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Iva Procházková im Gespräch

mit Katja Schickel

12. Internationales Literaturfestival Berlin 2012

 

 

Wie hat Ihnen das diesjährige Literaturfestival gefallen? Sie sind ja nicht zum ersten Mal hier.

 

 

Ich bin das zweite Mal hier - mit einer ziemlich großen Pause dazwischen. Das erste Mal war ich vor acht Jahren beim Literaturfestival Berlin. Damals war ich vor allem in Schulen, habe mit Kindern gelesen, auf Fragen geantwortet, ein paar Workshops gemacht. Diesmal habe ich nur einen Workshop gemacht, in der Berliner Comenius-Schule. Das lief sehr gut, vor allem was die Vorbereitung vonseiten der Schule anging. Die anderen Veranstaltungen waren alle hier im Theater, also im Festspielhaus. Die Organisation war sehr gut, man hatte sogar die Möglichkeit, andere Veranstaltungen zu besuchen. Ich muss ein großes Lob aussprechen: Die Vorbereitung mit den Kollegen ist wunderbar organisiert, man hat auch viel Zeit mit den Moderatoren. Das ist vor allem wichtig bei den großen Veranstaltungen. Man muss wissen, dass man jemand an der Seite hat, der die Arbeit der Autorinnen und Autoren wirklich kennt oder sich zumindest einen guten Überblick verschafft hat. Und das Gefühl hatte ich immer.

  

Sie sagten auf einem Podium, dass Sie eine genaue Vorstellung von Ihrem Publikum haben, vor allem, was das Alter, aber auch die Nationalität angeht, weil Sie selbst einen tschechischen Hintergrund haben aufgrund Ihrer Wurzeln und einen österreichischen und deutschen aufgrund Ihrer Emigration. Vermutlich gibt es Unterschiede?

 

Natürlich. Die Unterschiede sind zunächst traditioneller Art, weil jedes Land eine andere, eigene Geschichte hat. In dem Bewusstsein einer eigenen Geschichte sind ja auch die Kinder erzogen. Ein neunjähriges deutsches Mädchen aus Berlin, um in der Großstadt zu bleiben, ist anders als eines aus Prag. Das ist klar. Aber ich frage mich immer: Sind diese Unterschiede das wichtigste Kriterium? Es gibt sie, aber ich versuche in meinen Büchern, Workshops und Lesungen die Kinder mit dem anzusprechen, was für mich ohne Unterschiede ist. Ich möchte es nicht Philosophie nennen oder Botschaften, das klingt alles zu hoch – aber ich meine es so. Es gibt ganz klar Dinge, die für uns in Europa gemeinsam sind. Die Kinder begreifen das nicht hauptsächlich mit dem Kopf, aber sie spüren es. Und wenn es mir gelingt, diese Linie in einer Geschichte zu zeigen, dann habe ich die Kinder als meine Leser. Sie können dann ganz wunderbar eine Geschichte weiter entwickeln, was doch sehr wünschenswert ist. Die Kinder sollen sie ja nicht als ein fertiges Ding nehmen, nach dem Motto: Schluss, fertig, ich habe das Buch zu Ende gelesen, jetzt will ich ein anderes Buch. Ich finde wunderbar, wenn man damit spielt. Ich erinnere mich immer wieder daran, dass die Bücher, die ich als Kind gelesen habe, von uns – mir, meiner Schwester und unseren Freundinnen und Freunden auch immer nachgespielt wurden, z. B. Die drei Musketiere. Das Buch haben wir vielleicht fünfmal gelesen und dann auf dem Hof mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft in Kostümen gespielt. Die Situationen waren dadurch kreativ anders. Es war eine neue Ebene. Theater. Und das ist etwas, was ich mir wirklich wünsche, dass die Kinder etwas mit der Literatur machen.

 

Das kommt sicherlich immer noch vor, aber geschieht doch deutlich seltener, weil moderne Kinder doch eher alleine vorm Computer sitzen als draußen zu spielen.

