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Ján Rozner - Über Macht und Ohnmacht

von Renata Sako-Hoess


In der Erinnerungsliteratur ist das Leben in der realsozialistischen Tschechoslowakei nach der Wende von 1989 mannigfach kritisch beschrieben worden. Das Zeugnis des Slowaken Ján Rozner (1922–2006) ragt durch seine Dringlichkeit und Dichte heraus und wurde zum Sensationserfolg.


In jungen Jahren, als ambitionierter Autodidakt, der aus rassistischen Gründen nicht zur Hochschule zugelassen worden war, wünschte sich Ján Rozner sehnlichst, mit einem theoretischen Werk über Strukturen des neuen Mediums Film den Coup seiner Autorenkarriere zu landen. Auf dem Gymnasium war er vom einzigen bedeutenden slowakischen Strukturalisten, Mikulás Bakos, unterrichtet worden, und allein das vorgenommene Thema zeugte schon damals von hohem Anspruch. Das Werk schaffte es bis in einen angesehenen Prager Verlag, doch die Banalität des Schicksals durchkreuzte alle Hoffnungen: Der Lektor verschlampte das Manuskript, von dem es keine Kopie gab.

Im Herbst 2009, drei Jahre nach seinem Tod, überschlugen sich die Stimmen des slowakischen und selbst des tschechischen Feuilletons in ihrem Lob über den Band Sedem dní do pohrebu (Sieben Tage bis zum Begräbnis) des inzwischen wieder unbekannten Rozner, den dessen zweite Frau postum herausgebracht hatte. Es war die Rede von sieben Tagen, die das Leben des Lesers auf immer berühren würden, man pries das Buch als epochales Werk der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ja selbst Philip Roth und Thomas Bernhard wurden als Vergleichsgrößen angeführt. 2010 folgte ein Sammelband mit kürzeren Texten, Noc po fronte (Die Nacht nach Kriegsende), sowie 2011 gleichsam als Abschluss einer Trilogie das schmale Bändchen Výlet na Devín (Ausflug zum Devín). 

 

           


 

 

 


 


 

Das Mosaik einer Epoche

Nach der Lektüre der drei Bände wird klar, dass Jan Rozners autobiografisches Schreiben – im Gegensatz zu seinem beruflichen als Kritiker von Literatur, Film und Theater sowie als Mitarbeiter der Literatur-Akademie – ein jahrelanger Prozess war, wo hier einmal eine erinnerte Episode notiert, dort Mosaiksteinchen der Kindheit und Jugend bewahrt wurden. Für die Entstehung der Texte werden lange Zeiträume angegeben, der Autor fertigte zuweilen mehrere Varianten. Den kohärentesten, wenn auch immer mäandernden Textkorpus bilden die Sieben Tage bis zum Begräbnis, das Glanzstück unter den Büchern. Ein persönlicher Schicksalsschlag sowie die sich zuspitzenden gesellschaftlichen Bedingungen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 hatten den Impuls zu diesem Werk geliefert. Niedergeschrieben wurde es von 1974 bis 1986.

Rozner lässt uns darin bisweilen erschreckend ehrlich teilhaben an den sieben Tagen zwischen dem Tod seiner Ehefrau am 21. Dezember 1972 und ihrem Begräbnis. In diesem Zeitrahmen entfaltet er eine Fülle von Reflexionen, die sich an minuziös genaue Beschreibungen praktischer Erledigungen rund um die Begräbnisvorbereitungen knüpfen. Durch den simplen Kniff, in die grammatikalische dritte Person zu wechseln, erschafft der Autor ein episches Subjekt, das seine persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen zur romanhaften Erzählung formt, ohne dass sie Authentizität einbüßen.

 

Zora Jesenská war eine der bedeutendsten slowakischen Übersetzerinnen, angesehen und hoch dekoriert – bis sie sich nach 1968 gegen das kommunistische Regime stellte. Dann wurde sie, zusammen mit Rozner, der auch ihr Arbeitspartner für das Englische war (Shakespeare sei hier als gewichtigster Autor genannt), mundtot gemacht und aus allen Nachschlagewerken und Bibliothekskarteien gestrichen. All dies strömt einem aus einer Prosa zu, die sich einerseits zur umfassenden Würdigung des Menschen und der Übersetzerin fügt, andererseits eine innige Liebeserklärung an die dreizehn Jahre ältere Ehefrau darstellt. Die strebsam-bürgerliche Jesenská, die einer angesehenen, damals im besten Sinn nationalbewussten Familie entstammte, hatte Rozner Halt und Richtung gegeben; besonders nachdem das Publikationsverbot beide zu einer häuslichen Existenz marginalisiert hatte. Während seine Frau sich still darin einzurichten wusste, traf es Rozners ohnehin labiles Selbstwertgefühl gravierend – als Endvierziger hätte er sich auf dem Höhepunkt seines aktiven Lebens befinden sollen, wurde aber zu Untätigkeit verurteilt. Die negative Klimax der damaligen Epoche ist schließlich ihr Tod.


Bei seinem minutiösen, doch nie langatmigen Nachdenken legt Rozner seine Alkoholsucht ebenso schonungslos offen wie seine vergeblichen Versuche, sie zu bekämpfen. Auf der konkreten wie auf der reflexiven Ebene tritt eine Reihe von Personen auf, die zur kulturellen Elite der sechziger und siebziger Jahre zählt. Neben den Schriftstellern Ladislav Mňačko (s. Foto) und Peter Karvaš sind es Kritiker wie Jozef Bžoch und Agneša Kalinová, deren Lebensläufen Aufmerksamkeit gezollt wird. Als hohes moralisches Vorbild tritt der Universitätsprofessor Jozef Felix hervor: Bereits einmal aus politischen Gründen aus Amt und Würden entlassen, stimmt er ohne Zögern zu, die Totenrede auf die Verfemte zu halten – mit aus heutiger Sicht irrwitzig anmutenden Konsequenzen. Sedem dní do pohrebu enthüllt die Mechanismen einer Gesellschaft im zivilisatorischen Rückwärtsgang, so ist das Buch denn auch als Dokumentation über die unmenschlichen Absurditäten eines totalitären Systems zu lesen.


Slowake – oder Europäer?

Dem kleinen Literatur-Land Slowakei ist diese Sensation gewiss zu gönnen. Dennoch, wie slowakisch ist der Sohn eines mährischen Juden und einer aus Liberec stammenden Sudetendeutschen, der in Bratislava geboren wurde, zeitlebens zweisprachig war und 1974 nach Deutschland emigrierte, eigentlich? Die Slowakei gab ihm eher ein multiethnisches und mehrsprachiges Erbe mit, das sie selbst nicht übermäßig schätzt und pflegt. Ján Rozner ist völlig unpathetisch als europäischer Autor zu handeln, auch wenn sich Menschen mit solch 'hybrider' Herkunft und Biografie oft als randständig, jedoch nicht unbedingt als Außenseiter empfinden. Aber ist dies nicht ohnehin die beste Position des luziden Beobachters, der Zeugnis ablegt?


© Mit freundlicher Zustimmung der Autorin und der Neuen Zürcher Zeitung. Der Text erschien erstmals am 07.07.2012 in der NZZ, http://www.nzz.ch

 

© Fotos: Marečin PT; hvorecky.sk; lojzojago.eu; martinus.sk.


Deutsche Übersetzungen liegen zurzeit leider weder von Zora Jesenská noch von Jan Rozner vor, die beide u.a. aus dem Englischen und Deutschen (z.B. Büchner) übersetzten.  

02.04.2013

 

 

 

 



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