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Kafkas Nichte

Zu Besuch bei Věra Saudková

 

von Alena Wagnerová 

die mit der mittlerweile Neunzigjährigen in Prag sprach.

 

 

Das Schicksal der jüdischen Familie Franz Kafkas spiegelt den Horror des 20. Jahrhunderts wider. Sieben Mitglieder des engsten Familienkreises wurden im Holocaust ermordet. Věra Saudková, die Tochter von Kafkas Schwester Ottla, überlebte.

 

Sie wohnt nur ein paar Schritte von der Altneusynagoge in einem Haus, das ihr Großvater Hermann Kafka für seine drei Töchter Elli, Valli und Ottla erwarb, nachdem er im Sommer 1918 sein Geschäft verkauft hatte, um sich zur Ruhe zu setzen. Hier ist Věra Saudková (als Věra Davidová) auch groß geworden; die letzte lebende Nichte Franz Kafkas, die älteste Tochter seiner Schwester Ottla, ist inzwischen neunzig Jahre alt.

Wie alle Bauten in dieser Umgebung ist auch das schöne Jugendstilhaus der Familie Kafka an der Stelle gebaut worden, wo vorher die sagenumwobene Prager jüdische Stadt war, in einer der Nebenstrassen der Pariser Straße, des Prachtboulevards der Prager Belle Epoque mit ihren grossbürgerlichen repräsentativen Mietshäusern. Zurückkehren konnte sie in ihr Geburtshaus allerdings erst vor ein paar Jahren, als der Familie das Haus restituiert wurde. Die Wohnung in der vierten Etage des Hauses ist relativ spärlich eingerichtet. Denn Věra Saudkovás Existenz ist heute auf Zimmer und Bett beschränkt. Lange vorbei sind die Zeiten, als sie, ihre Schwester Helena und Cousine Hanna das helle, großzügige Treppenhaus mit ihren Kinderstimmen belebten. Das Fenster aus Věras Zimmer führt in den großen Hof, einer der Bäume hat schon fast die Höhe der vierten Etage erreicht, lässt aber den Blick auf den Himmel frei.

Hier verbringt Věra Saudková ihre Tage, bettlägerig, aber hellwach, immer wieder nach einer Zigarette greifend, umgeben nicht nur von den Lebenden, die für sie sorgen oder die sie besuchen kommen, sondern auch von den Toten. Sieben Mitglieder des engsten Familienkreises, die ihre Jugend begleiteten, Kafkas drei Schwestern Elli, Valli und Ottla, Ellis Kinder Felix und Hanna, Vallis Mann Josef und Kafkas Lieblingsonkel Siegfried, zählen zu den Opfern des Holocaust. Aus gewöhnlichen Leben sind dadurch Schicksale geworden, die sich dem Vergessen entziehen.

Das ganze Alltagsleben der Familie Kafka spielte sich zwischen dem Altstädter Ring und der Moldau ab. Zu den Großeltern, die in dem sogenannten Oppeltschen Haus an der Ecke des Altstädter Rings gewohnt hatten, waren es nur ein paar Schritte: "Wir Kinder sind sehr oft und gerne zu den Großeltern gegangen, sie haben uns geliebt. Der Großvater wollte aber nicht nur Kinder, sondern Knaben haben, und die drei Töchter hatten alle Mädchen, nur Elli hatte einen Sohn, der Felix – und der hat auch nicht überlebt . . ."

Věra Saudkovás Deutsch klingt selbstverständlich, es ist keine in der Schule erlernte Sprache, sondern ein Deutsch, das man in der Kindheit mitbekommen und gelernt hat. Mit den Großeltern sprachen die Kinder überwiegend deutsch, der Vater, Josef David, sonst ein sehr bewusster Tscheche, sah solches gerne. In seiner eigenen Familie war es anders: "In unserer Verwandtschaft waren wir die einzige Familie, in der nur tschechisch gesprochen wurde. In den Familien meiner zwei Tanten sprach man auch zu Hause oft deutsch."  

 

Nun hat Vera den himmlischen Tisch verlassen und sieht von Deinem Arm auf den irdischen hinunter und er gefällt ihr nicht oder vielmehr ist von Gefallen gar nicht die Rede, sie muss sich nur an ihn gewöhnen, das muss eine schreckliche für uns unvorstellbare Arbeit sein. ,Die Welt ist ja nicht zum Aushalten' sagt sie sich manchmal, ,nur schnell sich volltrinken' (aus einem Brief von Franz Kafka an seine Schwester Ottla über seine Nichte).

