LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com




Über Gewinne und Verluste – und wer den Preis bezahlt

von Katja Schickel



 

John Lanchester, Kapital
Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkel
682 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, Klett-Cotta Verlag
€ 24,95; ISBN: 978-3-608-93985-9

 

 


 




Im Dezember 2007 ist die Welt für den erfolgreichen Investment-Banker Roger Yount, dessen kaufsüchtige Ehefrau Arabella und ihre beiden Kinder noch in Ordnung. Man scheffelt Geld, legt es an und bringt „etwas davon unter die Leute“, d.h. die Gattin geht shoppen, gemeinsam kauft man teure Immobilien und richtet sich komfortabel-luxuriös in ihnen ein. Ein satter Bonus zum Jahresende, immerhin eine Million Pfund, wird erwartet. Das gilt als normal in solchen Kreisen. Ein Leben zwischen Verschwendung und kleinkrämerischer Kostenaufrechnung. Im November 2008 ist Roger gefeuert, sein Arbeitgeber bankrott, und das Ehepaar bangt um den Erhalt seines Lebenswandels und sozialen Status, obwohl es noch über genügend Reichtum verfügt, aber eben nicht genug für´s eigene Image. Wir haben Krise. Finanzkrise. Lehman-Pleite. Da wird Arroganz gerne mal mit Charme verwechselt. Teilhaben am großen Kuchen wollen auch die Immigranten: polnische Handwerker, die so viel besser sind als die englischen (einige auch als Liebhaber), ebenso wie der junge Senegalese, der als Fußballstar plötzlich Millionen verdienen kann. Pakistanische Kioskbesitzer, die es mit früheren Immobilienkäufen mittlerweile zu einigem Wohlstand gebracht haben, geraten unter Terrorverdacht. Einem politischen Flüchtling aus Zimbabwe droht die Abschiebung, einer alten, sterbenden Frau der Rauswurf aus ihrer Wohnung. Die Zweiundachtzigjährige kann den Wandel der Straße mit zwei Drittel ihres Lebens bezeugen. Die Performance- und Graffiti-Kunst ihres Enkels, die vehementer Ausdruck seines Protests gegen dieses System sein soll, wird von der betuchten Kulturschickeria sofort vereinnahmt und in barer Münze bezahlt, obwohl oder gerade weil nach dem jungen Künstler polizeilich gefahndet wird. Es geht um den Erhalt von Wohlstand oder persönlichen Niedergang, um Gewinne und Verluste und wer die Zeche zahlt.

Im Original heißt der Roman doppeldeutig Capital: Es geht um Geld, durchaus im Sinne von Karl Marx um dessen Anhäufung und Veräußerung zum Zwecke weiterer Bereicherung, und um eine Hauptstadt des Geldes: London, das eine seiner Hochburgen ist. In der City of London, dem Finanzdistrikt, stehen die spiegelverglasten, architektonisch-spektakulären Kathedralen des Kapitals. Hier dreht sich alles – auch in Gesprächen und Beziehungen - um Geld: so viel wie möglich davon zu kriegen, schließlich hängen Erfolg und Misserfolg im Leben von ihm ab, selbst die Luft riecht, wie es im Buch heißt, „nach Hass und Verzweiflung“ und ist vielleicht deshalb so „schwer zu atmen“.

Wir erleben die Finanzkrise zwischen 2007 und 2008 in einer Straße, der Pepys Road, benannt nach dem Londoner Samuel Pepys, der einmal notierte: „Es ist schön, zu sehen, was Geld alles anzurichten vermag.“ Lanchester führt uns - mit viel englischem Understatement und Sinn für Details – durch diese Straße, zu ihren Häusern, von deren Geschichte und Wirkung er stilistisch brillant erzählt, zu deren Bewohnern – hinter die Fassaden, mitten hinein in das Schicksal von Menschen, ihren materiellen Aufstieg oder ihre soziale Deklassierung. Er beschreibt auf höchst kunstvolle Weise, was Subsumtion aller Lebensbereiche unter das Kapital (Marx) wirklich meint, welche Brisanz für jedes Individuum und für eine Gemeinschaft in dieser Entwicklung steckt.

Pepys Road ist eine von vielen Straßen dieser Erde, in der gentrification 'passiert'. Die Armen und die untere Mittelschicht werden allmählich verdrängt, weil sie die steigenden Mieten bzw. Immobilienpreise nicht mehr zahlen können. Neureiche mit enormen Gehältern (gerne dinkies = double income no kid) gestalten nun die Gegend rund um ihre sanierten Domizile nach je spezifischem Gusto und erhöhen damit nebenbei auch die Preislagen aller anderen Konsumgüter, zu denen mittlerweile auch profane Lebensmittel gehören. Die Vertreibung anderer, nicht so vermögender Leute wird billigend in Kauf genommen oder sogar massiv selbst betrieben, indem man sie zunächst zu Außenseitern und Fremden in ihrem eigenen Umfeld stempelt, dann zu Schmarotzern und Habenichtsen degradiert. Finanzielle und verbale Ausgrenzung gehen gerne Hand in Hand. Lanchesters Kunst besteht darin, in dieser Straße ein gesellschaftliches Panorama lebendig werden zu lassen, seine Gegebenheiten und Widersprüche darzustellen, mit vielerlei Erlebnissen zu füllen, die Geschichte der Straße eines Arbeiterbezirks bis zu der eines schicken, hochpreisigen Viertels mit Multikulti-Touch nachzuerzählen, ohne jemals seine Figuren an billige Prinzipienreiterei oder political correctness zu verraten. Sie sind als Konsumenten, als Gewinner-Typen und Konkurrenten natürlich auch Handlanger des Kapitalismus, aber Lanchester zeigt viel lieber, was sie antreibt, wie sie geworden sind, was sie jetzt sind. Naive Glückssucher und Glücksritter, Kontrollfreaks und Saubermänner, Kriegsgewinnler und Verlierer, Spieler und Abzocker – Erfolg und Misserfolg sind immer auch Definitionssache. Damit gelingt ihm vor allem, die unterschiedlichsten Lebensgeschichten zusammenzuführen ohne sie je künstlich zu befrieden. Um Harmonie geht es schon lange nicht mehr in der Pepys Road, spätestens seit alle Eigenheimbesitzer der Straße eine bedrohliche Botschaft im Briefkasten vorfanden: „Wir wollen, was ihr habt.“

Dies ist die Kampfansage von Leuten, die nicht mehr tatenlos zusehen wollen, wie andere ihr gutes Leben bedenkenlos genießen und sie selbst in täglicher Ungewissheit und zunehmender Armut leben müssen. Einer hat Fotos gemacht, wir sind ihm von Haus zu Haus gefolgt und haben so etwas über die Eigentümer erfahren. Zu jedem Foto gibt es Episoden, die gewissermaßen ein Eigen- und ein Fremdbild zeigen, von der gesellschaftlichen Stellung der jeweiligen Person berichten, von ihren Wünschen und Sichtweisen, vor allem aber von der Angst, die sie seit der Krise empfindet, und von der Bedrohung, die die Nachricht im Briefkasten hinterlassen hat. In den Geschichten der Protagonisten wird offenbar, wie verstrickt sie individuell in Vorteilsnahme und Geschäftemacherei sind und wie sich durch das Streben nach Kapital (mal bloß ein wenig, mal nach immer mehr) ein Auseinanderklaffen der Gesellschaft scheinbar naturwüchsig ergibt, soziale Übereinkünfte obsolet werden, aus einem halbwegs funktionierenden Miteinander offensive Gegnerschaft wird oder zumindest Gleichgültigkeit und mitleidsloses Nebeneinander.