 

Das stimmt. Es ist weniger geworden. Umso besser, wenn sie die Möglichkeiten erhalten, wie z.B. in dieser Comenius-Schule. Wir haben die Geschichte genommen, uns einzelne Situationen ausgedacht und dann weiter entwickelt. Andere Kinder aus der Klasse haben das dann vorgespielt, sodass man immer einen weiteren Schritt sehen konnte. Es ist also möglich, aber es ist seltener geworden, da haben Sie recht. Trotzdem sollte man so etwas nicht aufgeben.

 

Gerade in den Schulen nicht, die müssten viel mehr Freiräume schaffen. - Bei den neueren Büchern, die sich an ältere Kinder bzw. Jugendliche wenden, ist Ihr jeweiliger Zugang recht unterschiedlich. Bei Die Nackten sind es – scheint mir - innere Monologe, vielleicht könnte man es auch Selbstgespräche nennen, mit denen die einzelnen Protagonisten eingeführt und damit auch Identifikationsmuster angeboten werden. Die sind am Anfang sehr mit sich selber beschäfigt, distanziert, auch einsam. Bei anderen Büchern gibt es einen äußeren Rahmen, einmal etwa das Problem von Zeit und Fortschritt in einer Sci Fi-Geschichte oder ein Umzug in die Altstadt von Prag in höchst prekäre Verhältnisse. Wie kommen Sie auf Ihre Themen und wie finden Sie die Formen, mit denen Sie erzählen wollen.

 

Ich habe eine Menge Geschichten im Kopf, aber vor allem viele in meinen Notizbüchern. Es kommt einfach eine Idee, unerwartet; ich muss sie notieren, damit ich sie nicht vergesse. Und sie wartet. Es gibt Themen, die ich nie weiter entwickelt oder verarbeitet habe. Die bleiben einfach im Notizbuch. Wenn ich beispielsweise auf einer Reise bin, zwischen Prag und Berlin, habe ich mein Notizbuch dabei, und wenn ich mich nicht langweilen will und relaxt bin, blättere ich in ihm und lese die älteren Bemerkungen dazu. In meinem Kopf versuche ich, zurück zu dem Tag zu kommen, als die Idee zum ersten Mal auftauchte, mich zu fragen, warum ich bis heute nichts damit gemacht habe. Auf diese Weise habe ich schon ein paar Mal ein älteres Thema, eine ältere Idee plötzlich wieder spannend gefunden und natürlich ganz anders geschrieben, als meinetwegen vor fünf Jahren. Das ist meine Art, wie ich mit Themen arbeite. Sie sind nie vorbei, nie veraltet. Ich bemerke sogar, dass es sehr mächtige Themen gibt, die sich immer wiederholen. Da bin ich keine Ausnahme. Das ist bei vielen Künstlern so, Schriftstellern, aber auch Malern und Musikern: Sie haben etwas Dringendes, was sie nochmal und nochmal auf eine andere Weise bearbeiten müssen. Dann überlege ich, für wen es ist, für welche Zielgruppe. Manchmal sehe ich, es ist ein Thema, das ich wirklich für Erwachsene schreiben will. Auf diese Weise ist jetzt ein Roman entstanden, den ich - mit Unterstützung meiner älteren Tochter - langsam ins Deutsche übersetze, weil ich ihn auch in Deutschland publizieren möchte. Solche Themen müssen dann mit den Mitteln geschrieben werden, die die Zielgruppe verstehen und genießen kann, damit die Geschichte sie wirklich erreicht.

 

Ist die Vorstellung, etwas von vornherein nur für Zehnjährige oder für Fünfzehnjährige zu schreiben, nicht eine zu starre Begrenzung? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist es für Sie jedoch gerade die Möglichkeit, ein weites Feld überhaupt zu bearbeiten.

