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Max Brod und Franz Kafka


von Hans-Gerd Koch



Vortrag, gehalten am 26.05.2014 anlässlich der Internationalen Konferenz in Prag vom

26.05.2014 – 29.05.2014: Max Brod. Die „Erfindung“ des Prager Kreises



Max Brod wird oft für seine Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, für unverbrüchliche Freundschaft und Treue gerühmt. Da erscheint es als besondere Tragik, dass er als Autor nur noch im Verein mit seinem besten Freund im Gedächtnis und sein Werk völlig hinter dem Kafkas zurückgetreten ist. Deshalb war ein Auslöser für diese Konferenz derselbe Gedanke, der Hans Dieter Zimmermann und mich bewogen hat, eine Max Brod-Edition zu veranstalten: Wir wollen den Prager Autor, der nicht nur das, sondern auch Komponist, Philosoph, Kritiker, Übersetzer und Dramaturg war, wieder in die Aufmerksamkeit einer interessierten literarischen und kulturellen Öffentlichkeit rücken. Aber davon, dass dies kein leichtes Unterfangen ist, zeugt auch diese Veranstaltung: Längst schon ist Brods engster Freund, der Sozialversicherungsangestellte Dr. Franz Kafka, dessen Weltruhm als Autor Brod initiiert hat, wieder mit in den Focus gerückt – das Rahmenprogramm zeugt davon und auch das Konferenzplakat. Insofern fällt es mir nicht leicht, jetzt zur Eröffnung auch noch über beide zu sprechen, wo es doch eigentlich nur um den einen gehen sollte. Andererseits denke ich, haben wir Literaturwissenschaftler uns noch viel zu wenig mit den literarischen Implikationen dieser Freundschaft beschäftigt. Das mag den Wortbruch mir selbst gegenüber rechtfertigen. Auch auf die Gefahr hin, dass es heißen wird: Egal worüber Koch spricht, am Ende läuft es bei ihm ja doch immer auf Kafka hinaus. Nun, das verbindet mich dann eben mit Max Brod.


Der Prager Kreis – im Kern waren das neben Brod und Kafka Felix Weltsch und Oskar Baum. Kafka lernte sie durch Brod kennen und: „Es entstand ein Freundschaftsbund, wie er nur in jungen Jahren möglich ist, in denen das gegenseitige Vertrauen grenzenlos pulsiert und von einer naiven, ebenso wechselseitigen Bewunderung allmächtig getragen wird.“ (SL 21)

Brod stammte aus einer jüdischen, im besten Sinne bürgerlichen Prager Familie. Man schätzte die schönen Künste, musizierte, ging ins Theater, las. Doch wie im aufstrebenden Bürgertum üblich, fast ausschließlich Klassiker: „Zu Hause las ich die Bibliothek meines Vaters von Anfang bis zu Ende durch, vor allem Shakespeare und Goethe, Schiller und Heine“, erinnert sich Brod in seiner Autobiographie Streitbares Leben (SL 188f.). Franz Kafkas Familie war längst noch nicht so weit ins Bürgertum aufgestiegen. Sein Vater hatte nur wenige Klassen einer deutschsprachigen Volksschule besucht, auch bei Kafkas las man zwar, aber von einer Bibliothek konnte bei ihnen nicht die Rede sein. Der Lesekanon des Sohnes entstand eher zufällig, Empfehlungen von Freunden, Lehrern und auch Zeitschriften folgend. Möglicherweise ist darin bereits ein grundlegender Unterschied angelegt, obgleich die Freunde wiederum durch ihre Freude an Abenteuerliteratur und Reiseberichten verbunden waren. Beide haben wohl bereits als Gymnasiasten zu schreiben begonnen; Brod, ein Jahr jünger als Kafka trat ab 1906 mit Veröffentlichungen ins Licht der literarischen Öffentlichkeit. Zwei Novellenbände, ein Lyrikband, vor allem dann aber der 1908 erschienene Roman Schloß Nornepygge, alle von Axel Juncker in Berlin verlegt, machten ihn schnell über Prag hinaus bekannt. Hinzu kamen Rezensionen, die in den damals maßgeblichen, überwiegend avantgardistisch ausgerichteten Zeitschriften des deutschsprachigen Raums erschienen; schnell entstand mit Brods wachsender Bekanntheit ein Netzwerk an Verbindungen zu Literaten und Verlegern, das er von Beginn an als Fürsprecher noch unbekannter Künstlerkollegen zu nutzen verstand.

