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Istanbul Reloaded

Nachtgesänge, flüsternde Steine und schweigende Teppiche

von Katja Schickel


 

Istanbul Bootleg ist – wie der Name nahelegt – eigentlich eine Reihe von Tonaufzeichnungen, hier von Gedichten, Mitschnitten von Klängen und literarischen Stimmen anderer AutorInnen.
Schwarzpressung. Geschmuggelt. Sozusagen.
Mindestens. Reminiszenzen an Aufenthalte des Dichters in der Türkei und Istanbul.
Eine Liebeserklärung in vier Kapiteln ist es auf jeden Fall, die man nicht mal eben laut herausposaunt, sondern vielstrophig zelebriert - ohne jedes pathetische Getue; kleine Musikstücke und Gesänge, neu komponiert und improvisiert mit einfallsreich rhythmisierten Melodienwechseln, Schnappschüsse wie Mosaiksteinchen in präzise verschlungenen Ornamenten – vielleicht direkt am Bosporus, in eine der engen Gassen, einer breiten Avenue, auf einem schattigen Platz, in einem Caféhaus, um sich mit jeder Einzelheit und Impression an den Duft und Klang der Zeit zu erinnern und zu bedanken für das Geschenk, dass die Stadt für einen bereitgehalten hat.

Schön, geheimnisvoll, so ist Istanbul oft beschrieben worden, aber auch als Ort von Dünkel, Verbrechen und Verrat. Eine Vielvölkerstadt zwischen Toleranz und Nationalismus, chaotisch wie der Straßenverkehr, die öffentlichen Verkehrsmittel, das Auf und Ab der Hügel, die ein- und auslaufenden Boote und Schiffe, das Schäbige, Heruntergekommene und Elende neben Grandezza, Eleganz und Anmut. Kaum eine andere europäische Stadt verkörpert die Widersprüche unserer Zeit so wie Istanbul, verbindet Aufruhr und mediterrane Gelassenheit auf diese erstaunliche Weise – ohne Konsens und Harmonie vorzugaukeln, weil es (traditionell) Streit und Konflikte gibt zwischen den Kulturen, zwischen Asien und Europa, zwischen Arm und Reich. Aber wie es im Stadtbild ein Nebeneinander der Epochen und Baustile gibt, so gibt es in der Stadt selbst immer noch unterschiedliche Lebensstile, Meinungen und Religionen, und wir hoffen, dass das so bleibt.

Die Demotapes werfen uns mitten hinein in die lärmende Stadt, in das Gewimmel, in Viertel, die wir (so) nicht kennen, als wären sie längst in Vergessenheit geratene Kulissen oder Fata Morganas, unsere Bewegungen folgen ihrem Puls und Herzschlag, Verlangsamung und Beschleunigung in fremdem Takt, man spürt ihre Hitze und Kälte. Ohne Navi geht es durch ihre verwitterte und doch von altem Prunk erzählende, oft sogar wieder auf Hochglanz gebrachte Architektur, den Wirrwarr aus Aufbau und Verfall, Asphalttrassen und Blattgold; durch die jahrhundertealte verwirrende und verworrene Geschichte, die sich zeigt und offenbart – wenn man will, selbst wenn man sie nicht kennt (Einiges wird im Anhang erklärt), und die guten und bösen Geschichten, die sich hinter den Fassaden und unter den schweigenden Teppichen verbergen. Die grüne Einsamkeit, die einen Frieren machen, aber zugleich auch Sehnsucht entfachen kann.

Die b-sides verweisen auf andere Schönheiten und Abgründe, Inseln, Ufer und Verstecke, etwas abseits gelegen, trockene Hitze und modriges Gemäuer, diskreter Charme der Reichen und Zeichen mancherlei Verfehlung. Nicht nur die Katzen lieben Stille.

Die remixes erinnern an die, die über Istanbul schrieben, wie sie litten an der Liebe, an der Gewalt, der Furcht, wie sie entkamen, wegliefen und doch blieben oder nie fortgingen; Liebes-, Protest- und Klagelieder – arrangiert als Erinnerung an ihr Werk, an das Glücksempfinden beim Lesen einer gelungenen Zeile, hinein montiert in die eigenen Assoziationen zur Stadt und ihre Geheimnisse.