 

Ich finde das nicht begrenzend. Ich meine nämlich, dass ich Grenzen brauche. Wenn ich mir in meinem Kopf etwas vorstelle, es vorbereite, dann bin ich zu breit, die Vielfalt der Ideen ist maßlos und ich brauche die Grenze, die Maße. Es tut mir einfach gut zu wissen, für wen ich schreibe.

 

Wenn man über Emigration liest, heißt es oft, da musste jemand emigrieren und die Familie ging mit. Das klingt so leicht. Aber da sind doch viele Verluste und Brüche. Sie wurden in Prag geboren, sind aber auf dem Land aufgewachsen, was man übrigens – wie ich finde - Ihren Büchern anmerkt, diese Affinität zum Land. Wie gehen Sie weg? Sie kommen zunächst nach Österreich, dann nach Deutschland. Sie wechseln die Sprache, das Land, leben an anderen Orten, sind abgeschnitten von anderen Familienangehörigen, von Freunden. Wie lebt es sich damit? Und wie greift man das auf? Indem man Literatur macht und Theater?

 

Ich kann das am besten an einer Sache zeigen: In Prag hatten wir immer eine große Bibliothek, zuerst mein Vater und dann ich und mein Mann. Das ist so eine tschechische Sache. Die Leute glauben, in einer Wohnung muss ein großes Regal sein mit vielen Büchern. Das ist so etwas wie eine Stütze. Und ich habe das auch geglaubt. Als wir nach Österreich emigriert sind, konnten wir natürlich nicht viel mitnehmen, um nicht verdächtig zu sein, weil diese Flucht natürlich heimlich war. Die Bücher sind also in Prag geblieben. Und ich habe mir gesagt: Oh, die Bücher werden mir fehlen! In Österreich musste ich zunächst Deutsch lernen, die neue Umgebung erforschen. Ich suchte nach neuen Freunden, auch nach Büchern. Wenn ich welche brauchte, waren es deutschsprachige. Das waren ganz neue Impulse, sprachliche, gedankliche. Später habe ich festgestellt, dass auch Büchereien gut funktionieren, und dieser Hang nach eigenen Büchern und dem Bücherregal auch etwas Künstliches hat. Vielleicht ist es für andere Menschen anders, aber bei mir war es so. Das ist eigentlich eine Brücke zu dem, was ich sagen will: Wenn man so oft umziehen muss, wenn man sehr viel verliert, dann begreift man, dass der Schmerz, Heimweh beispielsweise, die Erfahrung des Verlusts nur deshalb hochkommt, weil man etwas wirklich festhalten will. Wenn man sich erlaubt loszulassen, dann ist man freier. So habe ich es auch mit meinen Themen gemacht. Ich habe mir am Anfang gesagt: Werde ich überhaupt imstande sein, für andere Leute zu schreiben, die eine andere Kultur haben, andere Traditionen usw., und dann habe ich festgestellt, wenn man wirklich loslässt, geht das wunderbar. Wenn man zuhört, was die Leuten sagen, begreift man, welche Probleme sie haben, was sie beschäftigt. Allmählich begreift man sein eigenes neues Leben und das anderer Menschen, alles wird viel deutlicher, die neue Lebenssituation hat klarere Linien, die Botschaften sind viel klarer und einfacher. Dazu kommt noch, dass ich drei Kinder habe, die sind natürlich in den Kindergarten gegangen, in die Schule. Dadurch habe ich die österreichischen, die deutschen Kinder kennengelernt; ich habe mit ihnen gesprochen - das hat sich ganz automatisch und spontan entwickelt. Das Heimweh ist weggegangen und ich habe begriffen, dass ich überall schreiben kann, wenn ich offen bleibe, wenn ich nicht an etwas hänge.

 

Sie sagten auch, dass das Schreiben von Büchern und Theaterstücken immer auch Öffnung war für neuen Lebenssituationen. Als es möglich war, sind Sie wieder zurückgegangen nach Prag.

