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Ein Stuhl bleibt frei für Jafar Panahi

von Katja Schickel 

  

Die Jury der 61. Filmfestspiele - Berlinale 2011 ist ohne Jafar Panahi zusammengetreten, den iranischen Filmemacher, der nach dem Willen des Regimes sechs Jahre ins Gefängnis muss und 20 Jahre lang nicht arbeiten, nicht öffentlich reden und reisen darf. Das iranische Revolutionstribunal ging so weit - nicht wegen eines fertigen Films, der den Machthabern mißfallen hätte, sondern lediglich wegen der Möglichkeit, einen zu planen und gar zu drehen*. Auch sein Freund Mohammad Rasoulof, ebenfalls preisgekrönter Filmregisseur, wurde verurteilt.

 

Das Festival solidarisiert sich mit Jafar Panahi, der auf der Berlinale 2006 den Silbernen Bären für Offside erhielt, mit einem demonstrativen leeren Stuhl, Vorführungen seiner Filme in allen Reihen und mit Diskussionen. Es unterstützt darüber hinaus öffentliche Proteste aller Berlinale-Beteiligten, der Filmschaffenden wie des Publikums. Es will diesen Anschlag auf die individuelle Freiheit Einzelner, die - wie in diesem Fall - auch eine der Kunst ist und insbesondere diese massiv einschränken will, nicht stillschweigend hinnehmen. Letztes Jahr hatte weltweiter Protest beim Festival in Cannes geholfen, Jafar Panahi aus der Untersuchungshaft, in der er damals war, zu befreien*. Nun ist die Lage deutlich ernster und bedrohlicher - Zeichen der Solidarität müssen intensiviert werden, wie der Berlinale-Leiter Dieter Kosslick betonte. ks

 

OFFENER BRIEF

 

Jafar Panahi hat aus Teheran einen Brief geschrieben, der zur Eröffnung der Berlinale von der Jury-Präsidentin Isabella Rossellini verlesen wurde:

 

In der Welt eines Filmemachers fließen Traum und Realität ineinander. Der Filmemacher nutzt die Wirklichkeit als Inspirationsquelle, er zeichnet sie in den Farben seiner Vorstellungskraft. Damit schafft er einen Film, der seine Hoffnungen und Träume in die sichtbare Welt trägt.

Die Wirklichkeit ist, dass mir ohne Prozess seit fünf Jahren das Filmemachen untersagt wird. Jetzt wurde ich offiziell verurteilt und darf auch in den nächsten 20 Jahren keine Filme realisieren. Trotzdem werde ich in meiner Vorstellung weiterhin meine Träume in Filme übersetzen. Als sozialkritischer Filmemacher muss ich mich damit abfinden, die alltäglichen Probleme und Sorgen meines Volkes nicht mehr zeigen zu können. Aber ich werde nicht aufhören, davon zu träumen, dass es in 20 Jahren keines dieser Probleme mehr geben wird und ich dann, wenn ich wieder die Möglichkeit dazu habe, Filme über den Frieden und den Wohlstand in meinem Land machen werde.

Die Wirklichkeit ist, dass mir für 20 Jahre das Denken und Schreiben untersagt wurde. Aber sie können mich nicht davon abhalten zu träumen, dass in 20 Jahren die Verfolgung und die Einschüchterung durch Freiheit und freies Denken ersetzt sein wird.

Mir wurde für 20 Jahre der Blick auf die Welt entzogen. Aber ich hoffe, nach meiner Freilassung eine Welt ohne geografische, ethnische und ideologische Grenzen zu bereisen. Eine Welt, in der die Menschen ungeachtet ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen in Frieden miteinander leben.

Ich wurde zu 20 Jahren Stillschweigen verdammt. Aber in meinen Träumen schreie ich nach einer Zeit, in der wir uns gegenseitig tolerieren und unsere jeweiligen Meinungen respektieren, in der wir füreinander leben können.

Letztendlich bedeutet die Wirklichkeit meiner Verurteilung, dass ich sechs Jahre im Gefängnis verbringen muss. In den nächsten sechs Jahren werde ich in der Hoffnung leben, dass meine Träume Realität werden. Ich wünsche mir, dass meine Regiegefährten in jedem Winkel der Welt in dieser Zeit so großartige Filme schaffen, dass ich, wenn ich das Gefängnis verlasse, begeistert sein werde in jener Welt weiterzuleben, die sie in ihren Werken erträumt haben.

Ab jetzt und für die nächsten 20 Jahre werde ich zum Schweigen gezwungen. Ich werde gezwungen, nicht sehen zu können, ich werde gezwungen, nicht denken zu können. Ich werde gezwungen, keine Filme machen zu können.

 

 

 

Ich stelle mich der Wirklichkeit der Gefangenschaft und der Häscher. Ich werde nach den Manifestationen meiner Träume in Euren Filmen Ausschau halten: In der Hoffnung, dort das zu finden, was mir genommen wurde.

 

Teheran, im Februar 2011

 

 

 

 

© images.hollywood.com

 

 

 

 

* Anlässlich der Verhaftung Jafar Panahis 2010 (!) sendete die ARD in Titel Thesen Temperamente ein Porträt des Regisseurs, hier in gekürzter Fassung:

  

 

 

19.02.2011

 

Der haushohe Favorit von Publikum und Filmkritik hat auch den GOLDENEN BÄREN gewonnen:

Asghar Farhadi - Jodaeiye Nadar az Simin/Nadar und Simin - Eine Trennung, der iranische Wettbewerbsfilm erhielt den Preis zurecht!

Auch die Silbernen Bären für weibliche und männliche Hauptdarsteller gingen - erstmals in der Geschichte des Festivals - nicht an eine Einzeldarstellung, sondern jeweils an die Schauspielerinnen und Schauspieler dieses Films insgesamt.

Einige unserer Favoriten aus den diversen Reihen waren:

El Premio/The Prize - von Paula Markovitch

Tambien la lluvia/Even The Rain - von Icíar Bollaín

Im Himmel. Unter der Erde - Der jüdische Friedhof Weißensee - von Britta Wauer

Über uns das All - von Jan Schomburg

Lo Roim Alaich/Man sieht es ihr nicht an - von Michal Aviad

Traumfabrik Kabul - von Sebastian Heidinger

On The Ice von Andrew Okpeaha MacLean

Dom/The House - von Zuzana Liová

Die Jungs vom Bahnhof Zoo - von Rosa von Praunheim

Ausente/Absent - von Marco Berger

Wer wenn nicht wir - von Andres Veiel (preiswürdig vor allem: Lena Lauzemis)

Mein bester Feind/My Best Enemy - von Wolfgang Murnberger

Tomboy - von Céline Sciamma

A torinói ló - von Béla Tarr

und: Pina - von Wim Wenders (3D und sowieso außer Konkurrenz)

Manche dieser Filme haben einen Preis bekommen, s. www.berlinale.de, andere kommen demnächst in die Kinos.

Empfehlenswert weiterhin: Die Ingmar Bergman-Ausstellung im Kinomuseum Berlin am Potsdamer Platz.

 

 

 

 

© Šejla Kamerič, Red Carpet (2011), Courtesy Galerie Tanja Wagner Berlin

 

02/2011

 



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