 

An ihren Onkel Franz kann sich Věra Saudková natürlich nicht erinnern. Sie war erst drei Jahre alt, als er starb. Mit der Erinnerung an ihn ist sie aber groß geworden. «Es war wie ein großer, schwarzer Schatten, der bei uns in der Familie war. Saß man länger mit meiner Mutter, gleich begann sie von ihrem Bruder zu erzählen, was er gesagt hat, was ihm gefallen hat . . . Sie hat uns immer Bücher vorgelesen, die er ihr empfohlen hat. Und wenn sie anfing, uns etwas davon vorzulesen, meistens hat sie gleich geweint, wei

l es dem Franz so gefallen hat.»  

Lebendig war aber die Erinnerung an Franz in der ganzen Familie: "Es war eine Gestalt, die ich liebte. Wie alle in der Familie, in der ganzen Familie – die Großeltern, die Tanten, die Mutter sprachen mit großer Liebe und immer wieder von dem Bruder." Aber auch Kafka liebte seine Schwestern. Sie waren für ihn, insbesondere in der ersten Phase seines Schreibens, wichtig als Zuhörerinnen. Vor ihnen war er "oft ein ganz anderer Mensch gewesen . . . ergriffen wie beim Schreiben", lesen wir in seinem Tagebuch. Und an einer anderen Stelle schildert er, wie er am 24. September 1912, nachdem er den letzten Satz der Erzählung Das Urteil geschrieben hatte, das Zimmer der Schwestern zitternd betrat, um sie ihnen vorzulesen. Und wir mit unserem heutigen Blick auf Kafkas Werk sehen vor uns schon die Szene, die mit Bewunderung und Ehrfurcht dem Bruder zuhörenden Schwestern.

Manchmal verlief es aber wohl etwas anders, wie Věra Saudková von ihrer Mutter gehört hat: "Am Morgen früh, die Schwestern waren schon beim Aufstehen, kam der Bruder in ihr Zimmer, man sah, dass er gar nicht geschlafen hat: 'Bitte, bitte, fünf Minuten, ich muss nur etwas vorlesen . . .' 'Was wieder, was willst du?' 'Fünf Minuten nur, einen Satz muss ich vorlesen.' 'Wir haben es eilig, müssen uns fertigmachen . . .'"  

In der Kindheit und Jugend Věras war Franz Kafka noch ein fast unbekannter Schriftsteller, ein Geheimtipp für eine Schar von Begeisterten. So war es denn auch für die Schwestern etwas ganz Besonderes, als sie 1935 nach dem Erscheinen der tschechischen Ausgabe des «Schlosses» ein kleines Honorar bekamen. "Die Mutter und ihre zwei Schwestern, gut angezogen, sind bei uns zusammengekommen, es war wie eine kleine Feier. Und sie hatten Tränen in den Augen: Franz gibt es uns."

© Carin Goldberg 

Die Familie David lebte in gesicherten Verhältnissen. Der Vater Josef David, ein Jurist, war als Geschäftsführer des Verbandes der tschechischen Privatversicherungen ein recht erfolgreicher Mann. Der Ehe der Eltern war aber kein großes Glück beschieden. Dafür waren die beiden Ehepartner viel zu unterschiedlich. Josef David hätte gerne ein gutbürgerliches Leben geführt, seine Frau Ottla war aber eher den sozial Benachteiligten zugewandt. Jeder Bettler konnte sicher sein, bei ihr daheim einen Teller Suppe zu bekommen. Kam Josef David dazwischen, mussten die unerwünschten Besucher schnell «weggeräumt» werden. Dazu diente ein großer Schrank in Věras Zimmer, wo sie sich verstecken konnten, bis die Luft wieder rein war. «Wir waren immer glücklich, wenn der Vater nicht zu Hause war. Meine Schwester und ich mussten um sechs zu Hause sein, um sechs wurde gegessen, und als die Uhr sieben zeigte, ging der Vater weg und kam um zehn Uhr wieder zurück. Aber um sieben ging er weg. Und das war dann für uns ein Paradies . . .» Die Harmonie und gegenseitige Zuneigung, die auf den alten Bildern der Mutter mit ihren zwei Töchtern so deutlich ist, konnte sich voll entfalten. «Ja, sie war glücklich mit uns, und wir waren glücklich mit ihr . . .» Dann kam aber die Geschichte mit ihrer ganzen Zerstörungskraft. Sie kündigte sich an mit Flüchtlingen aus Hitler-Deutschland. Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden. Zu den Gruppen, die gegen Krieg und Faschismus mobilisierten, gehörte in Prag auch der linke Verein Mladá kultura (Junge Kultur). Auch die Gymnasiastin Věra nahm an seinen Aktivitäten teil. In diesem Milieu formierte sich in Diskussionen, Dichterlesungen, Tanzabenden und Ausflügen die Generation, die – nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges – im politischen Leben der sozialistischen Nachkriegs-Tschechoslowakei eine große Rolle spielen sollte, nicht zuletzt in der Entwicklung von Dogmatismus stalinistischer Prägung zum Reformkommunismus des Prager Frühlings. Saudková fand hier ihre intellektuellen Freunde, die sie ihr ganzes Leben begleiteten.

