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Kulturmagazin aus Prag
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2012: Diesseits von Brüssel

Ameisenhändler, Billigflieger und andere Europäer.

 

 

Von Prof. Dr. Karl Schlögel

 



Was kann man als halbwegs intelligenter, interessierter und zunehmend auch in Wirtschaftsfragen informierter Mensch zur Euro-Krise sagen? Ich habe dazu eine Meinung, aber keinen Durchblick, vor allem aber: Ich habe keine Antwort, wie die Krise zu lösen ist. Das ist schlimm, aber auch wieder nicht so schlimm, weil sich herausgestellt hat, dass selbst jene Personen, die an der Spitze der für die Geheimnisse der Geldzirkulation wie überhaupt für die Wirtschaft zuständigen Institutionen stehen, diesen Durchblick nicht haben.

Was ich zu bieten habe, ist nicht ein archimedischer Punkt, von dem aus die unübersichtliche und daher beunruhigende Lage "in den Griff" oder "auf den Begriff" gebracht werden könnte, sondern nur eine Reihe von Beobachtungen. Man könnte es auch als eine Selbstbeobachtung beschreiben, in der wir erfahren, was der Fall ist und woran wir sind – diesseits von Kassandrarufen, die immer bequem sind, weil sie den Vorteil haben, eindeutig zu sein, und im Unterschied zu einer Gegenwart, die vieldeutig und offen ist, eben "das Dunkel des gelebten Augenblicks" (Ernst Bloch).

Es gibt etwas, was in den Korridoren von Brüssel so wenig zur Kenntnis genommen wird wie in den Rezepten zur Rettung des Euro. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich, dass "man" in ganz verschiedenen Welt lebt. Wenn ich frühmorgens die Nachrichten höre, in denen die aktuellen Indizes und Zahlen durchgegeben werden – Dow Jones, Nikkei-Index, Nasdaq, Dax, die neuesten Konjunkturberichte, die Firmenabschlüsse –, frage ich mich, für wen diese Botschaften bestimmt sind, wer damit etwas anfangen kann, ob wir alle inzwischen schon Aktienbesitzer sind, Eingeweihte, Bonus-Empfänger.

Ob es sich wirklich um sinnvolle Informationen handelt oder nicht eher um Hintergrundmusik, Muzak, wie man sie auf den Toiletten von Kaufhäusern und Flughäfen zu hören bekommt, eine Einstimmung in den Sound der globalen Welt, um etwas eher Atmosphärisches. Es kommt mir vor wie eine auf dem Kopf stehende Welt, die mit dem, was ich beobachte, nur wenig zu tun hat.

Ich berichte lieber von dem, was ich an meinen eigenen Messstationen feststellen kann: Das sind Grenzübergänge, Warteschlangen vor den Konsularabteilungen der Schengen-Staaten, Check-in-Schalter, die Veränderung der Immobilienpreise, die Fahrpläne europäischer Busgesellschaften, die Statistik der Grenzbeamten, die Destinationen des Städte-Tourismus, die Basare, die Berichterstattung von Zeitungen, der Festival- und Kulturbetrieb, die Frequenz von Fähren – jene Kriechströme also, die Europa zusammenhalten.

Um die These vorwegzunehmen: Es gibt ein Europa, das intakt ist und funktioniert, das aber in dem ganzen Krisendiskurs nicht vorkommt. Europa ist viel weiter, als viele Berufseuropäer annehmen. Europa gibt es wirklich, es muss nicht – auch nicht mit besten Absichten – erst ausgedacht werden. Dieses Europa ist auch größer als die Euro-Zone, seine Grenzen verlaufen nicht einmal entlang der Schengen-Staaten. Die Europäer blickten beim Eurovision Song Contest sogar auf den Crystal Palace, der in Baku in die Bay des Kaspischen Meeres hinaus gebaut wurde, und bekamen so mit, wie es um Architektur, Land und Leute, Menschen- und Bürgerrechte an dieser anderen Grenze Europas steht.

Fans aus vielen Ländern waren bei der Fußballeuropameisterschaft zu Zehntausenden unterwegs, wohin sie keine noch so raffinierte Aufklärungsveranstaltung gebracht hätte. So haben sie einen Eindruck bekommen von Charkow und Donezk, aber auch von der alten Metropole Galiziens Lemberg, von Kiew, der "Stadt der Städte", oder von Boomtown Warschau. Aber es geht hier gar nicht um das Aufzählen von Highlights, sondern darum, dass es europäische Ereignisse gibt, auch wenn sie nichts mit dem Europa-Diskurs im engeren Sinn zu tun haben. Sie stärken oder schwächen den Zusammenhalt der Europäer.

