SCHIELE UND EIN KOFFER VOLLER BILDER
von Harry Oberländer
- Silva Bohemica, Böhmischer Wald, heißt seit dem 10. Jahrhundert nach Christus ein Gebirge, das sich von der Wondrebsenke östlich Bayreuths bis zum Hohenfurther Sattel nördlich von Linz erstreckt, „kein Wald wie sonst einer”, schrieb ein Dichter des 20. Jahrhunderts, Georg Britting, „es hat ihn in seiner schwarzen Gewalt noch keiner gemalt, wie er ist“. – „Ein Stück Dämmerblau”, schrieb ein Dichter des 19. Jahrhunderts, Adalbert Stifter, geboren und aufgewachsen in Oberplan inmitten einer Hochebene an der oberen Moldau, „eine blaue Wand von Süd nach Norden streichend, einsam und traurig”.
Die Geologen nennen den Böhmischen Wald auch Altes Gebirge, denn es ist der im Osten heraustretende Ausschnitt eines Grundgebirges, der sogenannten Böhmischen Masse, ein ausgedehntes europäisches Gebirgsareal, dessen größerer Teil westlich der Elbe hervortritt und Moldanubikum heißt. Die Donau, ein gewaltiger Strom, begrenzt es, die Moldau, ein munterer Fluss, mäandert 440 Kilometer lang mitten darauf, gräbt sich in vielen Windungen in die felsige Oberfläche ein, in kristalline Gesteine magmatischer und metamorpher Art.
Alle Teile des Böhmischen Waldes, die wir heute als Oberpfälzer Wald und Bayrischer Wald, und tschechischerseits als Český Leš und Sumava kennen, gehören erdgeschichtlichen Formationen an, deren Alter wir benennen, aber nicht ermessen können. Darum ist die Bezeichnung Altes Gebirge so schlicht und so glücklich, weil das Präkambrium, die Zeit seiner Entstehung, nach redlichen, gleichwohl zweifelhaften Berechnungen 3500 Millionen Jahre zurückliegt und das Paläozoikum, in dem das Gebirge noch nicht zur Ruhe gekommen war, mit einem Alter von 400 Millionen Jahren zwar eindeutig jünger, uns dadurch aber keineswegs näher ist. Denn der ungeheuren Größe der Zeit, die sich in diesen Zahlen ausdrückt, kann sich unsere Vorstellungskraft bestenfalls metaphorisch nähern. Die Geschichte der Menschen im Böhmischen Wald erscheint darin als nicht mehr denn eine dünne und sehr sensible Schicht grünes Moos auf der scheinbar harten Oberfläche eines ungeheuren Blockes von Granit.
Seit sich um den flüssigen und sehr heißen Aggregatzustand des wundersamen Planeten vor 4600 Millionen Jahren die Erstarrungsrinde bildete, vom Präkambrium in das Paläozoikum und in die Variskische Ära des Karbon hinein reicht der Faltungsprozess des Alten Gebirges, im Perm, vor 275 Millionen Jahren, kommt es zu den letzten Zerreißungen, die verbunden sind mit dem Aufdringen von Lava, mit Vulkanausbrüchen also. Danach wird es verhältnismäßig ruhig. Time Timeless hieß im Juli 2000 eine Ausstellung im Egon Schiele Art Zentrum in Český Krumlov. Ein Künstler namens Ivan Kafka hatte Zeiger auf 29 Stelen montiert. Hell erleuchtet in einem Winkel des geräumigen Dachbodenraums, liefen sie ohne Ziffernblatt und ohne Zeiger für Stunden und Minuten im Sekundentakt im Kreis. Die Zeiger zeigten Vergänglichkeit, Zeit, wie sie vergeht, aber ohne Relation, ohne Maß. Der Künstler hatte das Werk Über vermögendes Unvermögen genannt. Eine anderes Werk nannte Kafka Bemoosung. Auf eine große Platte hatte er zwei Granitquader gelegt. Der eine hatte lange Zeit in seinem Atelier gelegen, der andere in einem Bach im Böhmerwald. Der bei aufmerksamer Betrachtung erkennbare Größenunterschied sprach von Materie und ihrer Vergänglichkeit. Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. Das war meine Stimmung im Frühjahr 1994, als ich zu einer Grenzwanderung entlang der deutsch-tschechischen Grenze aufbrach. Enttäuschte Liebe. Mein Leben lang hatte es mir immer gutgetan, wenn ich zu Fuss gegangen war, wenn ich weite Wege zurücklegen konnte. Ich wollte von Norden nach Süden gehen, bis in jene Landschaften, die Adalbert Stifter in seinen Romanen und Erzählungen beschrieben hatte. In Franzensbad, dem nordwestlichen Eckpunkt des nordböhmischen Bäderdreiecks, in der Nähe der Stadt Eger kam ich am Abend an, es war schon dunkel geworden, und obwohl es April war, kurz vor Ostern, waren die Straßen und Wege tief verschneit. Ich erinnere mich noch, wie ich dastand mit meinem Rucksack, wie der Bus in der Dunkelheit verschwand: Außer mir kein Mensch weit und breit, links die klassizistische Fassade eines Palastes, rechts die dunklen Stämme großer Parkbäume und alles erleuchtet von Straßenlaternen, alles erstrahlend in ockergelber Pracht, und der Schnee schluckte jegliches Geräusch. Alles traumartig erleuchtet, ich mitten darin. So kam ich, schon spät im Jahr, zu der Winterreise, nach der mir zumute war. Im Jahre 1909 breitete ein Engel seine Flügel aus und landete auf dem Marktplatz von Murnau. Es war ein blauer Frühlingsmorgen, und die Alpenkette strahlte aus reinem Süden. Frau Gabriele Münter kam gerade vom Notar, sie hatte ein Haus gekauft. Der Blaue Reiter hoch zu Pferde rief uns zu: „Das Leben spinnt das Beste unserer Seele aus uns heraus und spinnt es hinüber auf andere unschuldige Geschöpfe wie Bäume, Blumen, solche Instrumente, in denen lebt es dann und altert nicht.” Ach, aus welcher Farbenpracht hat dieses Jahr uns gemalt. Jenen Cherub Bondo als fliegenden Engel, der aufbricht, um Egon Schiele in Wien leicht anzustoßen. Und siehe da: aus Klimtscher Ornamentik bricht sich im Duktus hagerer Verrenkung ein neues Bewusstsein Bahn: diesseits die Lust und der Tod – jenseits kein Bild. Aber hier sind jetzt die sprichwörtlichen böhmischen Dörfer, sagte ich mir, als ich im Auto hindurchfuhr, im Juni 2000, ich war um ein anderes Mal in Český Krumlov, in Böhmisch Krummau, angekommen, diesmal als Stipendiat für ganze zwei Monate. Ich fuhr mit dem Auto durch Dörfer im grünen Wald, kleine Dörfer mit einer Kirche in der Mitte, mit einem großen Dorfplatz, manchmal gepflastert, manchmal Wiese, manchmal Teich, mit tantenhaften biederen Häusern, mit einer braunen Mehrzweckbaracke, die einmal den Supermarkt darstellte und zu den verkommenen Resten des Sozialismus gehört. Sie hießen Přídoli oder Oseký, diese böhmischen Dörfer, zwischen denen hatte ich mich verirrt, war in den Böhmischen Wald geraten, fand nicht wieder hinaus. Sie hießen Kahov und Oseky, hießen Kratušin und Zableži und waren sich alle ähnlich. Atemberaubend schöne Abendblicke gab es dort auf Wiesen und Seen, auf Moor und Heide, auf Bergketten mit Klöstern und Schlössern. Manchmal tauchte eine leere Schlossanlage auf, überraschend hinter einer Straßenkurve, heruntergewirtschaftete Gebäude, leer und verlassen. Manchmal war lange Zeit nur dunkler Wald, leer und unbewohnt. Jetzt sah ich Blitze einschlagen, der Regen schlug heftig gegen die Windschutzscheibe, der Wald wurde dunkel und zum Feind. Dann ein ganz naher Einschlag, Blitzlicht, es wurde sekundenkurz überhell, dann krachte schon der Donner. Ich wusste, mein Automobil ist ein Faradayscher Käfig, es kann nichts passieren. Dann spiegelten sich die Lichter im nassen Asphalt als lange Farbsäulen schwefelgelb auf dem schwarzen Grund. Und plötzlich, ich fuhr diese Kastanienallee entlang, plötzlich waren überall Frösche, so viele Frösche auf der Landstraße, dass ich kaum ausweichen konnte. Ich fuhr sehr langsam durch die Dunkelheit, kurvte in Schlangenlinien um die Frösche herum, so lange, bis hinter mir ein Lastwagen auftauchte und mich vorwärts drängte. Irgendwann hielt ich erschöpft am Straßenrand an. Im Schiele-Zentrum hing ein Bild von Karel Valter. Der hatte eine bizarr geformte, ausgetrocknete Froschleiche auf