bootleg, das könnte die Schmuggelware sein, die jahrhundertelang hin und her geschoben wurde, hierhin und dorthin verschleppt, dann aufbewahrt in der Stadt, am Hafen, in Speichern und Kellern, auf den Straßen und Brücken, die der Besucher/die Besucherin entdecken kann, wenn sie den Spuren folgt, den Gerüchen, dem Geschrei und Lärm, der Stille und dem Schweigen.Wie die Katzen, die Unterschlupf suchen im Gestrüpp, oder dem Autohupen, den Rufen der Muezzins und dem Gelächter hinterher oder auf den Fähren und Schiffen, inmitten des schimmernden Meeres, das Salz auf den Lippen spüren und einen Tee trinken, während gleichzeitig die osmanische Skyline vorüberzieht. Dafür - wie für alles andere auch -  eine Sprache finden unter den vielen unbekannten, den eigenen Tonfall, den man einfügt in den Chor.

In den Bildern, die Gerrit Wustmann (er-)findet, um von Istanbul und seinen Entdeckungen zu erzählen, strahlt ein südlich flirrendes Licht auf die Vielfalt der Farben, das Treiben der Menschen und ihre Geschichten, und die Nächte sind mild und gefährlich, jenachdem. Diese Stadt ist anders. Fast kontemplativ breitet er sein Panorama aus, an manchen Stellen ist es bereits ausgebleicht und brüchig. In den Mauern sieht man plötzlich tiefe, dunkle Risse und in manchen Augen ein unruhiges Flackern. Es ist laut und stickig. Nur das Meer schwappt verlässlich an die Kais und bringt Leben an die Strände. So ist der vielschichtige Gedichtband eine überaus animierende Lektüre (nicht nur) für Istanbul-Reisende geworden.


Gerrit Wustmann

Istanbul Bootleg

96 S., geb., Binooki Verlag Berlin, 17,90 €. ISBN 978-3-943562-25-5

Die Gedichte sind auf Deutsch und auf Türkisch.

Ein Hörbuch mit einer Auswahl der Gedichte liegt dem Buch bei.

Vorgetragen von Gerrit Wustmann und Oya Erdoğan,

Musik (Oud) Andrea Mozzato. Mit einem Vorwort von Doǧan Akhanlı.

 


1o / zaman

vom möwenturm ans goldene
ufer wachsen lichtflecken aus flüsternden steinen
sie flüstern vom dichter
                          milli hain milli hain*
vom flug nach asien und dem blattgold
auf postkarten: was die verblichenen gesichter
erzählen was die zigeuner verkaufen am stacheldraht
an der kirche am zeitgewächs
an zeilen

* milli hain = Vaterlandsverräter


 

o9 / ornamentler (II)

die ornamente
im staubigen boden
lösen sich auf die gegenwart
vergeht auf nassen wänden
zeichnen sich muster ab
die schrift an der wand
wölbt sich zur nacht die schrift
ein bröckelndes gold
ein brackendes wasser und
flüsternde algen die ornamente
in den händen der betenden
zur morgenröte bricht der klang
wo das licht sich trifft
an diesem einen punkt aus
tausend fenstern unter der kuppel
die ornamente auf marmor
und staub




"Istanbul, das ist nach wie vor eine große Liebe, anders kann man es nicht ausdrücken."

Wustmann war 2010 das erste Mal in Istanbul, schrieb Beyoğlu Blues, seinen ersten Gedichtband, der 2011 zweisprachig publiziert wurde, um von vorneherein auch ein türkischsprachiges Publikum einzubeziehen und einen Austausch mit LeserInnen in beiden Ländern zu ermöglichen. Dialog ist ihm wichtig, außerdem liebt er den Klang der türkischen Sprache.
In einer Welt, in der unterschiedliche Kulturen existieren, muss man miteinander leben lernen. Menschen und die Gesellschaft, in der sie leben, definieren sich immer noch stark über Abgrenzung, aus Angst vor dem Fremden, Unbekannten, dem Anderssein. Über das gegenseitige Kennenlernen – davon ist er überzeugt – würden viele Ressentiments schnell verschwinden. Als Lyriker und Schriftsteller interessiert ihn persönlich natürlich der Blick über den literarischen Tellerrand, in andere Kulturräume hinein.