Man könnte hier weitere europäische Ereignisse von Rang hinzufügen. Dass sich nach Jahren der Stille, des Rückzugs in Moskau und anderen russischen Städten 'die Gesellschaft' zurückgemeldet hat, einfallsreich, hartnäckig, ihrer Sache sicher. Und die Kundgebungen und Spaziergänge wie die Reaktion auf die Prozesse gegen die Frauen von Pussy Riot sind natürlich Ereignisse, die etwas mit der Bildung einer europäischen Öffentlichkeit zu tun haben. Europa ist auch da, wo es nicht als solches wahrgenommen wird. Es wurde gerade wieder einmal gefordert, dass Studenten durch Europa reisen sollen, als Maßnahme gegen Europamüdigkeit. Dabei sind die Studenten längst unterwegs, vielleicht sogar zu viel unterwegs. Sie kursieren zwischen Humboldt-Uni oder Viadrina und den Universitäten in Krakau, Bergen und Salamanca, die Wiederaufnahme der peregrinatio academica aus dem frühneuzeitlichen Europa. Es handelt sich mittlerweile um Hunderttausende von Erasmus-Studenten, die Jahr für Jahr zirkulieren und die, wenn sie schon keine Scheine erwerben, so doch lebensweltlich oft Wichtigeres mit nach Hause bringen: Sprachkenntnisse, Freundschaften, Ehepartner. Es gibt niemanden von ihnen, der nicht vertraut wäre mit dem Netzwerk und den Möglichkeiten der Billigfliegerei.

Der Kultur- und Kunstbetrieb hat die ästhetischen Konjunkturen und Moden synchronisiert. Wer sich in den Museen, Festivals, Galerien bewegt, bewegt sich in einem Kontinuum des Immerschonbekannten und Immerwiederneuen. Europäisiert und synchronisiert werden die Jubiläen, die Festivals, die Jahrestage: ob 1. September, Oktoberfeste oder der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, D-Day, 22. Juni und vielleicht noch der 1. Mai. Europäische Museen, europäische Erinnerungsorte, Europäische Kulturhauptstädte – wir sind immer eingebettet. Oder sollten wir sagen: Wir entkommen der integralen europäischen Kultur nicht mehr? Aber von dieser intakten, funktionierenden Europäizität spricht man nicht, weil sie immer schon vorausgesetzt wird und gar nicht der Rede wert ist.

Das gilt im selben Maße für das tagtäglich, wöchentlich, monatlich und Jahr für Jahr aufs Neue verfertigte Europa des Verkehrs, des Austausches von Gütern, Personen und Ideen. Man muss sich nur für einen Augenblick vorstellen, was geschieht, wenn die Verkehrsströme, die Europa zusammenhalten und zusammenschweißen, für einen Augenblick, sagen wir für eine Woche, angehalten würden. Das wäre ein Moment des Ausnahmezustandes, in dem die ganze Tragweite jener still funktionierenden Routinen und Praktiken ins Bewusstsein rückte. Es bedarf des Ausbruchs des Vulkans Eyjafjallajökull und der von ihm in die Atmosphäre geschleuderten Asche, um den Flugverkehr zu unterbrechen und Flughäfen in Notaufnahme und Zeltlager für gestrandete Passagiere zu verwandeln. In solchen Augenblicken wird schlagartig klar, worauf unsere Zivilisation basiert: auf dem stillschweigenden Funktionieren von Routinen, das sonst nicht der Rede wert ist.

Die Kommissionsmitglieder, die in der Meisterung der Euro-Krise versagen, besteigen nach ihrer Sitzung den TGV, der sie in einer oder drei Stunden zurück nach Amsterdam oder Paris bringt. Die Ware, die von Rotterdam nach Moskau befördert wird, trifft just in time ein trotz des Schlagabtausches über Raketenschutzschild ja oder nein. Daher wäre die Verschmelzung von russischen und europäischen Eisenbahnstrecken – die fällige Angleichung von Schmal- und Breitspur – ein geradezu epochaler Fortschritt, weitaus bedeutsamer als alle Nato-Erweiterung, von der niemand weiß, wofür und wogegen sie eigentlich noch gerichtet sein soll.

