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Kafka. Prag und der Erste Weltkrieg

Franz Kafka als poetischer Kriegsberichterstatter aus Prag?

von Dr. Marie-Luise Wünsche

 


 

Manfred Engel / Ritchie Robertson (Hg.): Kafka. Prag und der Erste Weltkrieg / Prague and the First World War.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
280 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826048494

 


 

 

Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.

 

 

Diese Tagebuch-Eintragung, so knapp, so konzis, findet sich neben der Datumsangabe 02. August 1914. Sie ist ganz sicher, im Zusammenhang mit Franz Kafkas Zeitzeugenschaft in Bezug auf Beginn, Verlauf und Ende des Ersten Weltkrieges, die meist zitierte Tagebuch-Passage dieses Autors. An jenem Augusttag war die erwähnte Kriegserklärung also gerade einmal einen Tag alt. In etwa zu der Zeit, zu der Kafka das am Nachmittag in Prag festhielt, marschierten wohl die Deutschen in Luxemburg ein. Auch richtete Deutschland ein Ultimatum an Belgien.

Der Lauf der Dinge war längst nicht mehr aufzuhalten und der Krieg, den die Historiker später als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ einstuften, war von Beginn an in den Kommunikationen der Zeitzeugen auf ungewöhnlich intensive Weise mythisch aufgeladen. Er sollte gleichsam als säkularisierter Gottes-Blitz Ordnung und Heilung schaffen, und er sollte vor allem den Gemeinschaftssinn neu schulen.

Die Tagebuch-Eintragungen und auch die entsprechenden Hinweise innerhalb der Korrespondenz des großen Prager Dichters scheinen zwar, rein quantitativ betrachtet, eher vernachlässigbar. Dennoch kommt ihnen eine hohe Relevanz in Bezug auf Kafkas Nachtschreibtisch als Ort poetischer Kriegsprotokolle zu. Dies wäre jedenfalls eine tragfähige Ausgangsthese für etliche Forschungen, die im Anschluss an den hier vorzustellenden Sammelband allererst noch in Schwung zu kommen hätten.

„Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule:“ Welche Funktion übernimmt eigentlich der Gedankenstrich zwischen diesen beiden Sichtweisen auf ein und desselben Tag? Baut er nicht eine Spannung auf, in der es auszuharren gilt, zwischen einem Alltagsvorkommnis von Weltbedeutung und einem anderen, eher rein privat-alltäglichen Geschehen, welches dennoch stattfindet, als wäre nichts Nennenswertes geschehen? Zeigt sich nicht gerade darin, also in der absurd erscheinenden, aber unvermeidbaren Simultanität katastrophaler und banaler Ereignisse, Kafkas Gespür für eine formvollendete Reflexion von Zeitpolitik einerseits und ihr gegenüber gleichgültig bleibende Beharrlichkeit sich in gewohnter Weise weiter abspulender privater Alltagsrhythmen andererseits?