So paradox es klingt: Lanchester hat ein sehr unterhaltsames Lehrstück der Macht des Kapitals über die Menschen geschrieben. Mit scheinbar leichter Hand entwirft er ein Gesellschaftsbild, das einen das Gruseln lehren kann und uns dennoch bekannt ist. Es ist auf keinem ideologischen Reißbrett und in Schwarz-Weiß entstanden, sondern mit Lust an Genauigkeit, die manchmal überzeichnet, manchmal fast untertrieben wirkt, und so eine Spannung erzeugt, die für Erschrecken, einiges befreiendes Lachen zwischendurch und viel Erkenntnis (Wiedererkennen!?) sorgt. Der Kampf um Vormachtstellung, die Unschuldsmienen und Bekundungen eigener Rechtschaffenheit der Macher und Mitläufer haben bekanntlich durchaus lächerliche Züge. Darüber hinaus ergibt die kluge Auswahl seiner Charaktere, die nie ins Klischee abrutschen, weil sie nicht eindimensional und blutleer sind, sondern eigene Widerhaken haben, eine interessante Mischung, die man gerne im Auge behält, jedenfalls 680 Seiten lang. Ein grandioses und gewinnbringendes (!) Lesevergnügen.

 



Leseprobe

 

1

An einem regnerischen Tag Anfang Dezember saß eine zweiundachtzigjährige Frau in ihrem Wohnzimmer in der Pepys Road Nummer 42 und schaute durch ihre Spitzenvorhänge auf die Straße hinaus. Ihr Name war Petunia Howe, und sie warteteauf den Lieferwagen von Tesco. Petunia war der älteste Mensch, der in der Pepys Road lebte, und sie war auch der letzte Mensch, der in der Straße geboren worden war und jetzt noch immer dort wohnte. Aber ihre Verbindung mit diesem Ort ging viel weiter zurück. Ihr Großvater hatte das Haus sozusagen vom Reißbrett weg gekauft, noch bevor es gebaut worden war. Er hatte als Rechtsanwaltsgehilfe in einer Kanzlei in Lincoln’s Inn gearbeitet und war privat wie politisch sehr konservativ gewesen. Und wie bei Rechtsanwaltsgehilfen so üblich, hatte er seinen Beruf an seinen Sohn vererbt, und als der nur Töchter bekam, weiter an den Mann einer seiner Enkelinnen. Und das war Petunias Mann gewesen, der vor fünf Jahren gestorben war.

Petunia sah sich selbst nicht gerade als jemanden, der ein besonders aufregendes Leben geführt hatte. Sie war eher der Ansicht, dass es ziemlich übersichtlich und belanglos gewesen war. Immerhin hatte sie zwei Drittel der gesamten Geschichte der Pepys Road miterlebt und eine ganze Menge dabei gesehen. Sie hatte mehr bemerkt, als sie je zugeben würde, und hatte versucht, sowenig wie möglich über die Dinge zu urteilen. Sie fand, dass Albert genug Urteile für sie beide zusammen gefällt hatte. Die einzige  Lücke in ihrem Leben in der Pepys Road war entstanden, als sie Anfang des Zweiten Weltkriegs evakuiert worden war und von 1940 bis 1942 auf einem Bauernhof in Suffolk leben musste. So hatte man verhindern wollen, dass sie der Bombardierung ausgesetzt war. Das war eine Zeit, an die sie auch heute noch lieber nicht dachte, nicht etwa weil jemand grausam zu ihr gewesen wäre – der Bauer und seine Frau waren so freundlich gewesen wie möglich und wie es ihnen die ununterbrochene schwere körperliche Arbeit, aus der ihr Leben bestand, erlaubt hatte –, sondern einfach, weil sie ihre Eltern vermisste und sich nach dem behaglichen und vertrauten Familienleben sehnte, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und pünktlich um sechs der Tee serviert wurde. Die Ironie der Geschichte war, dass sie die Bombardierung dann doch mitbekam. Es war 1944, um vier Uhr morgens, als eine V2-Rakete gerade mal zehn Häuser weiter einschlug. Petunia konnte sich noch gut daran erinnern, dass die Explosion weniger ein Geräusch als vielmehr eine körperliche Empfindung gewesen war. Sie wurde mit unwiderstehlicher Kraft aus dem Bett gestoßen, so als hätte ein neben ihr liegender Liebhaber sie nicht mehr darin dulden mögen, ohne ihr aber Übles zu wollen. Zehn Menschen starben in dieser Nacht. Das Begräbnis, das in der großen Kirche am Park abgehalten wurde, war ganz fürchterlich. Begräbnisse sollten eigentlich besser an regnerischen Tagen stattfinden, wenn man den Himmel nicht sehen kann. An diesem Tag aber war das Wetter hell, klar und frisch gewesen, und noch Monate später musste Petunia immer wieder daran denken. Ein Lastwagen kam die Straße entlanggefahren, wurde langsamer und hielt vor ihrem Haus. Der Dieselmotor war so laut, dass er die Fenster zum Klirren brachte. Vielleicht war das endlich ihre Lieferung? Aber dann legte der Lastwagen einen anderen Gang ein und verschwand die Straße hinunter, wobei er mit zweimaligem lauten Gepolter – einmal hoch, einmal runter – über die Straßenschwellen fuhr. Die hatten eigentlich dazu dienen sollen, den Verkehr in der Straße zu reduzieren, aber ihr einziger Erfolg schien zu sein, dass es noch mehr Krach gab, und auch mehr Abgase, denn die Autos wurden vor den Schwellen langsamer und beschleunigten danach umso mehr. Seit man sie eingebaut hatte, war kein einziger Tag vergangen, an dem Albert sich nicht über sie beschwert hätte: buchstäblich kein einziger, von dem Tag an, als die Straße wieder für den Verkehr geöffnet wurde, bis zu dem Tag, an dem er ganz plötzlich starb.