Die Freundschaft zwischen Brod und Kafka begann seltsam: Am 23. Oktober 1902 hielt Brod in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten Prags einen Vortrag unter dem Titel Schicksal und Zukunft von Schopenhauers Philosophie. Seine vor allem gegen Nietzsche formulierten Thesen gefielen Kafka überhaupt nicht, und er sprach Brod nach der Veranstaltung an. Auf dem Nachhauseweg führten sie ein heftiges Streitgespräch. Trotz der unterschiedlichen Standpunkte bestand zwischen den beiden jungen Männern aber offenbar sofort eine tiefe Sympathie, wie sich in den frühen, in den folgenden Monaten entstandenen Briefen zeigt: Sie sind per Du. Angesichts heutiger Umgangsformen mag dies als nichts Besonderes erscheinen, wohl aber zu jener Zeit und vor allem angesichts der Tatsache, dass Kafka seinen anderen Freunden im engeren Prager Kreis, Felix Weltsch und Oskar Baum, erst nach rund zehnjähriger Bekanntschaft das „Du“ anbot.

Möglicherweise ist schon an diesem Abend, bestimmt aber bald darauf das Gespräch auf literarische Interessen übergegangen. Brods Erinnerungen zufolge erfuhr er erst vier Jahre später, dass sein Freund ebenfalls schrieb, nämlich als Kafka erwähnte, er habe an einem Preisausschreiben der Wiener Zeitschrift Zeit teilgenommen. Wir wissen nicht mit welchem Text, denn Kafka gewann keinen Preis. Brods Neugier war nun allerdings geweckt, und Kafka scheint in den darauffolgenden Monaten seinem Drängen nachgegeben zu haben, etwas von seinen Arbeiten zu zeigen, denn schon Anfang 1907 nennt Brod in seiner Rezension eines Dramas von Franz Blei in der Berliner Wochenschrift Die Gegenwart Kafka in einem Atemzug mit längst arrivierten Autoren. Er schreibt:


Es ist ein Zeichen der jetzt erreichten hohen Cultur deutschen Schriftthums, daß wir einige haben, die [...] die verschiedensten Seiten des Daseins mit ihrer Kunst und Grausamkeit schmücken. Heinrich Mann, Wedekind, Meyrink, Franz Kafka und noch einige gehören mit dem Autor dieses Stückes zu der heiligen Gruppe [...].1


Zweierlei ist an Brods Feststellung bemerkenswert, nämlich dass er bereits in dieser ersten öffentlichen Erwähnung Kafka einer Gruppe von „Heiligen“ zuordnet, vor allem aber, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine Zeile von Kafka erschienen war. Der solchermaßen vorzeitig gepriesene Kafka reagierte denn auch mit freundlicher Ironie, wie überhaupt sein Auftreten gegenüber dem so leicht erregbaren wie begeisterungsfähigen Brod von Anfang an nicht frei von einem wohlwollenden Spott war:


Ich habe gestern die "Gegenwart" gelesen, allerdings etwas mit Unruhe, da ich in Gesellschaft war und das in der "Gegenwart" gedruckte ins Ohr gesagt sein will.

Nun, das ist Fasching, durchaus Fasching, aber der liebenswürdigste. [...]

Besonders freue ich mich, daß nicht jeder die Nothwendigkeit meines Namens an dieser Stelle erkennen wird. Denn er müßte den ersten Absatz schon daraufhin lesen und sich die Stelle, die vom Glück der Sätze handelt, merken. Dann würde er finden: Eine Namengruppe, die mit Meyrink [...] endet, ist am Anfang eines Satzes unmöglich, wenn die folgenden Worte noch athmen sollen. Also bedeutet ein Name mit offenem Vokal am Ende – hier eingefügt –, die Lebensrettung jener Worte. Mein Verdienst dabei ist ein geringes.

Traurig ist nur – ich weiß Du hattest diese Absicht nicht – daß es mir jetzt zu einer unanständigen Handlung gemacht worden ist, später etwas herauszugeben, denn die Zartheit dieses ersten Auftretens würde vollständigen Schaden bekommen. Und niemals würde ich eine Wirkung finden, die jener ebenbürtig wäre, die meinem Namen in Deinem Satze gegeben ist.2


Auch wenn Kafka das öffentliche Lob des Freundes dem saisonalen Faschingstreiben zuschrieb, es hielt ihn nicht davon ab, Brod weiterhin seine neuesten Texte vorzulesen. Und der anderen gegenüber oft sehr kritische Brod war ausnahmslos begeistert; es gibt kein negatives Urteil von ihm über einen Text Kafkas. So notiert er etwa am 14. März 1910, als Kafka ihm aus Beschreibung eines Kampfes vorgelesen hat: „Nachmittags bei Kafka. Er liest mir seine herrliche Novelle vor.“