eine Leinwand geklebt, eine bunte Bühne darum gemalt und das Werk Der Tänzer betitelt. Ein poetisches Bild, und Kunst heilt Wunden. Adalbert Stifter, geboren im Oktober 1805 in Oberplan, gestorben 1865 in Linz – nachdem er sich die Halsschlagader aufgeschnitten hatte – schrieb: „Wenn sich der Wanderer von der alten Stadt und dem Schlosse Krummau, dieser grauen Witwe der verblichenen Rosenberger, westwärts wendet, so wird ihm zwischen unscheinbaren Hügeln bald hier bald da ein Stück Dämmerblau hereinscheinen, Gruß und Zeichen von draußen ziehendem Gebirgslande, bis er endlich nach Ersteigung eines Kammes nicht wieder einen anderen vor sich sieht, wie den ganzen Vormittag, sondern mit eins die ganze blaue Wand, von Süd nach Norden streichend, einsam und traurig. Sie schneidet einfärbig mit breitem, lotrechtem Bande den Abendhimmel, und schließt das Tal, aus dem ihn wieder die Wasser der Moldau anglänzen, die er in Krummau verließ; nur sind sie hier noch jugendlicher und näher ihrem Ursprunge. Im Tale, das weit und fruchtbar ist, sind Dörfer herumgestreuet, und mitten unter ihnen steht der kleine Flecken Oberplan.”Das Schloss der Rosenberger stammt aus dem Mittelalter und sitzt heute noch immer wie eine graue Witwe auf dem Felsen über Fluss und Halbinsel. Nicht nur, weil das Wappen der ehemaligen Schlossherren, der Wittikonen und der Rosenberger, eine fünfblättrige Rose ist, darf man die Geschichte von Burg und Stadt im 19. und 20. Jahrhundert mit Dornröschenschlaf überschreiben. Die glanzvolle Renaissance- und Barockresidenz, die vom 14. bis ins 18. Jahrhundert ein durchaus wahrnehmbarer Punkt auf der politischen und kulturellen Landkarte Mitteleuropas war, geriet in Vergessenheit. Während Adam von Schwarzenberg im 18. Jahrhundert noch einmal das Barocktheater des Schlosses für Aufführungen renovieren ließ, heute ein sehenswertes Stück Theatergeschichte mit vollständig erhaltener historischer Bühnentechnik, ging das höfische Kulturleben auf Schloss Krummau im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu Ende. Auch in der Stadt war weiter nichts los: Weder Goethe, dessen böhmische Reisen ins Bäderdreieck von Franzensbad, Karlsbad und Marienbad führten und dessen Schritte man in Johannes Urzidills Werk Goethe in Böhmen getreulich aufgezeichnet findet, noch irgendein Romantiker tauchte hier auf. Im August 1994 fuhr ich von Prag nach Norden, um Theresienstadt zu sehen. Ich kam sehr früh am Morgen an, weil ich das Hotel in Prag mitten in der Nacht verlassen hatte. Eine Horde von Schülern auf Klassenausflug war eingefallen. Die ganze Nacht tobte sie Türen schlagend und schreiend im Hotel herum. Die Studenten, die als Nachtportiers fungierten, waren überfordert, und an Schlaf war nicht zu denken. Ich fuhr mit dem Auto in die Nacht hinein, nach Norden, es war sehr neblig, und noch vor Morgengrauen erreichte ich Theresienstadt. Ehe ich es noch begriffen hatte, war ich am Ortsschild Terezín vorbeigefahren und schon wieder außerhalb der Stadt. Ich drehte um, parkte das Auto: Ja, das war die Kulisse, die ich von Fotos und aus Filmen kannte. Ich konnte zunächst nicht begreifen, dass man in einen solchen Ort einfach so hineinfährt wie in jede andere, ganz gewöhnliche Stadt. Aber Terezín ist heute auch das: eine ganz gewöhnliche Kleinstadt, in der die tschechischen Bewohner, die nach dem Krieg hier angesiedelt wurden, leben, wie andere Bewohner in jeder anderen, ganz gewöhnlichen Stadt. Die Nazis haben der Welt damals auch ein ganz gewöhnliches Stadtleben vorgeschwindelt. Sie inszenierten Theresienstadt als groteske Täuschung für die Weltöffentlichkeit. Scheinbar hatte Theresienstadt Läden und Kaffeehäuser, sogar eine Bank der jüdischen Selbstverwaltung. 