Petunia hörte, wie der Lastwagen weiter unten in der Straße hielt. Eine Lieferung – wohl keine Lebensmittel, und auch nicht für sie. Das war etwas, das ihr in diesen Tagen hauptsächlich an der Straße auffiel: die Lieferungen. Sie wurden immer mehr, während die Straße immer vornehmer wurde. Und hier war sie nun und wartete selbst auf eine Lieferung. Es hatte mal einen Begriff dafür gegeben: das »Fuhrkutschergewerbe«. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter davon gesprochen hatte. Irgendwie dachte man dabei an Männer mit Zylinderhüten und an Pferdegespanne. Jetzt gehöre ich auch zum Fuhrkutschergewerbe, dachte Petunia. Und das in meinem Alter. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Die Lieferung, das waren ihre Lebensmittel, und das Ganze war eine Idee ihrer Tochter Mary gewesen, die in Essex wohnte. Petunia hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten mit dem Einkaufen gehabt, keine großen Probleme, aber genug, um ein wenig ängstlich zu werden auf dem Weg zur Hauptstraße und zurück, vor allem, wenn sie etwas mehr zu tragen hatte. Also hatte Mary einen Lieferservice für sie organisiert. Einmal in der Woche sollten alle großen und sperrigen Einkäufe direkt ins Haus geliefert werden, und zwar immer mittwochs zwischen zehn und zwölf. Petunia hätte es natürlich viel lieber gehabt, wenn Mary oder Marys Sohns Graham, der in London wohnte, selbst zu ihr gekommen wäre. Dann hätten sie zusammen einkaufen gehen können, aber davon war nie die Rede gewesen. Jetzt hörte sie wieder einen Lastwagen, diesmal war es ein noch lauteres Poltern. Er fuhr vorbei, aber nicht weit, und sie hörte, wie er ein paar Meter die Straße hinunter parkte. Durch das Fenster sah sie das Firmenzeichen: Tesco! Ein Mann, der eine große Kiste trug, kam zu ihrem Vorgarten und öffnete die Gartentür geschickt mit der Hüfte. Petunia stand auf, sich vorsichtig mit beiden Armen abstützend, und hielt einen Moment lang inne, um sich zu sammeln. Dann öffnete sie die Haustür. »Guten Morgen! Alles okay bei Ihnen? Es ist alles so, wie Sie’s bestellt haben. Soll ich es nach hinten bringen? Draußen verteilt jemand Knöllchen, aber ich habe ihm gesagt, er soll das mal schön bleiben lassen.«

Der nette Tesco-Mann trug ihre Einkäufe bis in die Küche und stellte die Sachen auf den Tisch. Mit zunehmendem Alter fiel es Petunia immer mehr auf, wenn andere Leute ihre Kraft und Gesundheit demonstrierten, als wäre es nichts Besonderes. So wie jetzt dieser junge Mann, der mit solcher Leichtigkeit die schwere Kiste auf den Tisch hievte und dann jeweils vier Tüten auf einmal herausnahm. Seine Schultern und Arme wurden noch breiter, während er die Tüten hochhob. Er sah dabei riesengroß aus, wie ein Eisbär beim Bodybuilding. Petunia war es normalerweise nicht peinlich, wenn ihre Sachen ein wenig alt wirkten, aber wegen ihrer Küche schämte sie sich schon ein bisschen. Wenn Linoleum einmal anfing, schäbig auszusehen, dann aber auch so richtig, selbst wenn es sauber war. Aber dem Tesco-Mann schien das nicht weiter aufzufallen. Er war sehr höflich. Wenn er die Sorte Angestellter gewesen wäre, denen man ein Trinkgeld gibt, dann hätte Petunia ihm ordentlich was zugesteckt, aber als Mary den Lieferservice beauftragt hatte, hatte sie ihr extra gesagt, dass man Supermarktlieferanten kein Trinkgeld gibt. Sie hatte dabei ziemlich genervt geklungen, so als würde sie ihre Mutter gut genug kennen, um zu wissen, was sie jetzt schon wieder dachte.

»Danke«, sagte Petunia. Während sie die Tür hinter ihm schloss, sah sie, dass auf der Fußmatte eine Postkarte lag. Sie bückte sich – ganz vorsichtig – und hob sie auf. Vorne auf der Karte war ein Foto ihres Hauses, Pepys Road 42. Sie drehte die Karte um. Es gab keine Unterschrift, nur eine gedruckte Nachricht. Da stand: »Wir wollen was Ihr habt.« Darüber musste Petunia lächeln. Warum in aller Welt sollte irgendjemand das haben wollen, was sie hatte?