Die Rezension in der Gegenwart blieb nicht ohne Folgen: Sie wurde zum Ausgangspunkt einer engeren Freundschaftsbeziehung zwischen Brod und Franz Blei, in die sehr bald auch Kafka einbezogen wurde: Bei einem Besuch Bleis in Prag machte Brod die beiden miteinander bekannt, und Blei lud Kafka zur Mitarbeit an der Zeitschrift Hyperion ein, in der dann ein Jahr nachdem Brod seinen Freund ins Licht der literarischen Öffentlichkeit befördert hatte, erstmals Texte von Kafka erschienen.3

Auch den ersten Kontakt zu einem Verlag stellte Brod her. Im Sommer 1912, als er überlegte, den Verlag Axel Juncker zu verlassen, nutzte er eine gemeinsame Reise mit Kafka nach Leipzig dazu, den Verlegern Ernst Rowohlt und Kurt Wolff verschiedene Buchprojekte vorzustellen – und den Autor Franz Kafka gleich dazu. Kurt Wolff erinnert sich an diese Begegnung: „[...] ich habe im ersten Augenblick den nie auslöschbaren Eindruck gehabt: der Impresario präsentiert den von ihm entdeckten Star.“4 Der Verlag bietet Kafka die Publikation eines Buches an, und gedrängt von Brod stellt Kafka ein Manuskript mit kurzen Prosastücken zusammen, wie sie bereits im Hyperion erschienen sind. Ihm widerstrebt diese Publikation, denn eigentlich sind sie Beleg seines Scheiterns, handelt es sich doch zum Teil um Textstücke, die er aus der Fragment gebliebenen Novelle Beschreibung eines Kampfes, seinem zweiten Versuch in einer epischen Großform, herausgelöst hat. Ganz abgesehen davon, dass er sich nicht vorstellen kann, wie die wenigen Typoskript-Seiten für ein ganzes Buch reichen sollen. Mehrfach ist er während der Manuskriptherstellung entschlossen, das Vorhaben aufzugeben. An Brod schreibt er:


Nach langer Plage höre ich auf. Ich bin außer Stande und werde kaum in nächster Zeit im Stande sein, die noch erübrigenden Stückchen zu vervollkommnen. Da ich es nun nicht kann, es aber zweifellos in guter Stunde einmal können werde, willst Du mir wirklich raten – und mit welcher Begründung, ich bitte Dich – bei hellem Bewußtsein etwas Schlechtes drucken zu lassen, das mich dann anwidern würde [...]. Das, was bisher mit der Schreibmaschine geschrieben ist, genügt ja wahrscheinlich für ein Buch nicht, aber ist denn das Nichtgedrucktwerden und noch Ärgeres nicht viel weniger schlimm als dieses verdammte Sichzwingen. Es gibt in diesen Stückchen ein paar Stellen, für die ich 10000 Berater haben wollte; halte ich sie aber zurück brauche ich niemanden als Dich und mich und bin zufrieden. Gib mir recht!5


Brod gibt diesen Rückzugsversuchen des Freundes nicht nach, und im Dezember 1912 erscheint Betrachtung, Kafkas erstes Buch.6 Offenbar sieht Brod sich in dieser Phase der Freundschaft als Mentor und Motor für Kafkas literarische Produktion: „Dieser Zwang war gut, denn gleich nachher schrieb Kafka: Urteil – Heizer – Verwandlung – “, notiert er am Rande seiner Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit. Und tatsächlich spielt er eine starke Rolle, auch was den Motivationshintergrund von Kafkas Schreiben anbelangt. Als Kafka in einem der von ihm idealisierten Schreibströme, die er an dem Freund so sehr bewundert, im Laufe einer Nacht die Erzählung Das Urteil niedergeschrieben hat, notiert er in seinem Tagebuch: „Viele während des Schreibens mitgeführte Gefühle: z. B. die Freude daß ich etwas Schönes für Maxens Arcadia haben werde [...].“7  Die Aufschlüsselung der Freundschaftsbeziehung in Impresario und Star scheint sich zu bestätigen; tatsächlich ist das Verhältnis aber ausgeglichen, was das Ratgeben und Ratsuchen betrifft, wie sich im weiteren Verlauf der Freundschaft zeigen sollte.