 

Das war eine familiäre Entscheidung. Vor allem meine jüngste Tochter wollte unbedingt nach Prag. Sie fühlte sich dort gleich sehr wohl. Wir alle bekamen eine Chance, etwas Neues kennenzulernen und zu beginnen. Da ein Teil der Familie weiterhin in Deutschland lebt, sind die Kontakte in beiden Ländern darüber hinaus sehr lebendig.

 

Bio-Bibliographisches

Iva Procházková wurde 1953 in Olomouc/Mähren geboren. Schon früh erfuhr sie, wie politische Wirklichkeit eigene freie Entwicklung behindern kann. Ihr Vater, Jan Procházká, gehörte zu den 'unerwünschten' Autoren des Prager Frühlings, weshalb ihre frühen Prosa- und Theaterstücke nicht publiziert werden durften und sie wiederholt an der Aufnahme eines Studiums gehindert wurde. 1983 flohen Iva Procházková und ihr Mann, der Theaterregisseur Ivan Pokorny, in den Westen, zuerst nach Österreich und dann in die Bundesrepublik Deutschland. Sie lebten in Wien, Konstanz und Bremen. Iva Procházková arbeitete an ihren Kinder- und Jugendbüchern und schrieb Stücke für das Puppentheater, mit dem das Ehepaar auf Tournee ging. Heute lebt Iva Procházková mit ihrer Familie wieder in Prag und arbeitet neben ihrer Tätigkeit als freie Schriftstellerin für das Fernsehen und mit deutschen und tschechischen Bühnen zusammen.
1984 veröffentlichte Iva Procházková das Kinderbuch Der Sommer hat Eselsohren, das gleich auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis kam. Zwei Kinder erleben während der Schulferien spannende Abenteuer, werden richtig gute Freunde und müssen sich hin und wieder auch gegen ungeduldige Erwachsene behaupten. Die Zeit der geheimen Wünsche, für das die Autorin 1989 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt, erzählt aus der Sicht einer Jugendlichen von einem Umzug in die Prager Alstadt zuzeiten des real existierenden Sozialismus, der zugleich das Ende einer Kindheit beschreibt und die undurchsichtige Erwachsenenwelt aufs Korn nimmt. 

In Eulengesang, einem Sci Fi-Jugendroman, geht es um eine Naturkatastrophe im Jahre 2046, die trotz der hoch technisierten und durchorganisierten Welt nicht zu verhindern zu sein scheint, vor allem nicht durch die Persönlichen Computerberater. Die Nackten zeigt die unterschiedlichen Leben und Lebensentwürfe von fünf Jugendlichen, die zunächst nur ihre Unterschiede gelten lassen, sich allmählich aber kennen- und schätzen lernen. Liebe und Sexualität sind das große Thema und die widersprüchlichen Gedanken und überwältigenden Gefühle, die die Protagonisten dabei haben. Nichts wird beschönigt: sensibel erzählt die Autorin von Erschütterung, Hingabe und Leidenschaft, aber auch von Angst und Enttäuschung. Wir treffen uns, wenn alle weg sind erzählt vom Waisenjungen Mojmr Demeter, der vor einer Virusepidemie, die in der Stadt wütet, in die Berge geflüchtet ist und sich um eine alte Frau kümmert. Durch Jessica, eine der wenigen Überlebenden der Katastrophe, lernt er Freundschaft, Zuneigung und Liebe kennen.