2

Der Besitzer des Hauses gegenüber von Petunia Howe, Pepys Road 51, befand sich an seinem Arbeitsplatz in der City. Roger Yount saß am Schreibtisch in seiner Bank, Pinker Lloyd, und rechnete. Er versuchte herauszufinden, ob sein Bonus dieses Jahr die Summe von einer Million Pfund erreichen würde. Roger war vierzig Jahre alt. Es war ihm in seinem Leben mehr oder minder alles zugeflogen. Er war etwa eins neunzig groß – gerade klein genug, um nicht das Bedürfnis zu haben, seine Größe durch eine gebückte Haltung zu kaschieren. Es gelang ihm sogar, durch seinen hohen Wuchs eine gewisse Leichtigkeit auszustrahlen, so als hätte die Schwerkraft beim Wachsen auf ihn weniger eingewirkt als auf andere, gewöhnlichere Leute. Die sich daraus ergebende Selbstzufriedenheit schien so wohlverdient zu sein, und er hatte offensichtlich ein so geringes Bedürfnis, den Leuten sein Glück unter die Nase zu reiben, dass sogar seine Arroganz charmant wirkte. Hinzu kam, dass Roger durchaus attraktiv war, wenn auch auf eine gewisse unpersönliche Art und Weise, und dass er über gute Manieren verfügte. Er war auf eine gute Schule (Harrow) und eine gute Universität (Durham) gegangen und hatte einen guten Job (in der Londoner Finanzwelt). Sein Timing war perfekt gewesen (kurz nach dem großen Crash und kurz bevor der Finanzsektor von all den Mathematikgenies und Glücksrittern überschwemmt wurde). Er hätte perfekt in das alte System gepasst, als die Leute noch spät zur Arbeit kamen und früh wieder gingen und in der Zwischenzeit eine ausgedehnte Mittagspause genossen; als alles noch davon abhing, wer man war und wen man kannte und wie gut man sich anpassen konnte, und als die höchste Auszeichnung darin bestand, dazuzugehören und als ein guter Teamplayer zu gelten. Er passte aber auch hervorragend in das neue System, in dem vermeintlich alles leistungsorientiert war und in dem die Ideologie hieß: Arbeite hart, zocke hart und mache keine Gefangenen. Man musste mindestens von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends im Büro sein, es war vollkommen egal, mit welchem Akzent man sprach oder wo man herkam, solange man unter Beweis stellte, dass man der Sache gewachsen war und Geld für seinen Arbeitgeber verdienen konnte. Roger hatte einen genialen Instinkt dafür, wann es gerade passte, die Menschen im neuen Finanzsystem an das alte zu erinnern, ohne das neue System dadurch in Frage zu stellen. Er schaffte es zu signalisieren, dass er problemlos mit dem alten System zurechtgekommen wäre, gleichzeitig aber das gegenwärtige System ganz wunderbar fand. Sogar seine Kleidung – exquisit gearbeitete Anzüge im Stil eines Mannes von Welt, angefertigt von einem Schneider, der sein Atelier nur wenige Meter von der Savile Row entfernt hatte – schien zu sagen, dass er verstand, worum es ging. (Bei der Auswahl hatte ihm seine Frau Arabella geholfen.) Er war ein beliebter Boss, der nie die Geduld verlor und wusste, wann man die Dinge einfach nur laufen lassen musste. Das war ein nicht zu unterschätzendes Talent. Ein Talent, das in einem guten Jahr schon mal eine Million Pfund wert sein dürfte, sollte man meinen … Aber es war nicht so ganz einfach für Roger, die Höhe seines Bonusses auszurechnen. Das lag daran, dass es bei seinem Arbeitgeber, einer relativ kleinen Investmentbank, zahlreiche Gesichtspunkte gab, die man in Betracht ziehen musste: die Größe des Firmenprofits im Ganzen; den Anteil, den seine Abteilung daran gehabt hatte, die für Transaktionen im Devisenmarkt zuständig war; die Frage, wie die Leistung seiner Abteilung im Vergleich mit der Konkurrenz abschnitt; und eine Reihe anderer Faktoren, von denen die meisten nicht gerade transparent waren und viele von dem subjektiven Urteil abhingen, das man über seine Leistung als Manager fällte. Es hatte ganz den Anschein, als wollte man diesen Entscheidungsprozess mit Absicht verschleiern. Verantwortlich für die Entscheidung war der Vergütungsausschuss, auch Politbüro genannt. Und das Ergebnis all dieser verschiedenen Faktoren war, dass niemand je genau wissen konnte, welche Höhe sein Bonus haben würde. Auf Rogers Schreibtisch standen drei Computerbildschirme. Einer davon zeichnete die Aktivitäten der Abteilung in Echtzeit nach, ein zweiter war Rogers eigener PC, den er für E-Mails, Instant Messaging, Videokonferenzen und seinen Terminkalender benutzte, und ein dritter spiegelte wider, welchen Verlauf der Devisenhandel seiner Abteilung während des gesamten Jahres genommen hatte. Demzufolge hatten sie einen Gewinn von ungefähr 75000000 £ gemacht, bei einem Umsatz von bisher 625000000 £. Das war nicht schlecht, fand Roger, ohne überheblich klingen zu wollen. Wenn man sich die Zahlen so anschaute, dann wäre es nur gerecht, wenn man ihm einen Bonus von einer Million zugestehen würde. Aber es war ein seltsames Jahr am Finanzmarkt gewesen, seit dem Zusammenbruch von Northern Rock vor einigen Monaten. Im Grunde genommen hatte sich Northern Rock mit ihrem eigenen Geschäftsmodell selbst zerstört. Ihr Kredit war versiegt, die Bank of England hatte geschlafen, und die Börsianer waren in Panik geraten. Seitdem waren die Kredite teurer geworden, und es herrschte eine allgemeine Unruhe am Markt. Roger fand das durchaus in Ordnung, denn im Handel mit Devisen führte Unruhe zu Schwankungen, und Schwankungen führten zu Profit. Es hatte am Devisenmarkt einige ziemlich einleuchtende und relativ sichere Wetten gegen Hochzinswährungen gegeben, zum Beispiel gegen den argentinischen Peso; einige Devisenabteilungen von Konkurrenzfirmen hatten dabei höllisch abkassiert. Deswegen war die fehlende Transparenz ein Problem. Das Politbüro maß ihn womöglich an dem Gewinnergebnis irgendeines Senkrechtstarters, eines idiotischen halbwüchsigen Draufgängers, der ein paar verrückte, nicht abgesicherte Wetten abgezogen hatte. Mit einigen Zahlen konnte man eben unmöglich konkurrieren, wenn man nicht die Art von Risiko einging, die seine Bank für inakzeptabel hielt. Aber leider funktionierte das Ganze so, dass solche Risiken sofort viel akzeptabler wurden, wenn sie eine spektakuläre Geldsumme einbrachten. Ein weiteres mögliches Problem war, dass die Bank behaupten könnte, in diesem Jahr weniger Gewinn erzielt zu haben, so dass die Boni generell unter den Erwartungen bleiben würden. Es gab tatsächlich Gerüchte, dass Pinker Lloyd einige ziemlich hohe Verluste in der Abteilung für Hypothekenanleihen hatte verkraften müssen. Und dann war da noch der weithin publik gemachte Schlag ins Kontor im Zusammenhang mit dem schweizerischen