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Kafka und Prag

von Katja Schickel

 

Vom 27. - 29. Mai 2010 fand anlässlich des 80. Geburtstags von Prof. Kurt Krolop im Goethe-Institut Prag eine Tagung statt.

Wir stellen Beiträge von Prof. Zimmermann (Berlin), Prof. Rühle (Hildesheim/Madrid) und von Boris Blahak (Prag) vor. Wir möchten uns bei allen

für ihre Unterstützung herzlich bedanken. 

(Alle Beiträge werden  2011 in einem Sammelband veröffentlicht).

 

 

  

 

Bruchstücke – Die Erfindung des eigenen Selbst

Impressionen und Überlegungen zu Kafka in Prag


 


 

Man wird nicht weit kommen, wenn man Zeit und Geschichte außer acht lässt. Das gilt für Kafka in besonderer und entscheidender Weise. Marcel Reich-Ranicki hat in seinem Beitrag für Kafkas Sätze, der anlässlich dessen 125. Geburtstags in der FAZ veröffentlicht wurde, darauf noch einmal aufmerksam gemacht: Wer sein Ringen um die eigene jüdische Identität in Prag, in der es das sog. jüdische Element war, das Tschechen und Deutsche – wenn überhaupt – noch verband, außer acht lässt, nicht in den Mittelpunkt der Betrachtung der eigenen Interpretationen stellt, hat nichts oder doch sehr wenig von Kafka verstanden.

Ob Kafka sich als Jude gefühlt hat, Zionist war oder nicht, ist vielleicht nicht so maßgeblich wie die Tatsache, dass er sich mit dem Judentum immer beschäftigt, in allen seinen Lebensperioden Aspekte und Erkenntnisse hervorgehoben oder auch revidiert hat. Wenn er am Ende seines Lebens mit Dora Diamant Pläne schmiedete, nach Palästina auszuwandern, geschah das sicher nicht als Usurpator, der Anderen dort ihre Lebensrechte streitig machen wollte. In einem Gespräch (hier abgedruckt) beschreibt Prof. Kurt Krolop, dass er nach seinen Erfahrungen bei Kriegsende als Deutscher in der Tschechoslowakei seiner Ausweisung, hätte man ihn gefragt, sofort zugestimmt hätte, weil ihm eine eigene Identität, ein halbwegs eigenständiges, selbstbestimmtes Leben nicht mehr möglich schien.

Kafka wurde geboren, da gab es das alte Judenviertel noch. Dessen Assanierung bedeutete auch die Zerstörung jüdischer Geschichte in der Stadt Prag. In den literarischen Produktionen taucht sie dann wieder auf, als mythische, als unheimliche Stadt. Man wird die Gespenster nicht so leicht los: „Sie spaßen. Aber merken Sie sich, ein Gespenst ist ein Gespenst. - Sehr wahr. Aber wie, wenn man überhaupt nicht an Gespenster glaubt? - Ja, meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieser Nichtglauben? - Sehr einfach, Sie müssen eben keine Angst mehr haben, wenn ein Gespenst wirklich zu ihnen kommt. - Ja, aber das ist doch die nebensächliche Angst. Die eigentliche Angst ist die Angst vor der Ursache der Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich gerade großartig in mir. ... - Da Sie aber vor der Erscheinung selbst keine Angst hatten, hätten Sie sie doch ruhig nach ihrer Ursache fragen können! - Sie haben offenbar noch nie mit Gespenstern gesprochen. Aus denen kann man ja niemals eine klare Auskunft bekommen... Diese Gespenster scheinen über ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein, als wir....“ (Unglücklichsein, aus: Betrachtung, 1913)

Übrigens hat Hermann Grab, vermutlich Anfang der 40er Jahre, im New Yorker Exil, eine Kurzgeschichte geschrieben: Unordnung im Gespensterreich, die sogar die Entwurzelung dieser Gespenster thematisiert (Hermann Grab, Hochzeit in Brooklyn, 1995).