Für eine solche Lesart, die jedoch quer zu der tradierten, älteren Forschungsmeinung steht, spricht auch ein weiterer Tagebucheintrag aus den Anfangszeiten des Ersten Weltkrieges. Neben dem Datumseintrag „6 VIII 1914“ findet sich eine etwas längere Passage, die abermals zwei Hinsichten ein und desselben Tages mittels eines Gedankenstriches gegenüberstellt. Sie beginnt so: „Die Artillerie, die über den Graben zog. Blumen, Heil und Nazdarrufe. Das krampfhaft stille, erstaunte aufmerksame schwarze und schwarzäugige Gesicht. – Ich bin zerrüttet statt erholt. Ein leeres Gefäß, noch ganz und schon unter Scherben oder schon Scherbe und noch unter den Ganzen. Voll Lüge, Haß und Neid. Voll Unfähigkeit, Dummheit, Begriffsstützigkeit. Voll Faulheit, Schwäche und Wehrlosigkeit.“ Tags zuvor hatte Kafka bereits notiert, dass er „Neid und Haß gegen die Kämpfenden [hege], denen [er] mit Leidenschaft alles Böse wünsche.“ Wieso um alles in der Welt beneidet jemand diejenigen, die mit Gasschutzmasken ausgerüstet, den Kopf hinhalten, im Schützengraben oder unter Wasser anlässlich eines deutschen uneingeschränkten U-Boot-Krieges? Franz Kafka, das weiß man heute, nahm die Diagnose, er sei Neurastheniker, widerspruchslos an. Zählte er damit zugleich auch zu jenen Literaten, die lange schon auf eine kämpferische und ungeheuerliche Begebenheit setzten, damit der kulturelle und gesellschaftliche Dornröschenschlaf des Kaiserreichs ein abruptes Ende fände? Kafkas Gefühl jedenfalls, an der Zivilisation selbst und ihren Erfordernissen erkrankt zu sein, von einer kaum beschreibbaren Erschöpfung zu Boden gerissen zu werden, mag ein, wenn nicht der Grund dafür gewesen sein, dass dieser vermeintlich so in sich zurückgezogene und ängstliche Poet, der sich und seine Schriften angeblich hermetisch gegen alles nicht Eigene abzugrenzen wusste, tatsächlich, wie so viele seiner Kollegen eben auch, in den Ersten Weltkrieg ziehen wollte – und zwar vor allem aus therapeutischen Gründen. Kriegszitterer werden es schlussendlich sein, die zuallererst von diesem Weltkrieg verursacht, und nicht etwa durch ihn geheilt wurden. Sie bevölkerten als völlig zerstörte Kreaturen in der Nachkriegszeit die Straßen der Großstädte Europas. So paradox es auch klingen mag, es empfahlen einige Nervenärzte anfangs den Ersten Weltkrieg gleichsam als Kur gegen allzu schlaffe Nervenkostüme, später werden teilweise dieselben, teilweise andere Nervenärzte und Exponenten des Gesundheitssystems, unter ihnen auch der Jurist und Beamte Franz Kafka, sich Gedanken um eine spezielle technische Aufrüstung der Sanatorien machen, um die aus dem Krieg heimgekehrten Neuastheniker zu versorgen. In ihnen, etwa auch im Sanatorium Frankenstein in Rumbuk sollten „stählende Maßnahmen“, allen voran die Elektrotherapie, den nervenzitternden Soldaten bei ihrer Traumabewältigung helfen. [1]

© Irena Vezin, zu: Das Gesetz von Franz Kafka, 2010

 

Damit ist der Kontext umrissen, den der vorliegende Sammelband ebenfalls anreißt. Er verspricht mithin gleich doppelt neue Ergebnisse durch neue respektive bis dato kaum vorgenommene Kontextualisierungen, welche eine gemeinsame Schnittmenge haben. Krieg und Nerven, Nerven und Krieg, dies sind die miteinander verwobenen Hinsichten, unter denen Kafkas Tagebücher und Kafkas kleine Literaturen jeweils anders als bisher, technischer und moderner eben, ihr Pragerdeutsch in den Ohren heutiger Leser und Leserinnen nachhallen lassen könnten, was vor wenigen Jahren so noch nicht möglich gewesen wäre. Gerade mit der Relevanz der Nervendiskurse für Kafkas Beamtenschreibtisch einerseits und seinen Schriftstellerschreibtisch andererseits scheint ein momentan relevant werdendes, bislang sträflich vernachlässigtes Teilgebiet zukünftiger Kafka-Forschungen umschrieben.[2]

 

Zielt der in der eben zitierten Passage beschriebene Neid Kafkas gegen die Kämpfenden also auf die aus gesundheitlichen Gründen verpasste Gelegenheit, im Sturmfeuer geheilt zu werden? Oder ist er vielmehr Ausdruck einer Verstimmung, die daher rührte, dass Kafka eben nicht dem Ideal des jüdischen Muskelmannes entsprach, sich also unfähig fühlte, seinen Mann im Krieg zu stehen, was so viele aus seiner Umgebung mit Leichtigkeit einzulösen schienen?

