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Ilija Trojanow von Katja Schickel 

11. Internationales Literaturfestival Berlin 2011

 

 

 

Den Einstieg ins Festival machte gleich nach der Eröffnungsveranstaltung der Schriftsteller, Übersetzer und Verleger Ilija Trojanow mit seinem neuen Buch EisTau (Hanser Verlag). Erzählt wird von Zeno, einem jungen Glaziologen (Gletscherkundler), der seinem Studienobjekt, einem Alpengletscher beim Sterben, wie das Abschmelzen von Schnee, Eis und Permafrost tatsächlich genannt wird, hilflos zuschauen muss, und dann, in Vertretung eines Kollegen, als wissenschaftlicher Experte auf einem Luxusliner eine Kreuzfahrt zur Antarktis begleitet, jedoch erkennen muss, dass die Reisenden nicht im mindesten an der Natur, geschweige an der Tatsache ihrer Gefährdung interessiert sind. Das Meer, die Antarktis sind lediglich Kulisse, eine fehlende Destination auf ihrer Weltumrundung, späterer Erzählstoff für die Daheimgebliebenen. Trojanows Lesung entpuppt sich als Performance. Er kann seinen Text auswendig und spricht die Dialoge und Kommentare in unterschiedlichen Stimmlagen. Hans Huyssen hat eine Romanmusik komponiert, die mit dem Ensemble Cosí facciamo (Cello, Violine, Saxophon/Klarinette) den Text begleitet. nicht als Soundtrack im Hintergrund oder als Stimmungsverstärker, sondern als Reflexionen über die vielfältigen Formen von Eis und die Geräusche, die es verursacht: das Knistern, Krachen, Knacken, Ratschen, Knirschen, seine Härte und allmähliche Auflösung, Die Musik thematisiert darüber hinaus die Verzweiflung des Wissenschaftlers; da schwappen Wellen und Gesprächsfetzen ans Ohr; das lärmende Geschwätz der Touristen endet - kommt einem vor - im dissonanten Gekrächze eines Transistorradios beim vergeblichen Versuch, den richtigen Sender einzustellen; die Schönheit und Erhabenheit des ewigen Eises der Antarktis wird mit wenigen Noten skizziert, für Augenblicke glaubt man die Stille zu hören. Es ist nicht neu, literarische Texte mit Musik zu verbinden, Als Auftakt, Einklang, war das jedoch sehr kurzweilig und gelungen, es versprach Durchlässigkeit und verwies darüber hinaus darauf, dass Literatur zunächst Gesang war: in Lyrik bzw. den englischen lyrics für Songtexte erinnert das zugrunde liegende Instrument daran: die Lyra. In schöner Spiegelung und Symmetrie beendeten sogar zwei Konzerte das Festival, bildeten dessen poetischen Ausklang.

 

BioBibliographisches : *1965 in Sofia, Bulgarien, 1971 Flucht der Familie über Jugoslawien und Italien in die Bundesrepublik, aufgewachsen im kenianische Nairobi. Nach Studienjahren in München Gründung des Kyrill und Method Verlag, später des Marino Verlags mit Schwerpunkt auf afrikanischer Literatur. 1996 Debüt mit dem Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überal l. In seinen Büchern ist kulturelle Heterogenität nicht Übel oder Unglück, sondern Normalität, Chance oder sogar Glücksfall. Er bereiste und schrieb über Bulgarien; 1999 Hundezeiten , 2006 Die fingierte Revolution : eine provokative Abrechnung mit der alten Nomenklatura, die unter demokratischem Deckmantel eine neue Oligarchie etabliert hat. 2006 erschien der Roman Der Weltensammler , der die Geschichte des exzentrischen, polyglotten und neugierigen britischen Kolonialoffizier und Orientalisten

Richard Francis Burton erzählt, dessen Perspektive mit den Sichtweisen Einheimischer kontrastiert wird. So entsteht ein komplexes Bild fremder Kulturen, voller sinnlicher Details und differenzierten Reflexionen, die nahtlos an aktuelle Debatten anschließen. Trojanow erhielt den Adelbert-von-Chamisso-Preis, den Preis der Leipziger Buchmesse und den Berliner Literaturpreis. Er war Stadtschreiber in Mainz, hatte eine Heiner-Müller-Gastprofessur in Berlin und war Poetik-Dozent in Tübingen – und lebt und arbeitet zurzeit in Wien.

 

Sein Satz: Die Hölle ist die Summe unserer Versäumnisse.

 

© Gletscher - Colin McGrindle/National Geographic 2011 



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