Wenn man heute durch die Altstadt geht (Praha 1, Josefov), die Architektur der vorletzten Jahrhundertwende betrachtend, fallen all die Boten, Wächter, Tiere an den Hauswänden auf, die nackten Engel und mythologischen Gestalten des Jugendstil und Neo-Barock; manche können in ihrer Überproportion regelrecht Angst machen, vor allem, wenn man Kind ist (und immer sind sie dem Himmel so nah).

Kafkas Radius in Prag ist gering, während die Stadt doch prosperiert und neue, weit abgelegene Ränder besiedelt werden. Staróměstská náměstí/Altstädter Ring ist und bleibt lebenslänglich sein Mittelpunkt, um den die Familie ständig kreist. Der kleine soziale Aufstieg manifestiert sich in höherer Etagenlage und der Anzahl von Zimmern. Auch die „Ausflüge“ (und er läuft viel!) als Erwachsener, vorher sein täglicher Gang zur Schule, später zur Arbeit sind in diesem kleinen Universum angesiedelt. Überreste der alten Zeit sind die Synagogen und der alte Friedhof. Heute sind sie alle modernisiert, ihre Fassaden gestrichen, aber zu Kafkas Zeiten sind sie nicht in allerbestem Zustand und laden sicher nicht zur Identifikation ein.

Seine Freunde kommen alle aus gut situierten, begüterten Familien, die sich um den sozialen Aufstieg nicht mehr kümmern müssen (genutzt hat es den meisten spätestens ab 1939 allerdings auch nicht mehr). Kafkas Eltern konnten erst heiraten, nachdem es gesetzlich erlaubt war. Er kannte ihre Geschichte natürlich; zu den alten Zwängen konnte er nicht zurück wollen, aber die neuen schienen ihm offensichtlich auch nicht sehr attraktiv.

Er ist ein Außenseiter, ob er will oder nicht, in der Familie und im gesellschaftlichen Umfeld. Der erstarkende tschechische Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts, die Auflösung einer gewohnten Ordnung im 1. Weltkrieg und danach, trifft besonders die deutsche Minderheit  und in ihr die jüdische. Die Ressentiments schlagen oftmals um in brutale Gewalt. Pavel Eisner hat in diesem Zusammenhang auf ein dreifaches Ghetto hingewiesen. In Prag leben 42.000 Deutschsprachige, etwa 8 % der Bevölkerung, davon ist mehr als die Hälfte jüdisch. (Die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei ist insgesamt die größte in Europa, ca. 25- 27%, davon 10% Juden). Als Minderheit in der Minderheit (die sie nach Zahlen in Prag ja nicht sind) sitzen die Juden schnell zwischen allen Stühlen. Diese deutschsprachige Minderheit ist aber auch sozial getrennt von der übrigen Bevölkerung. Sie gehört zu großen Teilen zur Bourgeoisie, zum Bildungsbürgertum oder zur gehobenen Mittelklasse. Es sind viele Deutsch-Nationale (mehrheitlich allerdings Nicht-Juden), Liberale, Sozialisten und Zionisten, wenige Kommunisten darunter. Viele bekennen sich zur 1. tschechoslowakischen Republik Masarýks - homogen ist diese Minderheit nicht.

Kafka lebt „auf zu schwachem Boden“, er kann nicht mehr Wahrheit für sich beanspruchen als seine Füße Bodenhaftigkeit haben (s. Tagebuch). Das ist kein großer Spielraum.

Neben dem gesellschaftlichen Status, den man als Jude haben, vielleicht für sich auch reklamieren kann, gibt es etwas, das mit der materiellen Welt auf den ersten Blick gar nichts zu tun hat: seine Krankheit. Wer selbst einmal schwer erkrankt ist, von anderen gehört, ihre Ängste, sogar ihr Sterben erlebt oder darüber gelesen hat, weiß über die Erschütterung, die die Tatsache, mit dem eigenen Tod konfrontiert zu werden, hervorruft. Kafka rationalisiert, er sublimiert, er tut vieles, um sich nicht mit dieser Wahrheit auseinander setzen zu müssen, aber er leugnet sie nicht, vielleicht muss man sagen, ES leugnet nicht. In diesem „Prozess“ geht es immer um den Tod eines lebendigen Subjekts, das noch so viel strampeln, Wissen und Erkenntnis aufhäufen kann, es ist ein aussichtsloser Kampf. 