Landauf, landab, auch etwa innerhalb der Dreivölkerstadt Prag, erhofften sich jedenfalls die verschiedenen Völker- und Gesellschaftsgruppen zu Beginn des Ersten Weltkrieges von diesen militärischen Auseinandersetzungen Läuterung, ja ‚Katharsis‘ und zukunftsweisende Innovationen, so paradox und sarkastisch sich das auch anhören mag. Und viele der Soldaten trugen tatsächlich in ihren Tornistern, sozusagen als kleine Feldlektüre, den ersten Band der 1912 erschienenen Abenteuer um die Biene Maja von Waldemar Bonsel. Und noch einmal sehr viele unter diesen vielen waren selbst Literaten. Ihre nicht ganz freiwillige Lektüre ist in Bezug auf den Bekanntheitsgrad dieser literarischen Figur kaum zu überschätzen.

Das Meiste von dem hier eingangs Versammelten kann man lange schon nachlesen, recherchieren und zum Ausgangspunkt eigener Recherche- und Archivarbeiten werden lassen. Allein, dass auch das Werk des so anderen, so eigenen Schriftstellers Franz Kafka sich, wenigstens teilweise, als eines aus Kriegsdiskursen lesen lassen soll, und so am Ende auch das spezifisch Literarische noch einmal neu und anders beschreibbar werden könnte, das kommt jedoch schon einer kleinen philologischen Sensation gleich. Die Spuren liegen länger schon aus. So etwa schon mit Klaus Wagenbachs legendären biografischen, mehrfach unter dem Titel Franz Kafka, Biographie seiner Jugend neu aufgelegten Bemühungen. Dort findet sich im Anhang das Kapitel Drei Sanatorien Kafkas. Dennoch scheinen die wissenschaftlichen Fährtenleser erst jetzt mit internationalen Tagungen, interdisziplinären Forschungsprojekten und eben diesem zweiten Band der Oxforder Kafka-Studien, richtig Fahrt aufzunehmen.

Das erstaunt umso mehr, da die Bedeutung des Ersten Weltkrieges als Movens und Motiv der damals zeitgenössischen Literatur nicht nur für die prosaischen Tornisterdreingaben der Soldaten belegt ist, sondern für andere, höhere, – etwa avantgardistischen – Sphären eigentlich ebenfalls lang schon unbestritten feststeht. So kann die von Thomas Anz und Joseph Vogl 1982 im Hansa-Verlag herausgegebene Anthologie Die Dichter und der Krieg heute als Forschungs-Klassiker zur Moderne gelten. Das Nachwort der beiden Kulturwissenschaftler vereinigt höchst aufschlussreiche, zumeist ebenso verklärte Stellungnahmen von etlichen bekannten Schriftstellern.

Zwar war es abermals Thomas Anz, der unter dem Titel Das größte Theater der Welt. Kafka und der Krieg bereits 2004 darauf hinwies, dass „[ g]anz so nebensächlich […]der Krieg für Kafka freilich nicht“ war. Doch der Rahmen, innerhalb dessen dies geschah, war stets eher ein literaturkritischer, kein kulturwissenschaftlicher. Allein deshalb liegt also, so lässt sich die Hinführung zu der Einzelbesprechung der Beiträge dieses Sammelbandes abschließen, mit den vorliegenden Aufsätzen nun in gewisser Weise ein weiteres Highlight der Kafka-Forschung vor. Erstmals widmet man sich eingehender dem Themenkomplex Kafka-Text-Exegese im Fadenkreuz von Topografie (also Prag) und Zeitgeschichte (also des Ersten Weltkriegs).