1944 tarnten die Nazis das Sammellager Theresienstadt, in dem täglich Gefangene an Krankheit und Unterernährung starben oder exekutiert wurden, als Idylle für das internationale Rote Kreuz. Sie ließen einen Propagandafilm drehen mit dem zynischen Titel: Der Führer schenkt den Juden eine Stadt.Die Kaserne, wo die Kinder interniert waren, war Museum. Ich sah mir die Bilder an, die die Kinder gemalt hatten, die Fotos, Ausstellungsstücke wie Uniformen, Abzeichen. Die Dinge im Museum sind dem schrecklichen Zusammenhang entkommen, nun liegen sie da wie Beweisstücke, und eine große Kälte haftet ihnen an. Die Kinderbilder hingegen sind wie alle Kinderbilder: Naiv und anrührend stellen sie dar, was die Kinder gesehen, was sie erlebt haben. Ordentlich haben sie ihre Namen und ihr Alter rechts unten in die Ecke geschrieben: die Kinder von Theresienstadt, die ihre Kindheit schnell hinter sich ließen und die mit den Zügen nach Auschwitz und Treblinka verschwanden und nicht mehr zurückkehrten. Krummau ist eine Stadt mit dem Glanz früherer Jahrhunderte. Architekturen der Gotik, der Renaissance und des Barock. Wenn man vom alten Burgturm, der 1580 von Baltasare Maggi zu einem verspielten Wahrzeichen mit Säulengang und allegorischen Darstellungen umgestaltet wurde, auf Moldauschleife und Stadt hinabschaut oder wenn man von der Kapelle auf dem Kalvarienberg aus den Blick über Schloss und Hügelland bis hin zum blauen Band der Sumava, des hohen Böhmerwaldes, richtet, findet man das Bild einer Landschaft und einer Stadt, deren schlafende Schönheit genau zum richtigen Zeitpunkt erweckt wurde: Weder die Industrialisierung des 19. noch die historischen Desaster des 20. Jahrhunderts haben dem Stadtbild etwas anhaben können, sieht man von wenigen grauen Plattenbauten im weiteren Umkreis einmal ab. Wenn man bedenkt, dass Denkmäler nicht nur durch den Verfall bedroht sind, sondern mindestens ebensosehr durch fehlgeleitete Ambitionen ihrer kommerziellen Nutzer, dann hat Český Krumlov sehr viel Glück gehabt: Der mäßige Verfall nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit der vollständigen Abwesenheit jeglichen wirtschaftlichen Nutzungsinteresses hinterließ den Restauratoren, die sich nach der Revolution 1989 ans Werk machten, eine relativ unberührte Denkmalbasis: komplexe Relikte einer jahrhundertelangen Bauentwicklung. Im Februar 1992 wurden Schloss und Altstadt Krummaus insgesamt in das Denkmalverzeichnis der UNESCO eingetragen. Mit dem Egon Schiele Art Zentrum hat Krummau jedoch ein weiteres ästhetisches und auch politisches Kraftfeld, das die übliche Angebotspalette eines an kulturhistorischem Erbe reichen Ortes in attraktiver Landschaft noch einmal deutlich erweitert. Dabei ist Egon Schiele nicht einmal hier geboren und war zu Lebzeiten bei den Bürgern alles andere als geachtet und beliebt. Im Gegenteil: Schiele und seine Künstlerfreunde brachten allzuviel Bohème nach Böhmen. Er wurde 1911 von den biederen Krummauern vertrieben, weil sie Anstoss nahmen an seiner Aktmalerei und am jugendlichen Alter seiner Modelle. Er ist auch danach bis zu seinem frühen Tod 1918 immer wieder nach Krummau zurückgekehrt, hat allerdings nur noch die verwinkelten Dächer und die Häuser der Altstadt gemalt. Damit aus diesem nicht sehr zwingenden biographischen Bezug die Wirklichkeit eines internationalen Kunstinstituts mitten in der böhmischen Provinz werden konnte, bedurfte es mehrerer Faktoren, und es bedurfte einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Das Schiele-Zentrum, das im November 1993 in einem Renaissance-Palais der Altstadt eröffnet wurde, gäbe es nicht ohne einen Mann mit bewegter und bewegender Lebensgeschichte, ohne den New Yorker Kunsthändler Serge Sabarsky.