Tochterunternehmen gewesen, das in einem Übernahmekampf den Kürzeren gezogen und dessen Aktie infolgedessen einen Kurssturz von 30 Prozent erfahren hatte. Das Politbüro könnte behaupten, »es sind harte Zeiten angebrochen«, »der Verlust muss gleichmäßig aufgeteilt werden«, »wir spenden dieses Mal alle ein wenig Blut« und (mit einem Zwinkern) »nächstes Jahr wird alles besser«. Das wäre natürlich eine ziemlich große Scheiße. Roger rotierte in seinem Drehsessel, damit er aus dem Fenster in Richtung Canary Wharf gucken konnte. Es hatte aufgehört zu regnen, und die früh untergehende Dezembersonne tauchte die Hochhäuser, die normalerweise so massiv und vollkommen unätherisch wirkten, einen Augenblick lang in ein klares goldenes Licht, so dass sie in Flammen zu stehen schienen. Es war halb vier, und er würde noch mindestens vier Stunden arbeiten müssen. Zu dieser Jahreszeit verließ er das Haus, bevor es hell wurde, und kam heim, lange nachdem es dunkel geworden war. Das war jedoch für Roger so selbstverständlich geworden, dass er schon lange keinen Gedanken mehr daran verschwendet hatte. Seiner Erfahrung nach waren diejenigen, die sich über die Arbeitszeiten in der City beschwerten, entweder im Begriff zu kündigen oder kurz davor, gefeuert zu werden. Er drehte sich wieder zurück, denn lieber wandte er sich dem Inneren des Gebäudes zu, wo sich das »Parkett« befand, wie es von allen genannt wurde, in Erinnerung an die alten Zeiten des Börsenparketts, wo die Börsianer schrien, kämpften und mit ihren Papieren herumfuchtelten. Man hätte sich jedoch kaum einen größeren Unterschied zu dieser Tradition vorstellen können als die Abteilung für Devisenhandel. Vierzig Angestellte saßen an ihren Bildschirmen, murmelten etwas in ihre Headsets oder zu ihren Nachbarn, schauten aber im Allgemeinen nur selten von dem stetigen Datenfluss in ihren Computern auf. Rogers Büro hatte Wände aus Glas, aber es gab Jalousien, die er schließen konnte, wenn er etwas Privatsphäre brauchte. Er hatte auch ein ganz neues Spielzeug, einen Apparat, der weißes Rauschen erzeugte. Wenn man ihn einschaltete, war es unmöglich, außerhalb des Raumes etwas mitzuhören. Alle Abteilungsleiter hatten so einen Apparat. Er war echt abgefahren. Meistens jedoch zog Roger es vor, die Tür zu seinem Büro offen zu lassen, damit er etwas von der Geschäftigkeit im Nebenraum mitbekam. Er wusste aus Erfahrung, dass es gefährlich war, sich von seiner Abteilung zu isolieren. Je mehr man darüber Bescheid wusste, was unter seinen Untergebenen vor sich ging, desto weniger bestand die Gefahr böser Überraschungen. Diese Lektion hatte er unter anderem durch die Art und Weise gelernt, wie er an seinen Job gekommen war. Er war stellvertretender Leiter genau dieser Abteilung gewesen, als die Bank plötzlich stichprobenartige Drogentests machte. Vier seiner Kollegen waren getestet worden, und alle vier waren durchgefallen. Roger war keineswegs überrascht gewesen, denn der Test fand an einem Montag statt, und er wusste nur zu gut, dass sich alle jungen Börsianer am Wochenende vollkommen zudröhnten. (Zwei von ihnen hatten Kokain genommen, einer Ecstasy, und einer hatte Gras geraucht – was Roger etwas bedenklich gefunden hatte, denn in seinen Augen war Marihuana eine Verlierer-Droge). Die vier waren streng verwarnt worden; ihr Boss aber wurde gefeuert. Roger hätte ihm sagen können, was vor sich ging, wenn er gefragt worden wäre, aber das war nicht geschehen. Der Boss hatte Roger die ganze Arbeit aufgehalst, war furchtbar arrogant und durch und durch ein Bankier der alten Schule gewesen. Deswegen hatte es Roger, der sich in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht die Mühe machte, auf hinterhältige oder intrigante Methoden zurückzugreifen, nicht leid getan, ihn gehen zu sehen. Im Grunde genommen war Roger persönlich nicht unbedingt ehrgeizig. Am wichtigsten war ihm, dass das Leben nicht allzu viele Forderungen an ihn stellte. Er hatte sich unter anderem deshalb in Arabella verliebt und sie geheiratet, weil sie die Begabung hatte, das Leben vollkommen mühelos aussehen zu lassen. Das war in Rogers Augen eine nicht zu verachtende Fähigkeit. Er wollte Erfolg haben, und er wollte, dass man sah, dass er Erfolg hatte, und vor allem wollte er seinen Millionenbonus. Er wollte 1000000 £, weil ihm diese Summe bisher noch niemand ausgezahlt hatte, weil er fand, dass sie ihm zustand, und weil sie ein Beweis für seinen Wert als Mann war. Aber er wollte sie auch, weil er dringend Geld brauchte. Die Summe von 1000000 £ war ursprünglich ein vages, nicht ganz ernst gemeintes Ziel gewesen. Sehr bald aber wurde sie zur unverzichtbaren Notwendigkeit, eine Summe, die er brauchte, um die Rechnungen zu bezahlen und seine Finanzen wieder auf ein festes Fundament zu stellen. Sein Grundgehalt von 150000 £ reichte gerade mal als »Kleidergeld« – wie Arabella es nannte –, denn es deckte nicht einmal seine beiden Hypotheken ab. Das Haus in der Pepys Road war ein Doppelhaus und hatte 2500000 £ gekostet, was er damals für das oberste Ende des Immobilienmarktes gehalten hatte, auch wenn in der Zwischenzeit die Preise noch wesentlich höher gestiegen waren. Sie hatten das Dachgeschoss umgebaut, den Keller ausgehoben, alle Leitungen und Rohre neu verlegt, weil das ohnehin ein Aufwasch war, hatten die Wände im Erdgeschoss durchbrochen, einen Wintergarten angebaut, den seitlichen Anbau erweitert und von oben bis unten alles renoviert (Joshuas Zimmer war voller Cowboy-Motive und das von Conrad voller Astronauten, obwohl er in letzter Zeit Wikinger besser zu finden schien; Arabella dachte bereits über eine Neugestaltung nach). Sie hatten zwei Badezimmer zusätzlich eingebaut und das Hauptbadezimmer erst in ein En-Suite-Bad und dann zu einem Wetroom-Bad umgemodelt, weil letztere gerade schwer in Mode waren. Dann hatten sie es wieder zu einem normalen (wenn auch sehr luxuriösen) Badezimmer zurückgebaut, weil Wetroom-Bäder irgendwie vulgär waren und weil sich die Feuchtigkeit bis ins Schlafzimmer ausbreitete und Arabella fand, dass das ihren Bronchien schadete. Roger hatte ein Büro und Arabella ein Ankleidezimmer. Die Küche war ursprünglich von Smallbone of Devizes, aber Arabella war davon bald nicht mehr so angetan gewesen und hatte stattdessen eine neue deutsche Küche bestellt, mit einer ganz erstaunlichen Dunstabzugshaube und einem riesigen amerikanischen Kühlschrank. Die Wohnung für das Kindermädchen hatte zwei separate Räume und eine eigene Küche, weil Arabella es wichtig fand, dass man das Gefühl