Neue Korridore verzahnen Länder und lassen Städte zu Nachbarstädten werden: Paris–Köln, Paris–London, Mailand–Rom, Wien–Budapest, Berlin–Warschau – die Transeuropäischen Netzwerke sind vor vielen Jahren von den Brüsseler und Straßburger Europäern vorausschauend geplant worden. Die Geografie von Nähe und Ferne ist in Bewegung geraten: Meisterwerke der Ingenieurskunst wie die Brücke zwischen Kopenhagen und Malmö, der Sankt-Gotthard-Tunnel, die Brücken über die Dardanellen sind wie Scharniere, Klammern, die Europa fester denn je zusammenbringen. Und es funktioniert offensichtlich.

Für mich bleibt das Ende der Spaltung Europas und die Arbeit an ihrer Überwindung das große Ereignis des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Auch vor dem Hintergrund der ganz neuen Szenarien, die wir seit dem 11. September 2001 und der arabischen Revolution kennengelernt haben. In meinen Augen ist die Finanzkrise von 2008 ff. Teil II der großen Abwicklung, die 1989 begonnen hat. In Abwicklung Teil I waren wir im Westen nur Zuschauer, in Teil II sind wir selber an der Reihe. In Abwicklung Teil I konnten wir kommentieren und uns einbilden, wir wären die Herrn des Verfahrens, jetzt merken wir, dass es Kräfte gibt, die mächtiger sind als Machthaber.

Den Rat, den wir meinten, anderen geben zu können, können wir jetzt selbst gebrauchen. Vieles, was jetzt geschieht, ist wie ein Déjà-vu. Wir haben das schon einmal gesehen: wie eine Antwort nach der anderen sich als Ausrede herausgestellt hat, wie sich Rezepte als Scheinrezepte erwiesen haben, wie die Herren des Verfahrens mit einem Mal am Ende ihres Lateins angekommen waren und sich ihre Ratlosigkeit eingestanden. Das war die Stunde der "Helden des Rückzugs", die Stunde, in der "die sich selbst beschränkende Revolution" und nicht die pathetische Geste zählte.

Vieles heute erinnert an die Erschöpfung einer politischen Klasse, die in die Jahre gekommen ist und von Erschöpfung und Auszehrung gezeichnet ist. Irgendwann platzen die Blasen, die gefälschten Doktortitel, die ungedeckten Kredite, die Meisterwerke, die den Markt überfluten, die Wellnesscenter in der Mark und die Flughäfen, die nur errichtet, dann aber nicht in Betrieb genommen werden können, weil sie mit fremdem, geborgtem Geld gebaut worden sind. Wir alle haben unser eigenes Griechenland und unsere eigenen Investitionsruinen, gebaut im Vertrauen, dass es immer so weitergeht wie bisher. Die Korruption, die immer eine der anderen, vor allem eine des anderen "Systems" war, tritt jetzt ganz nah vor Augen. Das ist die Situation, in der das Vertrauen erodiert, und die Selbstverständlichkeiten aufhören, selbstverständlich zu sein.

Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung von der Apathie und Passivität der unter sozialistischen Verhältnissen sozialisierten Bürger springt ins Auge, dass diese Bürger, von ihrem Staat im Stich gelassen, sich in Bewegung gesetzt haben. Auf den Zusammenbruch der Versorgung in den 1980er-Jahren haben sie mit Selbsthilfe, mit dem Übergang zum einfachen Waren- und Naturalientausch reagiert. Sie haben nicht gewartet, dass das Manna vom Himmel fällt.

Es war die Selbstversorgung, die Naturalwirtschaft, der Tauschhandel, der das Auseinanderfallen des gesellschaftlichen Zusammenhangs verhinderte, und daher ist das Aufkommen des Basars, der Shopping-Touristen und Ameisenhändler in den 1980er- und 1990er-Jahren mehr als eine marginale Erscheinung. Auf ihnen gingen künftige Unternehmer ihre ersten Schritte, über sie nahm die geschlossene Gesellschaft von einst Kontakt auf mit der weiten Welt draußen, auf ihnen akkumulierten sich erst die kleinen, dann die größeren Kapitalien, sie waren erste Schulen der Weltläufigkeit.