Wie in allen Büchern Procházkovás, die unzählige Preise erhielten und in zwölf Sprachen übersetzt sind, geht es um individuellen Mut, Solidarität und Toleranz, allerdings nie plakativ und mit erhobenem pädagogischen Zeigefinger, sondern eingebettet in facettenreiche, stilistisch brillante Geschichten. Auch in ihren Kinderbüchern wendet sie sich gegen Bevormundung, möchte den eigenen kindlichen Blick stärken, was ihr mit ihrer erstaunlichen Fantasie, mit hintersinnigem Humor und leiser Ironie auch immer wieder leicht gelingt. Sie plädiert fürs Ausprobieren, für eine eigene Sicht auf sich selbst, andere Menschen und die Welt. Die Lektüre lohnt sich für Jung und Alt, da Procházková nicht nur die großen und kleinen Personen mit all ihren Nöten und Sehnsüchten Ernst nimmt und profund über sie zu erzählen weiß, sondern auch, weil sie ein Gespür für unterschiedliche Atmosphären und Orte hat, jenseits pittoresker Klischees Landleben schildern und ohne aufgepeppte Bilder Urbanität darstellen kann. Die ausgewählten Schauplätze haben zwar durchaus Lokalkolorit, Städte, Dörfer und Landschaften bezeichnen jedoch exemplarisch das Verhältnis des Individuums zu seiner jeweiligen Umwelt, zeigen die ganze Bannbreite unterschiedlicher Emotionen, die Orte in Menschen auslösen und ihre Erfahrungen, die sie durchaus als trennend empfinden, die aber auch zu Annäherungen führen können.  
 

Kinder- und Jugendbücher

Der Sommer hat Eselsohren, Text: Iva Procházková, Illustration: Svend Otto Sörensen, Übersetzung aus dem Tschechischen: Teresa Sedmidubská, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1984
Die Zeit der geheimen Wünsche, Beltz & Gelberg Verlag, 1988
Wer spinnt denn da?, Thienemanns Verlag, 1991
Mittwoch schmeckt gut, Thienemanns Verlag, 1991
Fünf Minuten vor dem Abendessen, Thienemanns Verlag, 1992
2x9 = Hamster oder Fabian, der Felsenhocker, Arena Verlag, 1994
Marco und das Zauberpferd, Ellermann Verlag, 1994
Eulengesang, Beltz & Gelberg Verlag, 1995
Entführung nach Hause, Ellermann Verlag, 1996
Vinzenz fährt nach Afrika, Ellermann Verlag, 2000
Carolina, Süddeutsche Zeitung, 2002
Elias und die Oma aus dem Ei, Sauerländer Verlag, 2003
Wo bist du, Rhabarber?, Mladá fronta Verlag, 2004
Das Ende eines Talismans, Albatros Verlag, 2006
Der große Weg der kleinen Maus, Albatros Verlag, 2006
Wir treffen uns, wenn alle weg sind, Sauerländer Verlag, Mannheim, 2007
Die Nackten, Sauerländer Verlag, Mannheim, 2008
Orangentage, Sauerländer Verlag, Mannheim, 2012

 

EUROPE NOW - EIN LITERARISCHER REGENSCHIRM

Eine Geschichte für Europa – Was für eine Literatur brauchen Kinder und Jugendliche in Europa?

von Iva Procházková

 

 

Die Mauer. Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen
Übersetzt von Michael Krüger

geb,. 56 S., Hanser Verlag, München 2007, ISBN-13: 9783446208926

 


Kindern, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen in Europa würde ich auf jeden Fall das Buch Die Mauer von Peter Sís zum Lesen, Nachempfinden und Nachdenken empfehlen.

Dieses kleine Werk erzählt – mehr in Bildern als in Worten – ein großes Stück unserer Geschichte. Ich sage unserer, weil ich genau wie Peter Sís hinter der Mauer aufgewachsen bin. Oder wie man damals sagte: hinter dem Eisernen Vorhang. Dieser war einerseits dicht und bombenfest, andererseits konnte man durch ihn doch ziemlich viel hören und sehen. Keine genauen Formen oder eindeutigen Informationen und klaren Klänge, nein, wir nahmen eher Abdrücke und Echos, kleine Scherben, unvollständige und deformierte Bausteine des Lebens »drüben« wahr. Wir haben nichts über den Westen gewusst, aber wir haben uns alles vorgestellt“, erzählt Peter Sís, „und zwar viel schöner, als es in Wirklichkeit war.“ 

 