hatte, voneinander abgetrennt zu sein, für den Fall, dass sie – wer auch immer sie sein würde – ihren Freund zu Besuch hatte. Es gab darin einen Rauchmelder, der so sensibel war, dass er losging, sobald man sich nur eine Zigarette anzündete. Letztendlich wollten sie dann aber doch kein Kindermädchen, das mit ihnen im Haus wohnte und andauernd unter ihren Füßen herumlief; und einen Untermieter zu haben war total uncool. Das machten nur Leute, die in den Siebzigern steckengeblieben waren. Also stand die Wohnung leer. Das Wohnzimmer war komplett verkabelt (mit CAT-5-Kabel natürlich, wie überall im Haus), und mit dem Bang-&-Olufsen-System konnte man Musik im ganzen Haus hören (mit Ausnahme der Kinderzimmer). Der Fernseher hatte einen Sechzig-Zoll-Plasmabildschirm und gegenüber an der Wand hing eines von Damien Hirsts Spot Paintings, das Arabella in einem Jahr gekauft hatte, als Roger einen recht ordentlichen Bonus erhalten hatte. Betrachtete man den Hirst von einem ästhetischen, kunsthistorischen, inneneinrichtungsrelevanten und psychologischen Standpunkt, so kam man zu dem wohlüberlegten Schluss – fand Roger –, dass er 47000 £ plus Mehrwertsteuer gekostet hatte. Die Möbel nicht eingerechnet, hatten die Younts, inklusive der Rechnungen des Architekten, des Gutachters und der Bauarbeiter, für die Umbauten an ihrem Haus ungefähr 650000 £ bezahlt. Das alte Pfarrhaus in Minchinhampton in Wiltshire war auch nicht ganz billig gewesen. Es war ein wunderschönes Gebäude aus dem Jahr 1780. Leider wurde der Eindruck von Leichtigkeit und ausgewogenen Proportionen, der durch den georgianischen Baustil entstand, etwas dadurch geschmälert, dass die Innenräume eher klein waren und die Fenster erstaunlich wenig Licht durchließen. Ihr Gebot von 900000 £ war zunächst akzeptiert worden, dann aber wurden sie trotz mündlicher Zusage mit 975000 £cüberboten und waren daraufhin gezwungen, ihrerseits ein noch höheres Gebot einzureichen. Das Haus wurde ihnen schließlich für lockere 1000000 £ zugeschlagen. Die Renovierung und generelle Verschönerungsarbeiten hatten 250000 £ verschlungen. Ein Teil davon war für den Rechtsanwalt draufgegangen, der die Rücknahme der vollkommen sinnlosen Denkmalschutzauflagen erwirkte. Das winzige Cottage am unteren Ende des Gartens hatte ebenfalls zum Verkauf gestanden, und sie fanden es absolut notwendig, es dazuzukaufen, denn wenn man Freunde zu Besuch hatte, wurde das Ganze doch etwas eng. Die Verkäufer, ein schwules Pärchen, das ebenfalls zwei Häuser hatte und von dem einer ein Baugutachter war, wussten nur zu gut, dass sie die Younts in der Zange hatten, und weil die Preise überall in die Höhe schossen, hatten sie für das winzige Cottage 400000 £ aus ihnen herausgequetscht. Wie sich dann herausstellte, mussten sie weitere 100000 £ zur Behebung bautechnischer Probleme hinblättern. Minchinhampton war absolut entzückend – die englische Landschaft ist eben einfach unschlagbar. Da konnte jeder nur zustimmen. Aber immer die Sommerferien dort zu verbringen war dann doch ein wenig schäbig, fand Arabella. Es war ja eigentlich eher ein Wochenendhaus. Also verreisten sie im Sommer zwei Wochen lang woandershin, nahmen ein paar Freunde mit und luden jedes zweite Jahr entweder Rogers oder Arabellas Eltern ein, um eine der zwei Wochen mit ihnen zu verbringen. Der marktübliche Preis für die Art Villa, die sie sich für ihre Ferien vorstellten, lag bei 10 000 £ die Woche. Geflogen wurde natürlich Business Class. Wozu hatte man denn schließlich Geld, fand Roger, wenn nicht dafür – gesetzt den Fall, man wäre gezwungen, es in einem Punkt zusammenzufassen, was natürlich unmöglich war, aber was, wenn doch –, dass man nie wieder mit den anderen Losern in der Billigklasse fliegen musste. In zwei guten Bonusjahren hatten sie einen Privatjet gemietet, ein Komfort, den man schwerlich wieder missen wollte, wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte, nicht für seine Koffer anstehen zu müssen … Oft verreisten sie auch noch ein zweites Mal im Jahr, manchmal um Weihnachten herum – aber Gott sei Dank nicht dieses Jahr, dachte Roger –, meistens allerdings Mitte Februar oder während der Osterferien. Der genaue Zeitraum hing von den Schulferien der Westminster Under School ab, auf die Conrad ging und die geradezu fanatisch darauf achtete, dass man sein Kind nur während der offiziellen Ferien aus der Schule nahm, ein wenig zu fanatisch, wie Roger fand, da die Kinder, um die es sich handelte, gerade mal fünf Jahre alt waren, aber dafür zahlte man eben 20000 £ Schulgeld im Jahr. Auch andere Kosten summierten sich, wenn man einmal anfing, darüber nachzudenken. Pilar, das Kindermädchen, kostete 20000 £ im Jahr netto – oder eher 35000 £ brutto, wenn man die ganze verdammte Lohnsteuer dazu zählte. Sheila, das Wochenend-Kindermädchen, bekam weitere 200 £ pro Wochenende, was sich auf ungefähr 9000 £ summierte (obwohl sie sie in bar bezahlten und in den Ferien gar nicht – es sei denn, sie kam mit, was recht oft der Fall war, oder die Agentur vermittelte ihnen jemand anderen). Arabellas BMW M3 »fürs Einkaufen« hatte 55000 £ gekostet, und der Lexus S400, das Familienauto, das eigentlich nur vom Kindermädchen benutzt wurde, um die Kinder zurcSchule oder zu Spielnachmittagen zu fahren, 75000 £. Roger hattecdarüber hinaus noch einen Mercedes E500, den ihm sein Büro zur Verfügung gestellt hatte und für den er nur die Kraftfahrzeugsteuer bezahlte, die sich auf ungefähr 10000 £ im Jahr belief. Er benutzte das Auto jedoch so gut wie nie, weil er es demonstrativ vorzog, mit der U-Bahn zu fahren. Das war einigermaßen erträglich; er musste das Haus um Viertel vor sieben verlassen und kam um acht Uhr abends wieder heim. Weitere Posten waren 2000 £ im Monat für Kleidung, ungefähr dieselbe Summe für die anfallenden Betriebskosten (auf beide Häuser aufgeteilt), eine Steuernachzahlung von ungefähr 250000 £ vom letzten Jahr, Rentenbeiträge »in mindestens sechsstelliger Höhe« – wie sich sein Steuerberater ausgedrückt hatte –, 10000 £ für ihre alljährliche Sommerparty und dann die unglaublich hohen Summen, die das Leben in London kostete – Restaurants, Schuhe, Parkgebühren, Kinokarten, Gärtner. Man hatte das Gefühl, dass das Geld jedes Mal, wenn man irgendwo hinging oder irgendetwas tat, nur so aus einem heraus schmolz. Das alles machte Roger nichts aus, er war durchaus bereit, das Spiel mitzuspielen. Es bedeutete jedoch, dass er, wenn er dieses Jahr nicht einen Bonus von einer Million Pfund bekam, durchaus in Gefahr geriet, bankrott zu gehen.