Wenn es einen Grund für Zuversicht in Sachen europäischer Einigung gibt, dann, weil es Anhaltspunkte für die Fähigkeit zur Krisenbewältigung in der Vergangenheit gab. Die Frage ist, ob die westlichen Europäer die Abwicklung des ihnen so vertrauten, aber unhaltbar gewordenen Zustandes so ruhig bewältigen werden, wie dies den östlichen Europäern gelungen ist. Vieles spricht dagegen. Die Westeuropäer, vor allem die der Kernzone, sind krisenunerfahren und krisenentwöhnt, sieht man von zeitweiligen Rezessionen und Phasen zeitweilig gestiegener Arbeitslosigkeit ab. Sie mussten nicht lernen zu improvisieren, denn ihr Staats- und Gemeinwesen war in der Regel wohlorganisiert, zuverlässig, berechenbar.

Wie wird eine Gesellschaft, die sich auf so hohem Niveau über so lange Zeit auf die Verlässlichkeit und Intaktheit ihrer Routinen zu verlassen gelernt hat, wie kann eine solche Gesellschaft mit einer Situation fertig werden, in der sich der Entscheider und Macher Ratlosigkeit bemächtigt, mit einer Situation also, in der nicht mehr nur Routine, sondern Improvisation, nicht Vertrauen auf das Bewährte, sondern Geistesgegenwart für das Unvermutete gefragt sind?

Es gibt keine Rezepte, aber vielleicht Anhaltspunkte, Verhaltensregeln für den Ernstfall. Was jetzt so schockierend neu ist, ist seit Längerem schon im Gange. Das Ende des Sowjetsystems, das Ende des Ostblocks hat Migrationen ausgelöst, Städte im Norden, die nicht mehr zu halten waren, sind aufgegeben worden. Die innereuropäischen Migrationen setzen sich fort, jetzt sind andere an der Reihe. Ganze Berufsgruppen haben sich bei der Abwicklung des Ostblocks aufgelöst – es gab zu viele Lehrer in Weltanschauungsfragen und zu wenige Juristen.

Etwas Ähnliches findet jetzt weiter westlich oder südlich statt. Die Planökonomie hatte ihre eigene Fata Morgana gebaut, unökonomisch, verschwenderisch, sinnlos. Die Spekulation weiter westlich und weiter südlich hat ganze Landschaften mit Autobahnen, die ins Nirgendwo führen, und Städte, die nichts mehr als Geisterstädte sind, in den Sand gesetzt. Die rechtsstaatliche Ordnung und der Egoismus der vielen, der zum Vorteil aller werden sollte, hat auch im Westen nicht vor einer Ökonomie der Verantwortungslosigkeit (Rudolf Bahro) bewahrt. Die Krise ist bekanntlich die Stunde der Wahrheit, und die Desillusionierung als Verlust von Illusionen ist eine Form der Selbstaufklärung.

Ich sehe keine Lösung weit und breit. Ich bin erstaunt, wie banal gestrickt selbst die Darstellungen und Deutungen der Profis sind, die man in Talkshows hören kann. Auf Anhieb kann man die Simplifikatoren und Demagogen erkennen. Wenn man etwas lernen konnte aus der Abwicklung des alten Zustandes, dann, dass kurze Prozesse und heroische Gesten zu nichts führen. Solange es keine überzeugenden Antworten gibt, muss man sich tastend vorwärts bewegen, abwägen, Zeit gewinnen.

Der angemessene Bewegungsmodus ist nicht der kurze Prozess oder das visionäre Projekt, sondern muddling through, Sich-Durchwursteln. Aber auch das alarmistische Gerede – als sei das Ende des Euro das Ende Europas – steht einer nüchternen Bestandsaufnahme im Wege. Dass wir alle mit eingezogenen Köpfen dasitzen und gefasst sind, dass etwas passieren kann, ist ein gutes Zeichen, ein Zeichen dafür, dass Europa reif geworden ist. Kommt Zeit, kommt Rat, wenn es denn einen gibt.

 


© Abdruck des gekürzten Textes mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Karl Schlögel; Vortrag im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin (ilb) 2012 am 14.09.2012; Erstveröffentlichung: Die Welt, 21.10.2012; Foto: dpa

 

 

 

 

2005: Europa testet seine Grenzen.