Die Beiträge resultieren aus jenen Vorträgen, die 2010 in Oxford anlässlich eines internationalen und interdisziplinären Symposions gehalten wurden. Sie stellen sich alle auf je spezifische Weise in den Dienst zweier zentraler Fragestellungen. Einerseits soll ein „bisher weitgehend vernachlässigtes Thema erschlossen werden“, nämlich die Frage nach „Kafkas Verhältnis zum Ersten Weltkrieg.“ Zweitens soll aber auch, im Anschluss an einen Vorschlag Gerhard Neumanns, der in den letzten Jahrzehnten unverzagt und unermüdlich mittels differenter Methoden seinen Beitrag zur Erschließung dieses Werkes gab, dem „Mimesis-Charakter von Kafkas Texten“ an diesem Beispiel genauer nachgegangen werden.

Aus diesem „doppelten Erkenntnisinteresse“ und der Notwendigkeit der spezifischen Kontextualisierung ergibt sich dann logischerweise eine Dreiteilung des Bandes. In allen Teilen sind zudem alle führenden methodischen Zugangsweisen vertreten, so dass Kafkas poetische Kriegsberichterstattungen sowohl als Spiegel historischer Wirklichkeitskonzepte, als „diskursgesättigte“ Wissenspoesie und als Intertexte gewürdigt werden.

Der historische Kontext wird eingangs rekonstruiert von den Beitragenden Johannes Birgfeld, Mark Cornwall, Andreas B. Kilcher und Eva Edelmann. Dies geschieht vor allem auf der Basis der Prager Lokalpresse einerseits und entsprechender Notizen Franz Kafkas andererseits.

Johannes Birgfeld richtet das Interesse dabei unter anderem auf das Prager Tagblatt vom 6.Januar 1917, da dort Kafkas Text Ein Traum auf der „Seite eins der Unterhaltungsbeilage“ abgedruckt erschien. Diese Kurzprosa war 1916 bereits in der Dezemberausgabe der Zeitschrift Das jüdische Prag erschienen. Er bilanziert dann die Möglichkeit der Presse, die Leser mit Informationen statt mit Kriegspropaganda zu versorgen, als eine sehr begrenzte. Aufschlussreich, weil keineswegs bar jeden schwarzen Humors, sind die „weißen Flecken“, die deutlich erkennbaren „Textlücken“, die zensorische Eingriffe aus Gründen des Zeitmanagements regelmäßig hinterließen.

Mark Cornwall verfolgt dagegen in seinem englischsprachigen Beitrag andere Spuren, die der Erste Weltkrieg im schriftstellerischen und im amtlichen Werk Kafkas hinterließ. Dabei verweist er auch auf die „Heil und Nazdar“ – Rufe, „in German and Czech“ aus Kafkas Tagebüchern. Er porträtiert vor allem den Beamten Franz Kafka, der in Rumburk das Sanatorium Frankenstein inspizierte, um den mit Kriegstraumata heimgekehrten Soldaten eine Perspektive auf Schmerzenslinderung zu bieten.

Andreas B. Kilcher untersucht in gewohnter kleinschrittiger, materialreicher und gerade dadurch enorm Esprit reichen Weise den Zionistischen Kriegsdiskurs. Das kündigt bereits sein Titel an. Der viel zitierte Ausspruch von Kaiser Wilhelm II vom 04.08.1914, wonach er „keine Parteien mehr“ kenne, sondern „nur noch Deutsche“, so kann Kilcher rekonstruieren, zeitigte zunächst auch euphorische mediale Echos innerhalb der Prager Presse. Eines seiner Rechercheergebnisse lässt sich dann im Anschluss an die Sichtung der Jüdischen Rundschau festhalten. Auch dort wurde der Weltkrieg zunächst als ein Ereignis medialisiert, das angeblich alle „Unterschiede von Rassen und Religionen“ verwische. Diese Rhetorik lässt sich dann als „Emergenz einer neuen zionistischen Sprache des Krieges“ beschreiben, so dass Kilcher in einem weiteren Schritt festhalten kann: „in der Tat war dieser Krieg für das Judentum ein Sprach- und Medienereignis.“ Abschließend kann festgestellt werden, dass im Gegensatz zu Max Brod für Kafka eben zu keinem Zeitpunkt eine programmatische zionistische Position auszumachen ist.