Die "Verleumdung“ (Der Process, FKA, Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Main), die am Anfang steht, ist nicht gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, Täter zu sein. Verleumdung ist immer ein probates Mittel gegen Außenseiter. Sie sind von vornherein schuld; irgend etwas kann man ihnen immer anhängen (Sündenbock). Das wissen auch Frauen! Und es war vor vielen Jahren Hans Mayer, der in seinem Buch Außenseiter auf  die Mechanismen hingewiesen hat, wie auch Foucault in vielen seiner Schriften auf die Art und Weise vom Suchen und Finden von Sündenböcken (u.a. in Überwachen und Strafen). Wenn alle umstandslos Täter und Opfer sind, werden die Fragen menschlicher Existenz (männlicher/weiblicher), die verschiedenen Ebenen, auf die man Antworten finden muss (individuell wie gesellschaftlich) auf mehr als fahrlässige Weise vermengt. Wenn „wir“ immer beides sind und zwar alle auf die gleiche Weise, sind diese Kategorien schließlich gänzlich unbrauchbar, weil ausgehöhlt. Dass K. mitkommt, ist kein Schuldeingeständnis; er ist verleumdet worden, und der eigentliche Skandal besteht darin, dass ihm dies ganz selbstverständlich vorkommt! Dass man sich Fragen nach der eigenen Schuld stellen muss, anstatt zu fragen: Warum ist man in dieses Räderwerk geraten.

Wenn Assimilation/Anpassung so weit gehen soll, hat man schon verloren.

Kafka hat das gewusst, er hat darüber geschrieben: Über die Gewalt des (patriarchalen) Gesetzes (Brief an den Vater, Die Verwandlung, Vor dem Gesetz - vorher: Der Türhüter). Am Anfang des 1.Weltkrieges, zu dem er sich unbedingt als Freiwilliger melden will und untröstlich ist, dass er als unabkömmlich für die Versicherungsanstalt abgelehnt wird, sich selber also unwert fühlt. Alexander Kluge hat in  einem seiner dctp-Programme einen kurzen Filmbeitag dazu gemacht. Der böse Blick von Franz Kafka. Er ist ein widersprüchlicher Mann, unpolitisch war er allerdings nie (siehe den Überblick von Boris Blahak). Er schreibt zwar – wie nebenbei - in sein Tagebuch vom Schwimmen-Gehen und dem Anfang des Krieges, aber eben auch die Strafkolonie. Er weiß schon etwas vom Untergang einer Welt  - ohne ihn noch recht begreifen, ihn schon benennen zu können.

Die Machtfragen betreffen ja das eigene Selbst, das Unbewusste, das sich inner-psychisch manifestiert, und deshalb nicht zur freien Disposition steht.

Kafkas „Unentschlossenheit“ (von Benjamin und Tucholsky bedauert) ist Mangel wie Reichtum. Er hat sich nicht gescheut, darüber zu schreiben, vor allem an Frauen, die nicht nur Anschreib-Pole waren, wie es postmodern so schön, aber eigentlich gehässig (und die Frauen so nebenbei diskriminierend) heißt, denn er hat ihnen etwas offenbart, was er Anderen (Männern) nicht zeigen wollte oder konnte. Er schreibt den Frauen, um sie sich buchstäblich vom Leib zu halten, aber nicht nur; wir wissen durch diese Zeilen über sein Verhältnis zu sich selber, sein Körpergefühl und sein Gefühl der (männlichen) Minderwertigkeit, sein Weltverständnis, seine Pläne, sein Aufbegehren.