Max Brod war von seiner eigenen außerordentlichen Begabung überzeugt, und zwar nicht nur im Bereich der Literatur, sondern auch in Musik und Philosophie. Negative Kritik konnte er nur schwer ertragen. Aber Kafkas Kritik war ihm stets willkommen, seine Ratschläge befolgte er, ohne zu zögern: „Kafka, der gute Freund, rettet mein Gedichtbuch, indem er etwa 60 mindere Gedichte hinauswirft“, hält Brod Anfang Juli 1910 während der Vorbereitung des Manuskriptes für seinen Band Tagebuch in Versen 8  fest. Wie selbstverständlich überarbeitet Brod ganze Romankapitel, wenn sie Kafka nicht gefallen. Auf der anderen Seite steht für ihn alles, was Kafka ihm an literarischen Arbeiten zur Kenntnis bringt, außerhalb jeglicher Kritik. Über die Texte des Freundes urteilt er in seinen Tagebuchaufzeichnungen nur in Superlativen, wie beispielsweise im Herbst 1912, als Kafka in wenigen Wochen die Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung sowie große Teile des Romans Der Verschollene zu Papier bringt. Nachdem ihm Kafka die ersten beiden Kapitel vorgelesen hat, steht für Brod fest, dass der Roman „ein Zauberwerk“ ist und die „herrliche Novelle vom Ungeziefer“, „die schöne Wanzensache“, Kafkas „unglaubliche Insektengeschichte [...] vielleicht das Beste unserer Epoche“.9 Den Band Betrachtung findet er „göttlich“, wie er in seinem Tagebuch nach der Lektüre der Satzvorlage festhält, und seine Besprechung in der Zeitschrift März nach Erscheinen des Buches10 gerät zu einer derartigen Lobpreisung, dass Kafka nahezu verzweifelt klingt, wenn er Felice Bauer berichtet:


Heute mittag hätte ich ein Loch gebraucht, um mich darin zu verstecken; ich habe nämlich im neuen Heft des "März" die Besprechung meines Buches von Max gelesen; ich wußte, daß sie erscheinen wird, aber ich kannte sie nicht. (…) Maxens Besprechung (…) übersteigt alle Berge. Weil eben die Freundschaft die er für mich fühlt im Menschlichsten, noch weit unter dem Beginn der Litteratur, ihre Wurzel hat und daher schon mächtig ist, ehe die Litteratur nur zu Athem kommt, überschätzt er mich in einer solchen Weise, die mich beschämt und eitel und hochmütig macht, während er natürlich bei seiner Kunsterfahrung und eigenen Kraft das wahre Urteil, das nichts als Urteil ist, geradezu um sich gelagert hat. Trotzdem schreibt er so. Wenn ich selbst arbeiten würde, im Fluß der Arbeit wäre und von ihr getragen, ich müßte mir über die Besprechung keine Gedanken machen, ich könnte Max in Gedanken für seine Liebe küssen und die Besprechung selbst würde mich gar nicht berühren. So aber – Und das Schreckliche ist, daß ich mir sagen muß, daß ich zu Maxens Arbeiten nicht anders stehe als er zu den meinen, nur daß ich mir dessen manchmal bewußt bin, er dagegen nie.11


Kafka stellt hier seine Urteilsschärfe unter Beweis, was das Trennende und das Verbindende in der Freundschaftsbeziehung zu Brod betrifft. Die Unterschiede zeigen sich deutlich, wenn man die Selbsteinschätzung der beiden mit einander vergleicht. Brod, ein von Kritik und Lesepublikum gleichermaßen geschätzter Erfolgsautor, dessen Bücher hohe Auflagen erreichten, notiert in seinem Tagebuch nach einem – wie er fand – „frechen Brief“ seines Verlegers Axel Juncker den Selbstappell:


gib nicht deinen Feinden Recht! Du hast Recht, du wirst unterdrückt gegen alle Vernunft! Auf deiner Seite, Max, steht die göttliche Natur, die Vollkommenheit, der angeborene Adel!


Und eine vier Wochen später entstandene Aufzeichnung offenbart, welchen literarischen Rang er sich selbst beimisst:


Ich träume viel, einmal sei es aufgeschrieben: Ich sah mein Grab, doch lag ich nicht darin, es war nur vorbereitet, eine Überraschung von Fremden. Eine weiße in den Boden eingefallene Marmorplatte mit den Worten "Hier ruht der arme Ritter Max Brod", – Ich weinte viel über die Widmung, die mir sinnreich und rührend edel erschien. – Neben mir eine dunklere ältere Platte: Balzac. (N.B. den ich doch nicht sehr liebe, aber gerade so kommt gemeinsame Atmosphäre der Literatur heraus) 12


Wie anders klingt dagegen der Selbstappell des Autors Franz Kafka:


Nur nicht überschätzen, was ich geschrieben habe, dadurch mache ich mir das zu Schreibende unerreichbar.13