Harry Oberländer
Serge Sabarsky war bis zu seinem Tode im Jahr 1996 ein erfolgreicher Sammler und Händler expressionistischer Gemälde in den USA und eine Größe im internationalen Kunsthandel. In den siebziger und achtziger Jahren organisierte er zahlreiche Ausstellungen der Expressionisten in den USA und in Europa. Er war es, der Max Beckmanns Frankfurter Gemälde des Eisernen Stegs (1922) zurück nach Deutschland verkaufte, und es war Sabarsky, der 1984 große Schiele-Ausstellungen nach Rom und Venedig brachte. Mit dem Museum in Krummau gelang dem Emigranten gewissermaßen eine glanzvolle Heimkehr, vorausgesetzt man definiert dieses Heim nicht allzu eng: Es geht um einen kulturellen Raum, der aus der engen Verbindung des habsburgischen Wien mit den Ländern der böhmischen Krone erwuchs und der in der Prager und Wiener Moderne fruchtbare Auseinandersetzung und Zusammenspiel von Tschechen, Juden und Deutschen ermöglichte. Serge Sabarsky kam 1913 in Wien zur Welt und erhielt den sehr deutschen Namen Siegfried. Siegfrieds Vater Noah, ein Jude aus der Ukraine, der als russischer Soldat in den russisch-japanischen Krieg 1904/05 gezogen und desertiert war, als er bei einem Heimaturlaub vom elterlichen Hof nur noch Ruinen vorfand, war auf abenteuerlichen Wegen nach Wien gekommen, nannte sich fortan Norbert Sabarsky und zog einen schwungvollen Handel mit Gummi-Absätzen auf. 1931, nach dem Verlust seiner Firma in der Weltwirtschaftskrise, fiel Norbert Sabarsky in eine schwere Depression, die im Selbstmord endete.
Sohn Siegfried Sabarsky schlug sich als Handelsvertreter, Garderobier und Bühnenbildner durch. Er startete eine Karriere in der Werbung, die damals noch Reklame hieß, und wurde als PR-Fachmann vom Zirkus Medrano engagiert. Als sich der zuständige Clown ein Bein brach, hatte Siegfried Sabarsky den Mut, für ihn einzuspringen. Das ging dermaßen gut, dass er die Rolle behalten durfte. So tingelte Jung-Siegfried als Zirkusclown durch das Österreich der dreißiger Jahre: Er habe auf diesen Reisen den wirklichen katholischen Neandertaler kennengelernt, schreibt Sabarsky in seiner Autobiographie. Der sei im Suff als nationaler Held zum Vorschein gekommen, wie bei jenem Stadtkommandanten von Braunau am Inn, der bei der Premierenfeier 1937 dem Clown ins Ohr lallte: „Solange wir diese Juden nicht weghaben, wird es kein Heil geben.”
Als im Jahr darauf ein anderer Mann aus Braunau auf dem Wiener Heldenplatz die Heimkehr seiner Heimat ins Deutsche Reich meldete, musste der Jude Siegfried Sabarsky die nackte Haut retten: Mit einem gefälschten Einladungsbrief verschaffte er sich ein Durchreisevisum für Frankreich und floh nach Paris. Als die Nazis ihn dort einholten, wäre seine Flucht in die USA beinahe an einem fehlenden Ausreisevisum gescheitert. Der Clown wechselte kurzfristig ins Charakterfach und spielte frech und erfolgreich einen arroganten Herrn mit guten Beziehungen.
In Amerika wurde aus Siegfried Sabarsky Serge Sabarsky. Der meldete sich 1942 zum Militärdienst und kam in Frankreich zum Einsatz. Nach dem Krieg wurde er ein erfolgreicher Innenarchitekt und Designer. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt ihn hollywoodlike in seiner Wohnung in Manhattan, als gutaussehenden jungen Mann mit dunklem lockigem Haar, die brennende Zigarette lässig zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Mit einer Schiele-Zeichnung, erworben für 500 Dollar, begann Mitte der fünfziger Jahre die Geschichte des Kunstsammlers Serge Sabarsky. 1968 eröffnete er mit einigen Schiele-Zeichnungen, ein paar Kirchners, Pechsteins und Noldes eine Kunsthandlung an der Madison Avenue.