Auf der neu aufgelegten Liblice-Konferenz (2008), auf der Kafka so wenig (seine Interpreten und Repräsentanten aber um so mehr) präsent war, hat Klaus Theweleit immerzu einen Geist heraufbeschworen, indem er die Nennung seines richtigen Namen verweigerte: Es ging um Rainer Stach und seine lesenswerte Biographie über Franz Kafka. Er nannte ihn mehrmals penetrant „Strach“. Wir waren im wirklich sehr nebelverhangenen Liblice. Da spricht man Tschechisch und „strach“ heißt: Angst... Man konnte die Gespenster hüsteln oder kichern hören. Es war jedenfalls eine interessante Geräuschkulisse.


 

Briefauszug Franz Kafkas an Milena Jesenská

Ich bin nicht unaufrichtig, Milena.... ich bin so aufrichtig, als es die „Gefängnisordnung“ erlaubt und das ist sehr viel, auch wird die „Gefängnisordnung“ immer freier... Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich von allen mir Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterscheidet. Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine ruhige Minute geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muss erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts – ich weiß nicht, ob sie das tut – müßte ich mich nach links drehen, um die Vergangenheit nachzuholen. Nun habe ich aber zu allen diesen Verpflichtungen nicht die geringste Kraft, ich kann nicht die Welt auf meinen Schultern tragen, ich ertrage dort kaum meinen Winterrock. Diese Kraftlosigkeit ist übrigens nicht nur etwas unbedingt zu beklagendes; welche Kräfte würden für diese Aufgaben hinreichen! Jeder Versuch hier mit eigenen Kräften durchkommen zu wollen, ist Irrsinn und wird mit Irrsinn gelohnt.... Ich kann aus Eigenem nicht den Weg gehn, den ich gehen will, ja ich kann ihn nicht einmal gehen wollen, ich kann nur still sein, ich kann nichts anderes wollen, ich weiß auch nichts anderes.

Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur sich waschen, kämmen usw. müßte – schon das ist ja mühselig genug – sondern auch noch, da ihm vor jedem Spaziergang alles Notwendige immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähn, die Stiefel zusammenschustern, den Hut fabrizieren, den Stock zurechtschneiden usw. Natürlich kann er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht paar Gassen lang, aber auf dem Graben z. B. fällt plötzlich alles auseinander und er steht nackt da mit Fetzen und Bruchstücken. Diese Qual nun, auf den Altstädter Ring zurück zulaufen. Und am Ende stößt er in der Eisengasse auf einen Volkshaufen, welcher auf Juden Jagd macht.

Mißversteh mich nicht Milena, ich sage nicht daß dieser Mensch verloren ist, ganz und gar nicht, aber er ist verloren wenn er auf den Graben geht, er schändet dort sich und die Welt.

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Nicht mal zwanzig Jahre später führt die Entwicklung u.a. nach Auschwitz, und es ist eine deutsche Art (vielleicht auch tschechische, ein Urteil maße ich mir nicht an), in einer sehr spezifischen Weise über Täter und Opfer zu sprechen. Wenn man in Strašnice, dem Jüdischen Friedhof ist, nicht nur am Grab von Franz Kafka, mit den Hinweisen, dass alle seine Verwandten (bis auf zwei Nichten) ermordet wurden, sondern sich auch die anderen Gräber und Gedenktafeln anschaut, die Namen, die Steine, das Laub, dann begreift man vielleicht, was Felix Weltsch* am Grab seines Freundes meinte, als er sagte, Kafka sei ein Prophet gewesen, aber kein Wahrsager. Er habe die Welt ernst genommen und in ihr einen Platz gesucht.

 

* Ein wunderbar erhellendes Buch über Felix Weltsch und die jüdische „Selbstwehr“ von Carsten Schmidt: Kafkas fast unbekannter Freund, Leben und Werk von Felix Weltsch, Zionist, Journalist und Philosoph, Könighausen & Neumann, 2010 - ISBN 978-3-8260-4274-4

 

© Katja Schickel/letnapark-prager-kleine-seiten.com

 

 

 

 

 



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