 

Mit dem Münchner Abkommen und der Okkupation des Restes der Tschechoslowakei durch die Wehrmacht am 15. März 1939 nahm aber das Verhängnis seinen Lauf. Věra wollte gerade das Studium der Germanistik an der Karls-Universität beginnen, aber schon im Herbst 1939 wurden alle tschechischen Hochschulen im deutschen Protektorat geschlossen. Alle Dokumente der Nichtarier wurden schon damals mit dem roten J für Jude abgestempelt, der Zugang zu Parks, Kinos und Badeanstalten verboten. Das war erst der Anfang. Ab September 1941 mussten die Juden den gelben Stern tragen, und im Oktober begannen schon die Deportationen.

 

Zu den Ersten, die die Einberufung zum Transport bekamen, gehörten auch Ottlas Schwestern Elli und Valli mit ihren Angehörigen. Das Ziel des Transportes war Łódź (Litzmannstadt), das Ghetto Theresienstadt wurde erst im Dezember eröffnet. Ottla war davon nicht betroffen. Durch ihre Ehe mit einem Nichtjuden war sie geschützt. Nur dieser Schutz war für sie eine schwere Bürde. Sollte sie ihren nächsten Verwandten und Freunden mit dem Packen helfen, die letzte Nacht vor dem Transport mit ihnen verbringen, sie zu der Sammelstelle auf dem Messegelände begleiten, dann nach Hause gehen und weiter so leben, als wäre nichts geschehen? Für Ottla war es eine moralisch unerträgliche Situation, einem Leben in Lüge gleich.

Auch die Lage von Josef David war nicht einfach. Als jüdisch versippt, wie es hieß, hätte er seine Stelle bei der Versicherung verloren, und möglicherweise hätte ihm auch eine Internierung im Lager für arische Ehemänner jüdischer Frauen in Bystřice bei Benešov gedroht. 1942 ließen sich letztlich die Eheleute David scheiden. "Sie haben es uns aber nicht gesagt, dass sie geschieden sind, nicht die Mutter, nicht der Vater. Wir haben es nicht gewusst." Heute geht Věra Saudková davon aus, dass die Mutter die Scheidung wollte, früher hat sie sie aber dem Vater zur Last gelegt.

 

Es dauerte nur ein paar Wochen, bis Ottla Davidová an die Reihe kam. "Die Einberufung zum Transport ist mit der Post gekommen, wann, um wie viel Uhr und wo man sein muss. Wir sind alle mit meiner Mutter gegangen." Danach kehrte Věra nicht mehr in die elterliche Wohnung zurück, dafür war ihre Beziehung zum Vater zu stark belastet. Sie fand Unterkunft bei

Karel Projsa, einem der frühen Kafka-Begeisterten, der auch ihre Mutter kannte und der, wie man in der Familie munkelte, sie sogar liebte und heiraten wollte. Als eines Tages jemand auf seine Tür einen Davidstern malte, heirateten Karel Projsa und Věra Davidová.