Kafkas oft zitierte Aufzeichnung über sein traumhaftes inneres Leben belegt, dass auch er sich durchaus des ihm zukommenden Ranges bewusst ist, gleichzeitig aber auch der eigenen Schwäche, der Möglichkeit des Scheiterns:


Von der Litteratur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufrieden stellen. Nun ist aber meine Kraft für jene Darstellung ganz unberechenbar, vielleicht ist sie schon für immer verschwunden, vielleicht kommt sie doch noch einmal über mich, meine Lebensumstände sind ihr allerdings nicht günstig. So schwanke ich also, fliege unaufhörlich zur Spitze des Berges, kann mich aber kaum einen Augenblick oben erhalten. Andere schwanken auch, aber in untern Gegenden, mit stärkeren Kräften; drohen sie zu fallen, so fängt sie der Verwandte auf, der zu diesem Zweck neben ihnen geht. Ich aber schwanke dort oben, es ist leider kein Tod, aber die ewigen Qualen des Sterbens.14


Unterschiedlicher könnten die Positionen kaum sein: Kafkas Reflexionen über das eigene Schreiben sind Innenschau, betreffen seine Befindlichkeit; er überprüft alles, was er schreibt, daraufhin, ob es seinem eigenen Qualitätsanspruch genügt. Brod dagegen geht es um die Außenwirkung; die Qualität des von ihm Geschriebenen steht für ihn bereits fest, ihm ist wichtig, dass es auch von anderen entsprechend gesehen und gebührend gepriesen wird.

So verwundert es wohl kaum, dass der einzige Versuch der Freunde, gemeinsam einen Roman zu schreiben, grandios scheiterte. Zu Beginn der Italienreise im August 1911 entstand der Plan, im Wettstreit miteinander Aufzeichnungen zu machen, Ziel war, sie als Grundlage für einen gemeinsam zu schreibenden Reiseroman zu verwenden. Die Schreibenden selbst sollten im Mittelpunkt stehen, und zwar als ihre fiktionalen Entsprechungen Richard und Samuel. Inhalt des nach den beiden Protagonisten betitelten gemeinschaftlichen Romans sollte die gleichzeitige Beschreibung der Reise und der „innerlichen Stellungnahme zu einander die Reise betreffend" 15 sein. Letzteres machte das Vorhaben aber schon auf der alltäglichen persönlichen Ebene anfällig für Konflikte, wie sich nach einigen Tagen zeigte, als Brod in Mailand geradezu hysterisch auf Gerüchte über Cholerafälle in Oberitalien reagierte, sich in panische Todesfurcht steigerte und auf Abreise drängte. Die Freunde fuhren nach Paris, führten dort ihre parallelen Aufzeichnungen weiter und begannen, zurück in Prag, mit der Ausarbeitung.

Die direkte Zusammenarbeit, das gemeinsame Formulieren eines Textes wurde zur härtesten Probe, auf die diese Freundschaft je gestellt wurde. Brods Ansinnen einer gemeinsamen Arbeit beruhte auf den edelsten und schönsten Motiven; als idealistisch gesonnener Mensch drängte es ihn, die vom Gleichklang der Seelen und Anschauungen getragene Freundschaft auch auf das gemeinsame Schreiben auszudehnen. Mit Erfolg hatte er dies bereits mit Franz Blei praktiziert, bei der gemeinsamen Arbeit an ihrem Laforgue-Buch Pierrot, der Spaßvogel (1909), und auch die Zusammenarbeit mit Felix Weltsch an dem philosophischen Werk Anschauung und Begriff, die parallel zu Richard und Samuel, gestaltete sich ohne Probleme.

Brod verkannte bei aller Bewunderung, dass Kafka auch in dieser Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung war. Er verkannte völlig, dass Kafkas Motivation zu schreiben ganz anders geartet war als seine, dass es dem Freund unmöglich war, seine Unabhängigkeit aufzugeben und sich in eine wie auch immer geartete Form von Gemeinschaft zu begeben. So notiert Kafka denn auch im Anschluss an eine gemeinsame Arbeitssitzung:


Ich und Max müssen doch grundverschieden sein. So sehr ich seine Schriften bewundere, wenn sie als meinem Eingriff und jedem andern unzugängliches Ganze vor mir liegen, [...] so ist doch jeder Satz, den er für Richard und Samuel schreibt, mit einer widerwilligen Koncession von meiner Seite verbunden, die ich schmerzlich bis in meine Tiefe fühle.16


Und umgekehrt erträgt er es nur mit Widerwillen, dass Brod ihm „bei jedem Wort“, das er schreibt, „auf den Fersen“ ist.17 Die Freunde bringen unter Schwierigkeiten eine Einleitung und das erste Kapitel ihres Romans zustande; die gemeinsame Arbeit darüber hinaus fortzusetzen, ist Kafka unmöglich. Ja, durch die fehlende Distanz bei dieser schöpferischen Arbeit sah Kafka das Freundschaftsverhältnis belastet, wie eine Tagebuch-Eintragung vom Jahresende 1911 zeigt:


