unabhängigkeit, Demokratie und Zukunft verteidigt werden, und deshalb gehört er von nun an zur Ukraine.18



Anmerkungen

1 entfällt

2 Andriy Portnov, "Die Ukraine und ihr 'Ferner Osten': Über den galizischen Reduktionismus und seine Genealogie" (ukrainisch), in:Ukrainians in UA, 1. August 2014; www.historians.in.ua/index.php/avtorska-kolonka/1231-andrii-portnov-ukraina-ta-ii-dalekyi-skhid-pro-halytskyi-reduktsionizm-ta-ioho-henealohiiu.

3 A.a.O. (Anm. 1), S. 201.

4 Quelle: Tyzhden, 31. März 2014; http://tyzhden.ua/News/106351.

5 Vgl. Hierzu Kerstin Zimmer, Machteliten im ukrainischen Donbass: Bedingungen und Konsequenzen der Transformation einer alten Industrieregion, Münster 2006.

6 Oleksandr Fisun / Oleksiy Krysenko, "Ursachen der Destabilisierung in den südlichen und östlichen Regionen der Ukraine" (ukrainisch), 29. April 2014; www.kennan.kiev.ua/Analytics/140429Fisun_eng.html.

7 Vgl. Lev Gudkov, Negative Identität (russisch), Moskau 2004.
8 Mehr zum Russkij Mir und der Ukraine hier: Yablons'kyi u.a., "Die Ukraine und das Russkij Mir-Projekt. Analytischer Bericht" (ukrainisch), Kyiv, National Institute for Strategic Studies, 2014; Wilfried Jilge, "Die Ukraine aus Sicht der 'Russkij Mir'"; www.bpb.de/internationales/europa/russland/186517/analyse-die-ukraine-aus-sicht-der-russkij-mir.
9 Die Grenzen des historischen Noworossija fallen allerdings nicht mit dessen Neuerfindung zusammen.
10 Maria Snegovaya, "Die Schaffung einer neuen politischen Realität" (russisch), in: Vedomosti, 19. Mai 2014; www.vedomosti.ru/opinion/news/26635381/sozdanie-novoj-politicheskoj-realnosti.[11] OUN: Organisation Ukrainischer Nationalisten. Die von Stepan Bandera geführte Fraktion der OUN organisierte die ersten nationalistischen Partisaneneinheiten, die im Februar 1943 zur Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) vereinigt wurden.
12 Wilfried Jilge, "Geschichtspolitik auf dem Majdan. Politische Emanzipation und nationale Selbstvergewisserung", in: Osteuropa, Nr. 5-6 (2014): Zerreißprobe. Ukraine: Konflikt, Krise, Krieg, hg. von Manfred Sapper / Volker Weichsel, S. 239-258.
13 Vgl. http://dif.org.ua/ua/polls/2013-year/vjweojgvowerjoujgo.htm.
14 Vasyl Rasevych, "Neue Helden – neue gemeinsame Geschichte" (ukrainisch), in: Zaxid.net; zaxid.net.
15 Vgl. Andriy Portnov, "Dnipropetrowsk: Wo die Ukraine beginnt" (russisch), in: Gefter.ru, 27. Juni 2014: http://gefter.ru/archive/12617.

16 Siehe Tanya Richardsons Beitrag im vorliegenden Heft. (Anm. d. Red.)
17 Andriy Portnov, "Die Ukraine und ihr 'Ferner Osten'", a.a.O.
18 Stanislav Kmet, "Die Ukrainisierung des Donbas" (ukrainisch), in:Durdom in UA, 08. September 2014;http://durdom.in.ua/ru/main/article/article_id/23093.phtml.



© Tatiana Zhurzhenko; aus: Transit – Europäische Revue, 45, Maidan – Die unerwartete Revolution

http://www.iwm.at/transit/heft-45-die-unerwartete-revolution/; Fotos: BelkaG - shutterstock; therealbansky; priv.; Reuters (2)


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