Ihren Unterhalt verdiente Věra als Gymnastiktrainerin in der Gymnastikschule von Bela Friedländerová. Die Hauptbeschäftigung von ihr und ihrer Schwester bestand aber im Auftreiben von Lebensmitteln für Pakete, die sie der Mutter nach Theresienstadt schickten. Eigentlich wollten sie ihr nach Theresienstadt folgen, durften es als Halbjüdinnen aber nicht. Über das Leben ihrer Mutter im Ghetto waren sie relativ gut informiert über Kassiber, die ihnen ein junger Tscheche brachte, dessen Namen sie nie erfuhren und der für seinen riskanten Dienst nie etwas nahm. In ihren Briefen an ihre allerliebsten Mädchen vergaß Ottla nie auch den Vater grüßen zu lassen. Ihr letzter Kassiber klang recht euphorisch: Sie seien im Aufbruch und packten, sie sollten entweder nach Schweden oder in die Schweiz gebracht werden.

In einer streng abgeschirmten Baracke kümmerte sich Ottla um jüdische Kinder aus dem Ghetto Białystok, die wohl für Austauschaktionen vorgesehen waren. Es gab also Hoffnung. "Wir haben gehofft – wie jede Familie –, aber nicht fest. Wir hatten Hoffnung und waren doch hoffnungslos. Wir haben nicht gewartet, dass sie nach Kriegsende kommt, aber auch nicht erwartet, dass sie tot ist." Gleich in den ersten Friedenstagen ist Prag wie auf einen Schlag voller Menschen, die aus den Konzentrationslagern zurückkehren. Und unter ihnen haben Věra und ihre Schwester Helena nach der Mutter gesucht. "Ich bin auf die Straße und zum Bahnhof gegangen, meine Schwester blieb zu Hause, hat ihre Kleider und Schuhe genommen und stand an der Tür. Man hat gedacht, vielleicht hat sie vergessen, wie sie heißt, vielleicht hat sie vergessen, wo sie wohnt, aber vielleicht wird sie sich entsinnen. Aber sie kam nicht."

Und bald wurde zur Gewissheit, dass die Kinder aus Białystok mit ihren dreiundfünfzig Pflegern,

darunter Ottla Davidová, nicht in die Schweiz oder nach Schweden gefahren waren, sondern nach Auschwitz, wo sie alle sofort vergast wurden. Für die beiden Schwestern wurde die Erinnerung an das Leben mit der Mutter zum Erbe und zur Verpflichtung, ihr Tod zum unüberwindbaren Schmerz, der sie stets begleitete, aber nicht daran hinderte, ein erfülltes und mitunter glückliches Leben zu führen.

Věra fand es in der Ehe mit dem siebzehn Jahre älteren Erich Adolf Saudek, einem bekannten Shakespeare-Übersetzer. Auch seine Nächsten waren in der Shoah ermordet worden. "Ich hätte nicht mit jemandem leben können, der keine eigene Erfahrung mit dem Holocaust hatte." Aber auch für Věra hatte das Lebensglück einen Preis. Der 1954 geborene Sohn Josef starb mit sechs an Leukämie, und 1963 erlag Erich Saudek beim Baden im Meer vor den Augen seiner Familie einem Herzinfarkt. Nach seinem Tod arbeitete Věra Saudková als Verlagslektorin, übersetzte aus dem Deutschen und wurde zu einer gesuchten Gesprächspartnerin für die nach Prag kommenden Kafka-Forscher. In der Zeit der Normalisierung deckte sie mit ihrem Namen Übersetzer, die Arbeitsverbot hatten.

Věra Saudková gehörte nicht zu den Menschen, die ein ganz konkretes Ziel im Leben anstreben. Das Leben selbst war für sie ein Ziel, ein Wert an sich. Und zu der Lebensfülle – nicht etwa der Lebenserfüllung – gehörten für sie ganz selbstverständlich auch Kinder. Vier Söhne und eine Tochter sind aus ihrer Ehe mit Erich Saudek hervorgegangen. Die Freude über den Nachwuchs aber hatte noch einen besonderen Aspekt: ". . . dass die Familie Kafka lebt, dass sie reich an Kindern wurde, dass nicht alle getötet wurden."

 

Die Autorin Alena Wagnerová, geboren in Brünn, lebt in Saarbrücken und Prag. Sie hat wiederholt zu Themen um Franz Kafka publiziert. (s. hier auch: Alena Wagnerova)

 

 

 

 

© Textbeitrag mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der NZZ (Erstveröffentlichung am 31.01.2012)

 Fotos: Bibliothek Wolfsburg, faz.net, Bundesarchiv, franzkafka.de, Fischer

 

 

 


 

 

 

 

 

 



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