3

Es war später Nachmittag. Roger saß auf einem der Sofas in seinem Büro, gegenüber hatte auf der einen Seite der Mann Platz genommen, der ihm mehr als jeder andere dabei helfen konnte, seinen Millionenbonus zu verdienen, und auf der anderen Seite der Mann, dem definitiv die wichtigste Rolle bei der Entscheidung zufiel, ob er ihn tatsächlich bekam. Ersterer war sein Stellvertreter Mark. Er war noch nicht ganz dreißig, mehr als zehn Jahre jünger als Roger und hatte von all der Arbeit in Innenräumen und vor Computerbildschirmen eine ganz blasse Gesichtsfarbe. Mark hatte die Angewohnheit, sich ununterbrochen zu bewegen, aber so, dass man es fast nicht mitbekam. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, fasste an seine Armbanduhr, prüfte den Inhalt seiner Hosentaschen oder machte kleine Zuckungen mit seinen Gesichtsmuskeln, als wollte er den Sitz seiner Brille korrigieren. Das Ganze hatte eine ähnliche Wirkung wie die Angewohnheit mancher Leute, in Gesprächen andauernd den Vornamen der Person zu benutzen, mit der sie sich gerade unterhielten. Man konnte das jahrelang mitmachen, ohne dass es einem auffiel, aber wenn man es einmal gemerkt hatte, war es fast unmöglich, sich davon nicht ablenken zu lassen – genauer gesagt war es fast unmöglich, nicht das Gefühl zu bekommen, dass dieses Verhalten einzig und allein darauf abzielte, einen in den Wahnsinn zu treiben. Genau das war es, was Marks ewige Zappelei in Roger auslöste. Im Moment spielte er gerade mit seinem Montblanc-Kugelschreiber herum. In vieler Hinsicht war Mark der perfekte Stellvertreter. Er arbeitete hart, machte nie einen Fehler, war nicht allzu offensichtlich an Rogers Job interessiert, und wenn man mal von seinem ununterbrochenen Herumgezappel absah, schien er nie aus der Fassung zu geraten. Manchmal entstand der vage Eindruck, dass er die Dinge ein bisschen zu fest unter Kontrolle hatte, und er war die Art Mensch, bei der man ein heimliches Laster vermutete. Hätte er sich als pädophil oder als Bondage-Freak herausgestellt, oder wäre unter seinen Bodendielen eine zerstückelte Leiche aufgetaucht, dann wäre Roger zwar überrascht gewesen, aber nicht allzu überrascht. Doch hätte es ihn eindeutig erstaunt, wenn er gewusst hätte, was Mark tatsächlich über ihn dachte und was für ein starkes und persönliches Interesse sein Stellvertreter an seinem Privatleben hatte – wo Roger wohnte, wo er zur Schule gegangen war, wie seine Kinder hießen und wann sie Geburtstag hatten, wofür seine Frau Geld ausgab und wie er seine Freizeit verbrachte. Hätte Roger das gewusst, hätte ihn das vollkommen aus der Fassung gebracht, aber er hatte davon keine Ahnung, und deshalb war das auch nicht der Grund, warum Mark Roger verunsicherte. Es lag vielmehr daran, dass Roger zu einer Zeit zu Pinker Lloyd gekommen war, als es im Finanzgeschäft noch mehr um persönliche Beziehungen und weniger um Mathematik ging. Er war in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gewesen und vorangekommen, doch es ließ sich nicht mehr leugnen, dass er mit den grundlegenden Veränderungen, die im Wesen seiner Arbeit vor sich gegangen waren, nicht in jeder Hinsicht Schritt gehalten hatte. Der Devisenhandel basierte auf der Handhabung unendlich komplizierter mathematischer Formeln, die der Bank subtile und lukrative Positionierungsstrategien erlaubten. Im Klartext bedeutete dies, dass die Bank Wetten auf beiden Seiten eines Handelsgeschäfts gleichzeitig abschließen konnte. Solange nicht etwas vollkommen Unvorhergesehenes geschah – etwas außerhalb der Parameter und Prognosen, die in die Wetten eingebaut waren – und solange die Algorithmen stimmten, hatte man eine absolute Gewinngarantie. Es gehörte zu den Gesetzen der Branche, dass man kein Geld verdienen konnte, ohne Risiken einzugehen, aber dank der Wunder der modernen Finanzinstrumente konnte man dieses Risiko fast gänzlich ausschalten. Und natürlich tat die Bank alles nur irgend Mögliche, um sich selbst zu helfen. Ein Teil des Handels war algorithmisch, was hieß, dass seine Basis rein mathematischer Natur war und er so konfiguriert wurde, dass er von der Eigendynamik der Preisentwicklung profitierte: Wenn die Preise sich in eine bestimmte Richtung bewegten, dann war es mehr als wahrscheinlich, dass sie am nächsten Tag dasselbe tun würden. Also benutzten manche der Händler in der Abteilung eine Software, mit Hilfe derer man aus genau diesem Phänomen Profit schlagen konnte. Ein Teil der Handelsgeschäfte bestand aus dem sogenannten Flash Trading, bei dem man seinen Profit aus dem Bruchteil einer Sekunde schlug, der zwischen dem Plazieren eines Gebots an den Märkten und der tatsächlichen Auftragsausführung lag. Wieder ein anderer Teil des Handels zog seine Informationen aus Datenbanken, in denen gespeichert war, was Kunden in der Vergangenheit bezahlt hatten, und benutzte diese Daten, um in Echtzeit vorherzusagen, was sie in der Gegenwart bezahlen würden, damit die Bank ein Preisangebot machen konnte, das der Kunde akzeptieren würde, das aber gleichzeitig einen Gewinn für Pinker Lloyd garantierte. All das war schön und gut, und Roger konnte das Ganze im Wesentlichen sehr wohl nachvollziehen – aber das war nicht dasselbe wie die mathematischen Prinzipien selbst zu verstehen. Das ging mittlerweile weit über seine Fähigkeiten hinaus. Mark hingegen verstand diese Prinzipien. Er hatte seine Promotion in Mathematik abgebrochen, um für Pinker Lloyd zu arbeiten. Roger war nicht gerade begeistert davon, dass er einen nicht mehr ganz so sicheren Stand hatte und dass er nicht mehr in der Lage war, bis ins kleinste Detail hinein zu erklären, was genau bei den Handelsgeschäften vor sich ging, für die seine Abteilung zuständig war. Aber andererseits war auch sonst kaum jemand dazu in der Lage. Das lag einfach in der Natur der Arbeit, die derzeit am Finanzmarkt üblich war.

»Kann ich noch einen weiteren Punkt ansprechen?«, fragte Mark, während er den ersten Stapel mit Zahlenmaterial, den er mitgebracht hatte, auf den Tisch legte und eine weitere Akte in die Hand nahm. »Ich habe hier noch ein paar Vorschläge für diese Sache mit der neuen Software. Ich dachte, Sie wollten sich das vielleicht mal anschauen?«

Mark hob zum Ende seines Satzes hin die Stimme, wodurch das, was er sagte, fast zur Frage wurde, aber eben nicht ganz. Er hielt die Akte so in die Höhe, dass der dritte Mann im Raum Gelegenheit hatte, einen Blick darauf zu werfen, falls er das wollte.