Anfang der neunziger Jahre, als Český Krumlov aus seinem Dornröschenschlaf erwachte, fand Sabarsky mit Gerwald Sonnberger einen kompetenten Mitstreiter, der aufgrund langjähriger Erfahrungen mit Kulturprojekten in Osteuropa für die konzeptionelle Ausgestaltung eines Internationalen Schiele-Zentrum-Projekts sorgen konnte, und mit Hana Jirmusováeine tatkräftige Organisatorin vor Ort. Die Stadt Cesky Krumlov stellte ein heruntergewirtschaftetes Renaissance-Palais zur Verfügung, und finanzielle Hilfe kam vor allem von der österreichischen Regierung in Wien, vom tschechischen Kulturministerium, vom Land Hessen und von zahlreichen privaten Förderern.
Als Egon Schiele 1910 nach Krummau kam, hatte er eine Ausbildung an der Wiener Akademie und zwei Gruppenausstellungen in Klosterneuburg und Wien hinter sich. Der gerade mal 20jährige Maler hatte tüchtig Nietzsche gelesen und war erfüllt von einem Bewusstsein der Heiligkeit des Eros und davon, für die Ewigkeit zu malen. Schiele, der sich in einem seiner Gedichte als „ewiges Kind” apostrophierte, verachtete das Geld und die bürgerliche Gesellschaft und sah sich in der Gemeinschaft mit den Unsterblichen, die in Tempeln ausgestellt sein sollten. Doch nachdem er 1911 schon Krummau verlassen musste, kam es für ihn noch schlimmer: Im April 1912 wurde er in Neulengbach in Österreich verhaftet und wegen Missbrauchs eines minderjährigen Mädchens angeklagt. Nach drei Wochen Untersuchungshaft wurde die Anklage zwar im nachfolgenden Prozess fallengelassen, dennoch wurde Schiele verurteilt: zu drei Tagen Haft, weil er seine „unmoralischen” Zeichnungen auch für Kinder sichtbar im Atelier aufgehängt hatte. Nach eigenem Zeugnis hat Schiele die Haftzeit, die ihn tief verstörte, als eine innere Reinigung aufgefasst. Auch das große Gemälde Selbstbildnis als Mönch mit Wally N. (1913) zeigt noch die Spuren der Stigmatisierung und Gefängniserfahrung. Schiele portraitiert sich selbst als asketische Mönchsgestalt, fast als einen Todesengel, der mit großer Geste die Arme nach der Geliebten ausstreckt.
Die große Geste war Kunst, vielleicht Prophetie, die Lebenswirklichkeit sah etwas banaler aus: Vier Jahre lang war Wally Neuziel Schieles Modell und Geliebte gewesen, was ihn nicht hinderte, die Frau aus der Unterschicht 1915 zu verlassen, um standesgemäß ein Mittelschichtfräulein namens Edith Harms zu heiraten. Für Schiele kein Problem: Er hätte liebend gerne beide gehabt, Edith als Ehefrau und Wally als Geliebte. Doch Wally lehnte das Angebot ab, weiterhin jeden Sommer mit Egon in Urlaub zu fahren, und meldete sich als Krankenschwester zum Kriegseinsatz. 1917 starb sie in Dalmatien an Scharlach. Auch Egon Schiele und seine schwangere Frau Edith wurden Opfer einer Epidemie: Im Oktober 1918 starben sie – kurz nacheinander – an der auch in Wien grassierenden Spanischen Grippe.