Auch Eva Edelmann ist an einer diskursanalytischen Analyse interessiert. Ihr Gegenstandsfeld ist vor allem die Prager jüdische Wochenschrift Selbstwehr. Eine „kulturpoetische Lektüre“ lässt die „geschichts-theologischen Strategien zionistischer Gegenwartsdeutung“ sichtbar werden. Die „Sakralisierung des Kriegsgeschehen“, so ließe sich unter Einbezug anderer Forschungsergebnisse festhalten, war sozusagen immer und überall. Doch eröffnete das diskursive Amalgieren „zionistischer Ziele und eschatologischer Zukunftsvisionen“ einen spezifischen Raum, „in dem sich eine zionistische ‚Eschatologie des Schlachtfeld‘ entfalten“ konnte.

Im zweiten Teil des Sammelbandes wird die Prager literarische Szene zu Zeiten des Krieges als eine thematisiert, an der sich das kriegsbedingte Auseinanderfallen tschechischer und deutscher Traditionen noch einmal deutlicher aufzeigen lässt. Claire E. Noltes Beitrag weist das Café Montmartre in Prag als „Bastion der Avantgarde“ nach. Diese Bastion war Kafka und Brod wohlbekannt. Sie stand sozusagen als feste Burg der Prager Avantgarde da, während eher traditionelle und vor allem populäre ästhetische Ausdrucksmittel die Musen fast zum Schweigen brachten.

Dem weltbekannten Roman Babička (Großmutter) von Božena Němcová aus dem Jahre 1855 und seiner Bedeutung für die tschechische Heimatverbundenheit gilt das Interesse von Rajendra A. Chitnis Beitrag Putting Granny in a Home. Mit Rekurs auf Fjoder Dostojewskis Puschkin-Rede anlässlich einer Denkmaleinweihung für diesen Nationaldichter Russlands mit afrikanischen Vorfahren aus dem Jahr 1880 wird Babička gleichsam als das tschechische Pendant dazu lesbar, weil jeweils in den Figuren die Nation von sich selbst als etwas unverstellt Natürliches zu erzählen beginne, dass das Differente und Multipopuläre in sich zu vereinen wisse.

Peter Zusi dagegen macht Berührungspunkte zwischen der Poetik Kafkas und jener Weiners in seiner vergleichenden Analyse ausfindig, in der Texte beider als typische Prager Avantgarde aufscheinen, mit spezifischen Poetiken des Schocks, als moderne Horrorgeschichten im Gewande vermeintlich traditioneller Narrative.

Ritchie Robertson widmet sich abschließend der Analyse der Novelle Tycho Brahes Weg zu Gott von Max Brod. Er kann das „Enigma“ als Strukturprinzip namhaft machen und entfernte Ähnlichkeiten erkennen zwischen dem Protagonisten der Novelle und Kafka.

Vor diesem diskursiven Hintergrund lässt sich dann im dritten Teil an Fallstudien die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für Kafkas Werk selbst fokussieren. Dies geschieht von jeweils anderen Perspektiven aus und mit unterschiedlichen Methoden. Betrachtet man die Texte, die während der Zeit des Ersten Weltkrieges entstanden, so lässt sich ganz ohne Zweifel „an ihnen ein deutlicher Veränderungsprozess in Kafkas Schaffen beobachten.“

 

© Thomas Buchner, Dt. Patent zur Produktion von Schriftstücken, 2011

 

 