Dieser Mann war Rogers höchster Vorgesetzter, Lothar Billinghoffer. Lothar war fünfundvierzig Jahre alt und kam aus Deutschland. Vor ein paar Jahren hatte man ihn von Euro Paribas abgeworben. Alle Firmen haben einen gewissen Stil, was das persönliche Auftreten anbetrifft. Pinker Lloyds Stil war ruhig und gelassen, und niemand verkörperte das so perfekt wie der deutsche Vorstandsvorsitzende. Er sah unglaublich fit und gesund aus für einen Mann, der zwölf bis vierzehn Stunden am Tag arbeitete, auch wenn er, wenn man dicht vor ihm stand, älter wirkte als von Weitem. Lothar war ein fanatischer Anhänger aller Outdoor-Sportarten, er verbrachte seine Wochenenden mit Wanderungen in den Bergen oder fuhr auf Skiern an ihnen herab, oder er hängte sich im Trapez über die Bordwand einer Jacht. Sein Gesicht war oft von der Sonne oder vom Wind ganz rot, und seine Augen hatten vom ständigen Zusammenkneifen lauter kleine Fältchen. Lothar und Mark wirkten, wenn sie nebeneinander standen, wie eine Farbpalette für Männergesichter: Hier haben wir, was passiert, wenn man einen Orientierungslauf durch die Black Mountains macht, und hier können Sie sehen, was dabei herauskommt, wenn man nie freiwillig von seinem Computerbildschirm aufschaut. Normalerweise war Lothar bei solchen Besprechungen nicht dabei. Dass er einfach mal bei seinen Leuten vorbeischaute, war eine neue Angewohnheit von ihm. Er hatte irgendein Buch über »dekonstruierte« Managementmethoden gelesen, aber da niemand weniger dekonstruiert war als Lothar, hatte er einen genauen Plan. Der sah so aus, dass er eine halbe Stunde pro Woche damit verbrachte, nach einem angeblichen Zufallsprinzip durch das Gebäude zu laufen, sich mit Leuten zu unterhalten und an Besprechungen teilzunehmen. So kam es auch, dass er nun »ganz zufällig« bei Rogers täglicher Besprechung mit seinem Stellvertreter anwesend war. Man hätte meinen können, es würde Roger nervös machen, in Gegenwart Lothars über Software-Probleme zu sprechen. Wie jeder in der Finanzwelt wusste, war alles, was mit neuer Software zu tun hat, garantiert ein absoluter Albtraum. Aber Mark trat nie mit einem Problem an Roger heran, für das er nicht entweder bereits eine Lösung oder wenigstens den Ansatz einer Lösung hatte. Seine Abteilung arbeitete mit der I T-Abteilung und einem externen Unternehmen zusammen, um ein neues, maßgeschneidertes Computerprogramm zu erstellen, das die Datenanzeige auf den Bildschirmen der Händler optimieren sollte. Im Idealfall würde ein solches Programm ein Maximum an Informationen mit einem Minimum an Datengewirr kombinieren und die größtmögliche Anpassung an die persönlichen Bedürfnisse der einzelnen Händler erlauben (denn jeder von ihnen hatte seine eigene Vorstellung davon, wie sein Bildschirm auszusehen hatte). Darüber hinaus sollte das Ganze auch noch so schnell wie möglich erfassbar sein. Roger war nicht allzu sehr an dieser Sache interessiert, aber das Gleiche konnte man eigentlich über den größten Teil seiner Arbeit sagen. Er war jedoch immer bereit dazu, in seiner umgänglichen, ausgeglichenen Art irgendeine Meinung zu vertreten. Das schien aber in diesem Fall nicht nötig zu sein. Marks Tonfall implizierte, dass er wusste, wie beschäftigt Roger war, dass es sich nicht um ein dringendes Problem handelte und es vollkommen in Ordnung wäre, wenn Roger es vorzog, auf eine neue, verbesserte Version der Software zu warten, bevor er sich dazu herabließ, einen Blick darauf zu werfen. Er ließ also deutlich durchscheinen, dass seine Frage eigentlich pro forma war. Aber sie durfte natürlich nicht zu pro forma wirken, denn dann hätte es so ausgesehen, als würde er auf Rogers Meinung nichts geben. Was selbstverständlich niemals, auf gar keinen Fall, den Tatsachen entsprach. All dies gehörte zu den Gründen, warum Mark ein perfekter Stellvertreter war, so perfekt, dass es Roger fast unheimlich wurde. Lothar machte keine Anstalten, die Akte in die Hand zu nehmen. Einen Moment lang dachte Roger, es wäre ein gutes Beispiel für das Vertrauen, das er in seinen Stellvertreter hatte – und daher ein Beweis für seine Versiertheit im Dekonstruierten Management –, wenn er keinen Blick auf die Unterlagen werfen würde. Aber dann folgte er plötzlich einer winzigen blitzartigen Regung seines Instinkts und tat das Gegenteil.

»Schauen wir doch mal rein«, sagte Roger. Mark legte seinem Vorgesetzten ein paar Screenshots vor. Und tatsächlich, die Screenshots wirkten eine Spur chaotisch und überfüllt. Auf einem von ihnen waren acht verschiedene Diagramme zu sehen. Roger und sein Stellvertreter blickten einander an. Keiner von ihnen sah zu Lothar hinüber, der in Marks Fall der Vorgesetzte seines Vorgesetzten war.

»Nein«, sagte Roger. »Immer noch zu viel.«

Mark senkte leicht den Kopf. Weil er gleichzeitig an seinem Kuli herumspielte, wirkte das Ganze, als würde er in einer Geste der Selbsterniedrigung die Hände ringen.

»Ich lasse es zurückgehen, mit dem Hinweis, dass Sie noch nicht zufrieden waren.« Er nickte und verließ das Büro rückwärts in Richtung des Parketts.

»Gut«, sagte Lothar. Das war eines der wenigen Wörter, bei denen sein deutscher Akzent ganz schwach zum Vorschein kam. Roger stand auf, streckte sich zu seiner vollen Größe und ging in Richtung der Tür, die Mark beim Hinausgehen hinter sich geschlossen hatte. Er öffnete die Jalousien mit einem Knopfdruck und schaute nach draußen, wo seine Kollegen in den verschiedensten Körperhaltungen auf ihren Stühlen saßen. Manche beugten sich nah an den Bildschirm heran, andere saßen zusammen gekrümmt oder nach hinten gekippt, wieder andere waren aufgestanden und gingen hin und her, während sie in ihre Headsets sprachen. Die Sonne war untergegangen, was die Lichter in dem zweiten Canary Wharf Tower noch heller erscheinen ließ. Die einzigen Leute, die aus dem Fenster schauten, telefonierten gerade; sie kauften oder verkauften. Ein paar seiner Kollegen nickten und grinsten Mark an, während er an ihnen vorbeiging. Roger erwischte sich dabei, wie er einen Augenblick lang an seine Million Pfund dachte. Dann riss er sich zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lothar zu.

»Das sind gute Leute da draußen«, sagte er. »Sie arbeiten hart und können trotzdem das Leben genießen. Wie Kids heutzutage halt so sind.«

»Die Zahlen sehen ziemlich gut aus«, sagte Lothar in neutralem Ton.

Ja!, dachte Roger.


© Leseprobe: Klett.Cotta Verlag



 

John Lanchester, *1962 in Hamburg, wuchs im Fernen Osten auf und war nach seiner Ausbildung in England als Lektor beim Verlag Penguin Books tätig, ehe er Redakteur der London Review of Books wurde. Daneben war er für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie Granta und The New Yorker tätig sowie als Restaurantkritiker für The Observer und Kolumnist für The Daily Telegraph.






 

Werke in deutscher Übersetzung

Die Lust und ihr Preis, Originaltitel; The Debt to Pleasure, 1996, ISBN 3-552-04803-0

Mr. Phillips von 6 bis 7, Originaltitel: Mr Phillips, 2002, ISBN 3-552-05185-6

Hotel Empire, Hongkong, Originaltitel: Fragrant Harbour, 2004, ISBN 3-552-05324-7


 

 

 

 

Es war viel sicherer, den Zynikern in die Hände zu fallen. Die Zyniker hielten jeden für genauso korrupt wie sich selber. [...] Die Idealisten dagegen hielten jedermann für korrupt, außer sich selber.

(Robert A. Wilson, Schrödingers Katze. Das Universum nebenan. Aus dem Amerikanischen von Pociao)

 

 



Tweet