1994 in Theresienstadt ging ich den Weg zur kleinen Festung zu Fuß: Über dem Eingang steht der Satz: Arbeit macht frei. Der Weg für Besucher führte zunächst in einen Zellentrakt, mit Einzelhaftzellen, den schon die österreichisch-ungarische Staatspolizei als Gefängnis für politische Häftlinge verwendet hatte. Der Attentäter von Sarajevo, der 1914 den Thronfolger Franz Ferdinand erschossen hatte, Gavrilo Princip, war hier inhaftiert und starb hier an Typhus. Die kleine Festung in Theresienstadt gehört zu den Orten des Schreckens, die sich gegen die Beschreibung sperren. Ich hörte einen Fremdenführer sagen: „Hier war die Leichenkammer, dort wurden bis zu dreißig Leichen übereinander gestapelt.” Ich sah einen kleinen kahlen, nackten Raum und dachte: Hier wurden also dreißig Leichen übereinander gestapelt. Ich dachte: Ich sehe mir diesen Raum an, und weiß nun: Hier wurden dreißig Leichen übereinander gestapelt, und mit diesem Wissen und mit diesem Bild des Raumes gehe ich jetzt weiter. Sonst passiert nichts. Es geht. Es geht weiter. In jedem Museum geht es auf dem Rundgang, den Pfeilen nach, immer weiter. Die Regie der Besichtigung hat das Laufen durch einen langen unterirdischen Gang vorgesehen. Ab und zu konnte man durch eine Schießscharte in der Festungsmauer nach draußen sehen. Der Gang führte auf den Exekutionsplatz. Das Ende der Welt ist so: Von dicken Wällen umgrenzt, mit einem Stück Himmel darüber, steht auf einem kleinen Hügel ein Galgen und eine Exekutionsmauer nebenbei. Aber was einer sieht, der heute, so viele Jahre später, hier vorbeikommt, ist nicht mehr der Schrecken selbst, ist nur noch sein verblassender Schatten, sein leiser werdendes Echo. Wir sind nicht wirklich hier, und wir sind nicht in der Wirklichkeit. Der Weg in die Wirklichkeit führt am Friedhof vorbei, zurück nach Theresienstadt. Meine letzte Station, eine Station wie auf einer Prozession, so kam es mir vor, war das Krematorium am andern Ende des Ortes. Davor stand eine Gruppe niederländischer Jugendlicher. Als ich heraustrat, sahen sie mich verächtlich an, und einen hörte ich sagen: „Das ist auch einer von der Firma.”
Aber erst im Sommer 2000 in Český Krumlov wurde ich mit der Biographie und dem Werk von Friedl Dicker-Brandeis konfrontiert, der in Wien geborenen Bauhausabsolventin, die im KZ Theresienstadt die Kinder, deren Zeichnungen ich 1994 sah, betreut und ihnen Malen und Zeichnen beigebracht hatte. Friedl Dicker-Brandeis – ein Leben für Kunst und Lehre war neben Time Timeless die zweite Ausstellung im Schiele-Zentrum. Die Kinderzeichnungen wurden gerettet – jemand packte sie in einen Koffer und brachte sie in Sicherheit, sie sind heute im Jüdischen Museum in Prag zu sehen. Die Bilder, die ich zuerst 1994 in Theresienstadt gesehen hatte, waren mir nachgereist und jetzt im Schiele-Zentrum ausgestellt. Und auch das formal beachtliche Werk der Designerin, Bühnenbildnerin und Malerin Dicker-Brandeis überdauerte. Friedl Dicker-Brandeis selbst wurde im Oktober 1944 in Auschwitz ermordet.
Zur Ausstellung Time Timeless gehörte auch ein Friedhof, den Frantiszek Skála im Keller aufgebaut hatte, eine verwunschene Landschaft mit Galgen und Kreuzen, mit Moos und verfallenen Mauern von der Größe und Art einer Modelleisenbahn. Als ich 1994 zu meiner Grenzwanderung durch den Böhmischen Wald aufbrach, hatte ich mir Oberplan zum Ziel gesetzt und jenen See am Plöckenstein, von dem Stifter schrieb, er sehe einen an wie ein geheimnisvolles Naturauge. An einem Tag im Sommer 2000 nahm ich den Zug von Krummau hinauf in die Berge, ich wanderte an dem schönen See vorbei, der für mich nichts Beunruhigendes hatte. Weiter oben erinnert eine große Stele an Stifter, die jahrelang unerreichbar war, weil sie im verbotenen Land am Eisernen Vorhang stand. Heute besteht die Grenze auf dem Gipfel aus ein paar Markierungen und Wegweisern nach Bayern und ins Mühlviertel und einem österreichischen Grenzerhäuschen, dessen Fensterläden geschlossen waren. Ein rührendes Plakat informiert über die Zollbestimmungen. Von den Felsen des Plöckenstein kann man weit in das böhmische Land, nach Tschechien hineinschauen, und wenn man so in den Raum sieht, wird auch eine ungeheure Langsamkeit sichtbar, eine Faszination der Oberfläche, die auch noch niemand gemalt hat.
© Erstveröffentlichung: faust-kultur.de, mit freundlicher Genehmigung des Autors
Fotos: Harry Oberländer, Irmgard M. Ostermann (Boote) schieleartcentrum.cz (Serge Sabarsky), myhero.com (Friedl Dicker-Brandeis)