Am Morgen fühlte ich mich zum Schreiben so frisch, jetzt aber hindert mich die Vorstellung, daß ich Max am Nachmittag vorlesen soll, vollständig. Es zeigt dies auch, wie unfähig ich zur Freundschaft bin, vorausgesetzt, daß Freundschaft in diesem Sinne überhaupt möglich ist. Denn da eine Freundschaft ohne die Unterbrechungen des täglichen Lebens nicht denkbar ist, so wird, bleibe auch ihr Kern unverletzt, eine Menge ihrer Äußerungen immer wieder weggeweht. Aus dem unverletzten Kern bilden sie sich allerdings von neuem, aber da jede solche Bildung Zeit braucht und auch nicht jede erwartete gelingt, kann selbst abgesehen von dem Wechsel der persönlichen Stimmungen niemals dort angeknüpft werden wo das letztemal abgebrochen wurde. Daraus muß bei tief begründeten Freundschaften vor jeder neuen Begegnung eine Unruhe entstehen, die nicht so groß sein muß, daß sie an sich gefühlt wird, die aber das Gespräch und das Benehmen bis zu einem Grade stören kann, daß man bewußt erstaunt, besonders da man den Grund nicht erkennt oder nicht glauben kann. Wie soll ich da M. vorlesen oder gar beim Niederschreiben des Folgenden denken, daß ich es ihm vorlesen werde.18


Wie unterschiedlich ihre Positionen in Bezug auf das Schreiben sind, ist den Freunden bis zu diesem Versuch, gemeinsam einen Text zu verfassen, offenbar nicht klar gewesen. Zwar hatte Kafka staunend mitbekommen, mit welcher Leichtigkeit Brod ganze Romane aus der Feder flossen, und umgekehrt waren Brod die Schwierigkeiten, unter denen Kafkas Texte entstanden, nicht verborgen geblieben; aber dass ihre Arbeitsweisen so wenig miteinander vereinbar und ihre Grundeinstellung zur eigenen Arbeit so konträr waren?

Dabei gibt es doch zahlreiche Hinweise, wenn man Brods und Kafkas Texte miteinander vergleicht. Etwa die parallelen Reiseaufzeichnungen: Wo Brod sich in schwelgerischer Beschreibung des Sichtbaren ergeht, versucht Kafka das Wesen der Dinge in Worte zu fassen, das Gefühl zu vermitteln, dass sich bei ihm als Betrachter eingestellt hat. Oder ihre Textanfänge: Brod verwendet bei vielen seiner Romane eine Rahmenhandlung, in die er das eigentliche Geschehen einbettet, eine längere Vorgeschichte, bevor dann die eigentliche Geschichte beginnt. Ein amerikanischer Kritiker schrieb 1952 anlässlich des Erscheinens der Übersetzung von Unambo, Brods Roman über den jüdisch-palästinensischen Krieg, man müsse schon ein hartgesottener Brod-Fan sein, um die ersten fünfzig Seiten zu überstehen und zum großartigen Teil des Buches vorzudringen. Bei Kafka hingegen sind wir mit dem ersten Satz bereits mitten in der erzählten Welt:


Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr…

Jemand musste Josef K. verleumdet haben…

Als Gregor Samsa eines morgens aus unruhigen Träumen erwachte…

Es war spät abend als K. ankam…


Vielleicht war diese Unmittelbarkeit Teil dessen, was Brod so sehr an Kafka bewunderte, während dieser umgekehrt den Freund um das Gelingen umfangreicher Romane beneidete. Die gegenseitige Bewunderung blieb jedenfalls ungebrochen, aber nie wieder unternahmen die Freunde den Versuch, ihre Talente in einer Gemeinschaftsarbeit zu bündeln.

Erst nach der Lektüre der späten Romane Brods, in denen er immer wieder Teile der eigenen Biographie fiktionalisiert, habe ich verstanden, warum frühe Interpreten Kafkas in dessen Texten immer nach biographischen Bezügen gesucht haben. Mich haben die vermeintlichen Parallelen nie zu überzeugen vermocht, während sie bei Brod offensichtlich sind und er sich ganz unverblümt zu ihnen bekennt. So auch in dem wenige Jahre nach Kafkas Tod entstandenen Roman Zauberreich der Liebe 19, in dem er den Protagonisten von seinem verstorbenen Freund Richard Garta erzählen lässt, dessen biographische Merkmale denen Kafkas entsprechen, und wo er auf die Geschichte der Freundschaft mit Kafka zurückgreift. Was dabei herauskam war gleichzeitig Hommage und literarische Verlustbewältigung.