Eine Suchbewegung

von Prof. Dr. Karl Schlögel

 

Immer wenn ich an einer Universität im Westen oder Süden Deutschlands unterwegs bin und sage, dass es von Berlin bis zur polnischen Grenze nur achtzig Kilometer oder eine knappe Stunde Fahrtzeit im Zug sind, dann treffe ich auf ein ungläubiges Staunen. Es gibt die abenteuerlichsten Vorstellungen darüber, was "hinter Berlin" ist. Man kann die Fremdheit immer noch an dem großen Erstaunen messen, das sich einstellt, wenn man zum ersten Mal Kontakt mit "dem Osten" gehabt hat. Viele sind verblüfft, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben in Krakau sind. Wenn sie die Warschauer Skyline der neuen Wolkenkratzer sehen, trauen sie ihren Augen nicht. dass Krakau eine der ältesten Universitätsstädte ist, die man in einem Atemzug mit Padua, Oxford und Heidelberg nennen muss, leuchtet ihnen erst ein, wenn sie dagewesen sind. Kaum jemand weiß, dass die Hauptstadt Lettlands, Riga, neben Brüssel und Barcelona eines der Hauptzentren des europäischen Jugendstil gewesen ist. Viele sind hingerissen, wenn sie endlich einmal in Leningrad/ Sankt Petersburg gewesen sind, und fragen sich, wie es kommt, dass dieses Zentrum europäischer Kultur so fernab, so weit weg, so außerhalb des westeuropäischen Horizontes liegt. Dies betrifft nicht nur das Durchschnittsbewusstsein, sondern auch die Hochebene der Europapolitik. Noch immer ist das Bild von Europa Westeuropa-zentriert. Man denkt zuerst an Brüssel, Straßburg, Luxemburg oder gar Maastricht, wenn man vom neuen Europa spricht, nicht aber an Prag, Warschau oder Budapest, obwohl von dort aus doch ganz Europa in Gang gekommen ist. Und kaum jemand denkt an Kiew, obwohl Kiew einmal die "Mutter aller russischen Städte", das Zentrum der slawischen Christenheit gewesen ist. Die Wahrnehmung Europas ist durchgängig asymmetrisch. Die östlichen Europäer interessieren sich weitaus mehr für das westliche Europa als umgekehrt. Millionen von Polen, Tschechen, Russen sind im letzten Jahrzehnt unterwegs gewesen und haben sich first hand- Informationen und Eindrücke vom anderen Europa verschafft − eine vergleichbare Bewegung aus dem westlichen in das östliche Europa hat es nicht gegeben. Das liegt nicht nur daran, dass die Infrastruktur im Westen besser ist oder dass es im Westen mehr zu sehen gibt, sondern auch an einem mangelnden Interesse und an Uninformiertheit bei uns, im Westen. Auch wenn es partiell zutrifft, dass der Osten 'rückständiger' und nicht so modern ist, so ist das doch noch kein Grund für die phantastischsten Vorstellungen. Folgt man der Berichterstattung, so gewinnt man manchmal den Eindruck, dass der Osten nur noch aus Chaos, Zusammenbruch und Kriminalität besteht, und man wundert sich, wenn man da ist, dass die Kinder zur Schule gehen, ihrer Arbeit nachgehen und ihr − freilich anstrengendes − Leben führen. Kurzum: Auch östlich von Berlin ist Europa, ein anderes Europa, das es noch zu entdecken und zu verarbeiten gilt.

Ost- und Westeuropa rücken zusammen. Es entsteht ein neues Netzwerk und Koordinatensystem. Mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer hat sich das ganze Koordinatensystem in Europa verändert. In Berlin sehe ich Autos mit Autokennzeichen aus Lettland, Russland, der Ukraine und natürlich Polen. Die Entfernungen sind geschrumpft. Städte, die sich ganz fremd gewesen sind, sind Nachbarstädte geworden. Man ist jetzt in knapp fünf Stunden aus Berlin in Prag und Warschau. In zwei Stunden in Stettin und Posen. Das Netz der Flugverbindungen hat sich quantitativ und qualitativ verändert. Man kann heute in viele Städte in der russischen Provinz fliegen. Europa vernetzt sich neu. Ich kann es gut beobachten an der deutsch-polnischen Grenze, wo die Karawane der Lastwagen oft in einem sechzig Kilometer langen Stau steht. Ganz Europa findet sich auf diesen Truckstops ein: aus Barcelona und Helsinki, aus Neapel und Vilnius, aus Rotterdam und Samara, aus Teheran und London. Es bilden sich neue Hauptverkehrsrouten und Korridore heraus, und neue Grenzen. Die Große Grenze − Eiserner Vorhang − gibt es nicht mehr, dafür sehr viele kleine und neue.Wer über das Baltikum von Berlin nach Sankt Petersburg fährt, überquert jetzt mindestens vier Grenzen, wo es früher nur zwei gab.