Er erinnert sich an kleine, aber sehr wichtige Einzelheiten unseres damaligen Alltags, zum Beispiel an die Kleidung der Teenager. Das, was man in normalen Geschäften kaufen konnte, war untragbar, man musste es modifizieren – den Ausschnitt vergrößern, die Farbe ändern, den Rock kürzen, die Hosenbeine breiter machen. Wenn ein Mädchen nicht lächerlich sein wollte, musste es mit viel Fantasie und Geduld (und meistens mit der Hilfe von Oma) eigene Kleider und Mäntel nähen, Pullover stricken, sich BHs aus der Welt hinter dem Vorhang schicken lassen. Jungs dagegen klebten höhere Absätze unter ihre Schuhe und bastelten sich Sonnenbrillen und männlichen Schmuck. Sie machten zu Hause aus ihren akustischen Gitarren elektrische, spielten damit Musik der Beatles und Stones, sangen irgendwo im Hinterhof oder in einer Garage falsch abgehörte Texte – und oft wurden sie deswegen angezeigt und als Verbreiter der kapitalistischen Propaganda von der Stasi verhört.
Das Leben unter dem totalitären Regime war nicht farbenfroh und so sind auch die Zeichnungen im Buch meist grau-rot oder schwarz-weiß. Sie vermitteln Sehnsucht und Angst, zwei der in jener Zeit am häufigsten auftretenden Gefühle. Ein junger Mensch hinter der Mauer träumte viel, denn im Wachzustand war die Welt hässlich, eng und gefährlich. Unsere Träume waren allerdings auch gefährlich, weil sie uns die Realität noch fremder und verhasster machten. Der immer anwesende Traum von uns allen hieß Freiheit, aber wie sah diese Freiheit aus? Für den einen war sie Coca-Cola, Bluejeans und fetzige Rockkonzerte, ein anderer verband Freiheit mit dem Reisen, wieder ein anderer mit der Möglichkeit, frei zu sprechen, zu lesen, nach eigener Wahl zu studieren, zu denken und zu glauben.
Die Mauer ist ein unterhaltsames, kreatives und humorvolles Buch über ernste, traurige und in mancher Hinsicht sogar tragische Dinge. Ein Buch, das den jungen Europäern von heute vor Augen führt, wie es war, bevor sie zur Welt kamen, und wie es hinter vielen Mauern unserer Welt immer noch ist.


Peter Sís, * 1949 in Brno / Brünn. ist ein amerikanischer Bilderbuchkünstler und Trickfilmzeichner tschechischer Herkunft und studierte von 1968 bis 1974 an der Hochschule für Angewandte Kunst in Prag. Während des Prager Frühlings 1968 hatte er ein eigenes Beat- und Rockmusik-Radioprogramm und fertigte Illustrationen für eine politische Studentenzeitschrift. 1976 entstanden erste Buchillustrationen zu Märchen der Brüder Grimm. 1977 folgte ein Studienaufenthalt am Londoner Royal College of Art. 1984 entschloss sich Sís, nicht in seine Heimat zurückzukehren und in den USA zu bleiben. Im gleichen Jahr entstand der Plakatentwurf für Amadeus von Miloš Forman

 

Werke (Auswahl in deutscher Übersetzung)

Folge deinem Traum. Die Geschichte des Christoph Columbus, 1992

Der kleine Wal und das Meer, 1993

Komodo. Wo die kleinen Drachen wohnen, 1994Die drei goldenen Schlüssel, 1995
Der Sternenbote (Bilderbuch über Galileo Galilei), 1996

Die unglaubliche Geschichte des Jan Welzl, 1996

 

Tibet. Das Geheimnis der roten Schachtel, 1998

Rhino Regenbogen, 2000

Der Baum des Lebens. Ein Bilderbuch über das Leben von Charles Darwin, Naturforscher, Geologe und Denker, 2004

Die Mauer. Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen, 2007

 

© Text zu Peter Sís: Iva Procházková, ilb 2012 

 

 

 



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