Eine andere Form des Austauschs, nämlich Anknüpfungspunkte im Werk des anderen zu suchen, ihn thematisch oder stilistisch nachzuahmen, hätte Kafka abgelehnt, das war für ihn ein Merkmal schlechter Schriftsteller, die ihr kleines Licht in das große Loch stellen, das ein herausragendes Werk gebrannt hat, ohne das geniale Vorbild als Anfeuerung zu Eigenem zu verstehen.20 Wo er empfand, dass er einen anderen nachahmte, schreckte es ihn und minderte es für ihn die Qualität des von ihm Geschriebenen. Brods Themen, Stil und Sprache respektierte und bewunderte er, aber dort Anknüpfungspunkte für sein Schreiben zu suchen lag ihm fern. Umgekehrt galt dies auch für Brod, für ihn sogar noch verstärkt durch die Einmaligkeit und Unerreichbarkeit Kafkas – bereits 1915 stand für ihn fest: „Er ist der größte Dichter unserer Zeit.“ 21


Und doch gibt es tiefliegende Parallelen, motivische Berührungen, die wahrscheinlich beiden nicht bewusst waren, bei denen sich letztlich nicht sagen lässt, auf wessen Autorenschaft sie ursprünglich zurückgingen und wer sich von wem hat inspirieren lassen. Brod und Kafka schöpften aus einer sich vielfach überschneidenden Gedanken- und Vorstellungswelt, sie teilten Vorlieben, Abneigungen und Werte – motivische Ähnlichkeiten ergeben sich da fast zwangsläufig. So berichtet Brod ab dem Frühjahr 1921 seinem Freund von der erfolgreichen Arbeit an jener „‘Buch‘-Novelle, deren Grundidee ich Dir einmal gesagt habe“ (BKB 329); die Hauptfigur geht auf ein Mädchen zurück, das in einem erstklassigen Prager Etablissement der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg tätig war und mit dem Brod und Kafka bekannt waren. Sie verfügte über beste Kontakte zu Beamten der Regierung – die in Prag bekanntermaßen im über der Stadt gelegenen Schloss angesiedelt ist. In Brods 1922 erschienenem Roman Franzi, oder eine Liebe zweiten Ranges spielt sie mehr oder weniger ahnungslos eine Rolle bei der Herstellung von Kontakten zu hochgestellten Persönlichkeiten. Daraus, dass die tatsächliche Franzi Vorbild für seine Romanfigur war, hat Brod keinen Hehl gemacht. Die verblüffende Übereinstimmung mit der Konstellation im Roman Das Schloss, mit dessen Niederschrift Kafka im Frühjahr 1922 begann, wird zwischen den Freunden nicht angesprochen. Haben sie sie nicht bemerkt? War sie ein Zufall? Den Freunden scheint diese Übereinstimmung jedenfalls genauso wenig bewusst gewesen zu sein wie Brod eine ähnliche Übereinstimmung in seinem vier Jahre nach Kafkas Tod erschienenen Roman Die Frau, nach der man sich sehnt. Hier ist es der Protagonist Erwin Mayreder, dessen Geschichte an die Gregor Samsas erinnert. Beide fühlen sich wegen ihres Unvermögens und Ausnutzens der anderen als Schmarotzer, sehen sich in der Pflicht gegenüber ihrer Familie, ergehen sich in Vorstellungen, wie ihre Nächsten in Elend und Leid versinken, wenn sie selbst nicht doch noch rettend eingreifen,. In beiden Fällen werden sie am Ende eines Besseren belehrt; die Familien schaffen es auch ohne sie, sich aus ihrer Notlage zu befreien, und die sich für Retter hielten, sind am Ende die Außenseiter: Samsa verwundet und hungernd, „krepiert“ und wird „weggeschafft“, und Mayreder? Wie „von irgendeiner geheimnisvollen Krankheit befallen“, mager und mit abgezehrtem Gesicht (S. 10), verschwindet er.