Gedichte schreiben und verlegen ist kein rentables Geschäft, Lyrik ist – marktwirtschaftlich gesehen – vermintes Gebiet. Sein erster Gedichtband Beyoğlu Blues verkaufte sich überdurchschnittlich gut. Seiner Schätzung nach gibt es rund fünftausend Menschen in Deutschland, die sich überhaupt für Lyrik interessieren. Enzensberger meinte, es gäbe in Deutschland 1354 aktive Lyrikleser, also solche, die sich Gedichtbände auch kauften. Verlage veröffentlichen aus diesem Grund gar keine oder nicht gerne Lyrik. Es ist meist ein Minusgeschäft. Gewinn macht niemand damit. Die Zahl derer, die sich auf Lyrik einlässt, auf alles, was Zeit zur Rezeption braucht, nicht gefällig ist, schrumpft eher, war allerdings immer schon überschaubar. Auch die andauernde Berieselung durch alte, insbesondere aber die Neuen Medien mit ihren schnellen Reizen und Oberflächlichkeiten führt dazu, dass die allgemeine Aufmerksamkeitsspanne, das Sich-Konzentrieren-Können auf eine Sache, nachlässt. Auch der Schulunterricht, der nur eng gesteckte Rahmen der Beschäftigung mit Texten und ihrer Interpretation vorsieht und zulässt, vergällt uns allen bereits sehr früh die eigene kreative Beschäftigung mit Literatur, vor allem mit Lyrik. Schule verhindert geradezu, sich offen und unverstellt mit literarischen Texten zu befassen.

Gerrit Wustmann übersetzte auch das Buch Flucht vor dem Hakenkreuz von Faye Cukiers, weil ihn die deutsche Geschichte nach wie vor begleitet, es jedoch nicht mehr viele Zeitzeugen gibt. Viele denken, der Holocaust sei mittlerweile so weit weg, aber Wustmann findet die Geisteshaltung, die das damals ermöglichte, heute immer noch vor, in einem Land, das seine eigene Geschichte – auf der politischen Ebene – so intensiv aufgearbeitet hat wie kaum ein anderes.


Istanbul war Liebe auf den ersten Blick und hat ihn nicht mehr losgelassen, er fühlte sich gleich zu Hause. Im Vorwort zum neuen Buch Istanbul Bootleg vergleicht der Schriftsteller Doğan Akhanlı Istanbul mit einer Frau, der man verfällt. Dieses Bild gefällt ihm gut.


Die Stadt hat es vielen Künstlern und Künstlerinnen angetan, weil es, wie schon Franz Grillparzer sagte, auf der Welt nichts Vergleichbares gibt. Ich glaube, es ist gar nicht möglich, das zu beschreiben. Man muss es fühlen. Man muss auf der Fähre stehen, die vom Marmarameer in den Bosporus einfährt, rechts das Ufer von Kadıköy, links Sultanahmet, geradeaus Beyoğlu, muss sehen, wie über der Stadt die Sonne sinkt, sich die schwarze Silhouette Istanbuls vor dem Horizont abzeichnet und die darüber unablässig kreisenden Möwen… und man muss in solch einem Moment in sich hineinhorchen, dann findet man hüzün, diese Melancholie, die nur in dieser Stadt so ist, wie sie ist. Ich könnte jetzt das Übliche erzählen von den Gegensätzen, Ost-West, all dieses Zeug. Aber das wird Istanbul nicht gerecht. Man muss sich auf Istanbul einlassen, muss aber auch wissen, dass eine Urlaubswoche dafür nicht ansatzweise ausreicht.


Informationen aus einem Interview von Safiye Can im Mai 2013, http://migration-boell.de/web/integration/47_3707.asp



Gerrit Wustmann, *1982 in Köln; dort und in Bonn hat er Orientalistik, Politologie und Geschichte studiert. Er ist freier Schriftsteller, arbeitet außerdem als Journalist und Redakteur für Online- und Printmedien. Seit 2006 ist er im kreativen Kernteam der Independent-Filmschmiede Skyroad Films mitverantwortlich für Spielfilmproduktionen. - In seinem literarischen Werk setzt er sich intensiv mit der orientalischen Lyrik auseinander und fördert auch mittels Veranstaltungen und Lesungen den interkulturellen Dialog. Seine Arbeit wurde mit mehreren Stipendien gewürdigt, darunter das Istanbul-Stipendium der Stadt Köln; 2012 erhielt er für sein Gedicht zaman / zeit den postpoetry.NRW-Lyrikpreis. Lesungen in Deutschland, Österreich und der Türkei.