Rainer Stach startet seine Untersuchung unter dem Titel Franz Kafka, kriegsgefangen mit der Betrachtung einer frühen Fassung des ersten Satzes des Prozeß, in der sich noch der deutlich kriegskonnotierte Begriff des Gefangennehmens nachweisen lässt, wo später von Verhaftet sein die Rede sein wird. Interessant sind die dann folgenden Überlegungen Stachs zum „Möglichkeitssinn“, dem der Erste Weltkrieg wahrscheinlich auch durch seine rabiate Inszenierung der Macht des Faktischen den Garaus bereitete. Andernfalls, so Stachs These, hätte Kafka eventuell „mit Musil in ein fortlaufendes Gespräch“ eintreten können. Tatsächlich blieb die Bekanntschaft dieser beiden Autoren eher eine oberflächliche – und da Kafka innerhalb des Prager Kreises keinen Dichter auf seiner Augenhöhe vorfand, bleibt lakonisch festzuhalten: „Kafka fühlte sich in seiner Heimatstadt gefangengesetzt, und er war es.“

 

Thomas Anz spürt in seinem Beitrag den Kriegszenarien nach, die sich innerhalb jener Texte auffinden lassen, die entweder während oder nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Dabei widmet er sein Interesse vor allem auch den typischen Überblendungsverfahren, mittels derer Kriegsszenarien Kunstproduktionsbedingungen vexieren und vice versa. Die Erzählung Der Bau analysiert er so zugleich vor dem Hintergrund der Soldatenumgangssprache, die den Begriff ‚Maulwurfskrieg‘ kannte und dem in der Forschung schon länger tradierten Hintergrund der Reflexion des Kafka‘schen Schreibprozesses selbst.

Juliane Blank setzt die textgenetische Methode weniger ein, um „Aufschlüsse über den Text als solchen“ zu erlangen. Vielmehr geht es ihr nun zentral um „Kafkas Schreibprozess im Allgemeinen und seinen Umgang (beziehungsweise seine Rücknahme seines Umgangs) mit dem Zeitgeschehen.“

Im Beitrag von William John Dodd stehen Transformationsprozesse im Zentrum des Interesses. Wie gelingt die zugleich kritische und poetische Thematisierung des Krieges, etwa in der Erzählung Das Urteil oder Die Strafkolonie?

Manfred Engel widmet sich vor allem den Symbolisierungen, die er in den Texten Beim Bau der chinesischen Mauer und Die Abweisung am Werke sieht. Er thematisiert Kafkas China-Bild im Umfeld der Quellen, die dem Autor für diese Erzählung zur Verfügung standen.

Marek Nekula führt auf höchst beeindruckende Weise vor, wie das polyseme Wort Mauscheln durch den faktischen Gebrauch immer eindeutiger zu einem antisemitischen Kampfbegriff wurde: „Das Mauscheln im Sinne des jüdischen Ethnolektes des Deutschen wurde schließlich selbst da befürchtet oder den Sprechern vorgeworfen, wo gar keine jiddischen Spuren vorhanden waren und die Sprache ‚rein‘ war; es reichte ein Jude zu sein, damit die Befürchtung oder der Vorwurf des Mauschelns auftauchte.“ Nekula zeigt so auf, dass die zu Kafkas Zeiten übliche Lesart des Anderen über kurz oder lang höchst bedrohlich für eben dieses Andere werden musste. Denn am Beispiel des vermeintlich jüdischen Mauschelns wird deutlich, dass einem derartigen ausgrenzenden Verständnis das Konzept einer organischen Sprache entgegenkam, weil man als Fremdsprachler noch so bemüht sein mag, über den Gestus des perfekten Andressierens kommt man nicht hinaus.