Dies sind nur wenige Beispiele, sie machen meines Erachtens aber deutlich, dass es lohnt, genau hinzusehen, ja, Max Brod überhaupt erst einmal zu lesen. Als Nachgeborene sehen wir ihn nicht auf literarischer Augenhöhe mit Kafka, eine Einschätzung, der er selbst sicherlich nicht widersprochen hätte, aber wir nehmen damit einen falschen Blickwinkel ein. Denn die Frage muss doch sein, warum schätzte Kafka, der sich auch Freunden gegenüber nicht zurückzuhalten vermochte, wenn ihm etwas missfiel – Franz Werfel hat es leidvoll erfahren – warum schätzte er das literarische Schaffen seines Freundes so hoch ein? Im Bereich dessen, was nicht offenkundig oder augenfällig ist, gibt es sicherlich noch manches zu entdecken. Vielleicht bereits in den nächsten Tagen auf unserer Konferenz. Max Brod war mehr als Kafkas Freund und Nachlassverwalter, er hat nicht nur ihm als Mentor gedient, sondern auch vielen anderen. Dafür wird er gerühmt, aber den Autor Max Brod sollten wir darüber nicht vergessen.



Anmerkungen

1 Rezension zu Franz Blei: Der dunkle Weg. Leipzig 1906. In: Die Gegenwart, Jg. 71, Nr. 6, S. 93.

2 KKAB1 S. 49f.

3 Franz Kafka: Betrachtung. In: Hyperion. Eine Zweimonatsschrift, 1. Folge, 1. Band, Heft 1, S. 91-94.

4 Kurt Wolff: Der Autor Franz Kafka. In: "Als Kafka mir entgegenkam...". Erinnerungen an Franz Kafka. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Berlin 1995, S. 95.

5 KKAB1 S. 165f.

6 Franz Kafka: Betrachtung. Leipzig 1913.

7 KKAT 461.

8 Max Brod: Tagebuch in Versen. Berlin-Charlottenburg 1910.

9 Tagebuchaufzeichnungen, Privatbesitz.

10 Max Brod: Das Ereignis eines Buches. In: März, 7. Jg., 1. Band, Heft 7, S. 268-270.

11 KKAB2 S. 92f.

12 Tagebuchaufzeichnungen, Privatbesitz.

13 KKAT 413.

14 KKAT 546.

15 KKAT 943.

16 KKAT 258.

17 KKAT 993.

18 KKAT 331f.

19 Max Brod: Zauberreich der Liebe. Berlin, Wien, Leipzig 1928.

20 Vgl. KKAT 438.

21 Tagebuchaufzeichnungen, Privatbesitz.


Zit. nach: Franz Kafka Kritische Ausgabe. Schriften, Tagebücher, Briefe. Verlag S. Fischer, 1982 ff.

Hans-Gerd Koch,Hg.: Gesammelte Werke in 12 Bänden in der Fassung der Handschrift. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1983 ff. Textidentisch mit den Textbänden der Kritischen Ausgabe.

B = Briefe; T = Tagebücher

Hans-Gerd Koch, Hg.: Tagebücher Band 1: 1909–1912 in der Fassung der Handschrift. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994.
ders.: Tagebücher Band 2: 1912–1914 in der Fassung der Handschrift. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994.
ders.: Tagebücher Band 3: 1914–1923 in der Fassung der Handschrift. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994.



Der Autor
Hans-Gerd Koch, seit 1981 an der Kafka-Forschungsstelle der Bergischen Universität/ Gesamthochschule Wuppertal tätig, Dozent für Neuere Deutsche Literatur an o.g. Universität und der TU Berlin. Im Rahmen der Kritischen Ausgabe der Werke Franz Kafkas im S. Fischer Verlag war er Mitherausgeber der Tagebücher sowie der Drucke zu Lebzeiten, bei allen übrigen Bänden wirkte er als Redakteur mit. Außerdem ist er Herausgeber der Taschenbuch-Edition von Kafkas Werken in der Fassung der Handschrift. Koch arbeitet als Lektor für Belletristik und Sachbuch im Verlag Klaus Wagenbach sowie als Programmleiter von Patmos audio. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, Kulturmanager (Ausstellungen, Konferenzen, Vortrags- und Lesereihen), Produzent und Regisseur von Hörbüchern, darüber hinaus hat er als Regisseur und Dramaturg bei Theaterproduktionen mitgewirkt. 2011 war er Mitgründer der Sprecher-Agentur Bille & Blohm. Zurzeit lebt er als freier Publizist, Lektor und Übersetzer in Berlin und Köln.



© Text mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Fotos: ushmm.org; salom.com.tr, bearbeitet; no-limits-festival.de 2009.


s. hier auch: Brod und die Moderne, Max Brod-Werkausgabe, Tycho Brahe, Ludwig Winder


Zu ihren gemeinsamen Projekten:

Skizze zur Einleitung für Richard und Samuel von 1911: http://www.kafka.org/index.php?id=88

Wie Kafka und Brod beinahe zu Millionären wurden: http://www.franzkafka.de/franzkafka/fundstueck_archiv/fundstueck/804752

 

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