Publikation und Beiträge

Istanbul Bootleg Gedichte türkisch-deutsch, ins Türkische übertragen von Miray Atli, mit einem Vorwort von Dogan Akhanli, Binooki Verlag, Berlin 2013

Beyoglu Blues, Gedichte türkisch-deutsch, ins Türkische übertragen von Miray Atli, mit einem Vorwort von Prof. Dr. Erika Glassen, Fixpoetry Verlag, Hamburg 2011

Als Herausgeber: Hier ist Iran! Persische Lyrik im deutschsprachigen Raum, Sujet Verlag, Bremen 2011

Morgenende, Gedichte, Silver Horse Edition, Marklkofen 2009

Lyrik und Prosa in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften. Gerrit Wustmanns Gedichte wurden ins Türkische, Persische, Italienische und Englische übersetzt.

Übersetzung

Faye Cukier, Flucht vor dem Hakenkreuz, aus dem Amerikanischen von Gerrit Wustmann, Emons Verlag, Köln 2012

Kontakt: www.gerrit-wustmann.de

Der binooki Verlag: Eine klischeefreie Zone www.binooki.com



© Fotos: binooki.com; Agnieska Neuberg, afp

eingestellt: 17VII2013

 



Doğan Akhanlı - Kafkas Prozess in Istanbul

Nachtrag und Würdigung

02.08.2013


Doğan Akhanlı hat zu dem hier rezensierten Band ein bewegendes Vorwort geschrieben, eine Hommage an einen Autor, dessen Gedichte er gerne vor allem in seiner schwersten Zeit gelesen hätte, und deren Leichtigkeit und Tiefe ihn gleichermaßen beeindruckt haben. In dem Istanbul, das Wustmann ihm zeigt, und das ihm verwehrt ist und doch immer Sehnsuchtsort blieb, hat er einmal seine Jugend verbracht, wird politisch aktiv, nach dem Militärputsch 1980 fortgesetzt drangsaliert, verfolgt, mehrfach verhaftet, schließlich zwei Jahre unter schlimmsten Haftbedingungen interniert und gefoltert. Auf abenteuerlichen Wegen kann er schließlich 1991 nach Deutschland fliehen, erhält politisches Asyl und schreibt mehrere Romane, von denen bisher nur einer auf Deutsch erschienen ist: Die Richter des Jüngsten Gerichts (Kitab Verlag, Klagenfurt, 2007, ISBN 978-3-902005-98-4).

Nun hat am 31.07.2013 ein türkisches Gericht gegen den Schriftsteller und Menschenrechtler, der seit 1995 in Köln lebt und arbeitet, einen internationalem Haftbefehl erlassen, weil der nicht vor Gericht erschienen war. Die Strafkammer wollte entscheiden, ob der Prozess erneut aufgerollt werden soll. Seine Anwälte verglichen diesen „absurden Prozess“ mit dem berühmten gleichnamigen Roman von Franz Kafka.

In Abwesenheit klagt man Akhanlı der Beteiligung an einem 1989 verübten Bankraub an, bei dem ein Sicherheitsbeamter zu Tode kam. 2010 wurde er sofort festgenommen, als er seinen sterbenskranken Vater besuchte, vier Monate eingesperrt, ein Jahr später jedoch freigesprochen. Allerdings hat das oberste Kassationsgericht in Ankara im April 2013 Akhanlıs Freispruch zur Neuverhandlung nach Istanbul zurückverwiesen. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslänglich. Dieses Hin und Her ist in der Türkei nicht ganz ungewöhnlich. Erinnert sei an die Schriftstellerin Pinar Selek, die zunächst viermal freigesprochen und dann doch in Istanbul zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde. Rund siebzig AutorInnen und JournalistInnen sitzen derzeit in türkischen Gefängnissen, mit fadenscheinigen Begründungen festgenommen und mit dubiosen Schuldsprüchen abgeurteilt.

Doğan Akhanlı hat immer wieder über den Völkermord an den Armeniern 1915 berichtet, sich für gleiche Rechte aller Volksgruppen in der Türkei eingesetzt und arbeitet bei Recherche International, die sich mit den Genoziden des 20. Jahrhunderts befasst. Mit diesem Engagement hat er sich in der türkischen Politik und in Justizkreisen offensichtlich keine Freunde gemacht. Es geht der Justiz vor allem darum, solche „unliebsamen Kritiker“ auszuschalten, indem man sie kriminalisiert – s. Interview mit Günter Wallraff, der von „reiner Willkürjustiz“ spricht:

http://www.fr-online.de/kultur/guenter-wallraff-zum-fall-akhanli--man-weiss-nicht--was-das-schlimmere-ist-,1472786,23891780,view,asFirstTeaser.html



 



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