Benno Wagner endlich setzt den exzellenten Oxforder Betrachtungen des Kafkaesken zu Zeiten des Krieges ein vorläufiges, wie fulminantes Ende. Es gelingt ihm, mittels des Vergleichs die „Kafkasche Sprachkritik“ von der des „Pressefeindes Karl Kraus in spezifischer Weise [zu] unterscheiden“. Das „Dispositiv der Fürsprache“ rückt demnach innerhalb der kafkaschen Texte, die er als „Kriegsschriftsteller“ verfasste, „selbst in den Fokus der Wahrnehmung“. Seinen Beitrag Fürsprache-Widerstreit-Dialog. Karl Kraus, Franz Kafka und das Schreiben gegen den Krieg beginnt er mit einem Satz, mit dem diese Rezension einen angemessenen Abschluss finden kann, weil er noch einmal aufscheinen lässt, was jeder einzelne Beitrag dieses Sammelbandes seinerseits so beeindruckend belegt: „Kaum ein modernes literarisches Werk hat sich in ähnlicher Spannbreite und Intensität der medien- und kulturwissenschaftlichen Kontextualisierungsarbeit der letzten zwei Dekaden geöffnet wie dasjenige Franz Kafkas“. Wenn man bedenkt, worauf Wagner in diesem Zusammenhang ebenfalls hinweist, dass „Eduard Goldstücker 1984 … das Ende der Kafkaforschung [verkündete]“, dann ist man eigentlich jetzt schon auf weitere Highlights im Umfeld der Oxford Kafka Studies gespannt.

Der vorliegende Band, gespickt bis an den Rand mit neuen Detail-Ansichten von ausgewiesenen Moderne- und Kafka-Forschern, kann jedenfalls sowohl interessierten Laien als auch interessierten Fachleuten innerhalb und außerhalb akademischer und schulischer Zusammenhänge nur uneingeschränkt empfohlen werden.

Klar ist, dass die Auseinandersetzung mit der Kafka-Forschung längst schon Teil der Wertschätzung und Beschäftigung der Literatur von Franz Kafka selbst geworden ist. Ihm aber soll hier und in dieser Angelegenheit des informellen und des metaphorischen Redens über den Ersten Weltkrieg deshalb auch das letzte Wort gebühren. Es stammt aus dem Kriegsjahr 1917 und es spiegelt im Grunde genommen am Schreibtisch des Dichters die Lage Europas wieder, in dem es längst keine euphorischen Kriegsgesänge, wohl aber tausendfach ersehnte Kriegsabgesänge gab. Als neunte Eintragung unter dem Datumseintrag 19. September 1917 lesen wir: „Im Frieden kommst Du nicht vorwärts, im Krieg verblutest Du.“


[1] Vgl. zu der Nervenpolitik Österreichs vor allem Hofer, Hans-Georg: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1810-1920).

[2] 2007 hat an der Universität Ustí n.L. in Tschechien eine internationale und interdisziplinäre Tagung zu diesem Thema stattgefunden. Der Titel der Tagung lautete: Kafka in Frankenstein. Böhmische Nerven-Politik zwischen 1890 und 1938. Organisiert wurde sie in von den Kafka-Forschern Ekkehard Haring und Benno Wagner in Kooperation mit Mirek Němec, die Tagungsbeiträge stehen noch zur Publikation aus. Vgl. etwa http://www.kakanien.ac.at/mat/Usti_nad_Labem1.pdf


 

 

Zur Verfasserin

Dr. Marie-Luise Wünsche, Literaturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin, ist akademische Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Sie arbeitet an einer Monographie zu Franz Kafka und Georg Groddeck sowie an einer Studie zur Ästhetik der Phantastik. Weitere Interessensgebiete: Geschichte der Psychoanalyse und psychoanalytischen Psychosomatik zwischen Deskritption und Narration, Erzähltheorien, Erzählen innerhalb und außerhalb von Wissenschaft; Poesie als Therapie in der Moderne; Ästhetik der Phantastik intermedial; Werke von E.T.A. Hoffmann, Friedrich Nietzsche, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Lou Andreas-Salomé, Friedrich Glauser, Friedrich Dürrenmatt, Hermann Burger und Urs Widmer; Diskursanalse und Dekonstruktion.

 

 

© Text mit freundlicher Genehmigung der Autorin; Erstveröffentlichung: literaturkritik.de; Bilder: s.Unterschriften

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