Das innere Zentrum, die innere Achse von Nachkriegseuropa war der Eiserne Vorhang, die Mauer, die alles geteilt hat. Sie gab Europa eine bipolare Geographie. Die Mauer war das Ordnungsprinzip des geteilten Europa. Das ist jetzt anders. Europa driftet in seine alten historischen Regionen auseinander, zum Teil auf zivil-friedliche Weise − wie in der Tschechoslowakei oder im Baltikum −, zum Teil in gewaltsamer und gewalttätiger Form − wie im späten Jugoslawien oder in der Ex-Sowjetunion, und vielleicht auch im westlichen Europa, wo sich ebenfalls ganz unerwartet die Leidenschaft des national-eigenständigen Staates zurückgemeldet hat. In Europa treten schärfer als bisher die historisch verschiedenen Regionen wieder hervor: Nordosteuropa um die Ostsee herum. Es handelt sich dabei um den von der Hanse geprägten Raum, der nach dem Wegfall der Spaltung ein erstaunliches Revival erlebt. Im Ostseeraum wird der Traum von Hongkong geträumt: in der Doppelstadt Kopenhagen/Göteborg, in Kaliningrad/Königsberg und in der größten städtischen Agglomeration an der Ostsee − in der Fünf-Millionenstadt Sankt Petersburg. Südosteuropa, der Raum im Einzugsbereich der bedeutendsten Metropole der Region: Istanbul. Dazu gehört − trotz der religiösen Differenz − ein Teil der Schwarzmeer-Region, der Ägäis und des Balkan, bis Bukarest und Sofia. Sogar im russischen Süden, auf der Krim und in der Ukraine spürt man etwas vom Einfluss der osmanisch-europäischen Metropole. Bedeutend erscheint mir hier nicht der Islamismus, sondern die Modernisierungspotenz und die Kraft die 12-Millionen-Metropole Istanbul.

Osteuropa im eigentlichen Sinne, d.h. die Russische Föderation, Belarus und die Ukraine. Auch hier ordnen sich die Verhältnisse neu. Am Aufstieg Moskaus zu einer Global City der eurasischen Welt besteht m.E. kein Zweifel, aber auch Minsk und Kiew werden eine große Rolle im Netzwerk spielen. Sie werden die Modernisierungszentren ihrer Region sein. Schließlich Mitteleuropa oder Central Europe, also jene Region, die sich nicht ganz einfach definieren lässt. Sie ist durch die Teilung am massivsten beschädigt worden, findet jetzt aber sehr rasch wieder zusammen − also Städte wie Mailand und Wien, Budapest und Bratislava, Warschau und Vilnius, Lemberg und Krakau, Prag und München. Trotz einer verheerenden Geschichte im 20. Jahrhundert, in der wesentliche und integrale Elemente Mitteleuropas verschwunden sind − vor allem die jüdische und deutsche Diaspora −, gibt es doch nach wie vor ein starkes Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und Tradition, das auch für die Modernisierung heute noch tragfähig ist. Das eigentliche Westeuropa mit seinen Zentren Brüssel, Luxemburg, Straßburg und noch mehr London, Paris, Amsterdam, mit der großen Achse der Blauen Banane − von Manchester über den Rhein und Frankfurt am Main bis Marseille, Barcelona und Turin −, ist das eigentliche und dynamische Zentrum der Einigung Nachkriegseuropas und wird es wohl auch bleiben. Es ist in vieler Hinsicht die europäische Küste der amerikanisch-transatlantischen Welt, so wie Hellas einmal am römisch beherrschten Mittelmeer gelegen war.

Das südliche Europa, wo die Ewige Stadt und das Herz Alteuropas schlug und schlägt, das Zentrum des Abendlandes. Diese Übersicht ist nicht vollständig.Was ich damit nur andeuten wollte, ist, dass dieses polare Europa von einst sich aufgelöst hat in ein multipolares und dass wir mit diesen

Verschiedenheiten, diesen Fliehkräften, aber auch mit diesen Stärken rechnen müssen.

Europa lässt sich ja nicht einfach in statistischen Daten oder in der Angabe von Entfernungen in Kilometern erfassen, sondern es ist eine Sache des Kopfes, der kollektiven Erinnerungen, der nationalen Traumata oder Sehnsüchte. Das gilt natürlich besonders für so ein schwieriges und belastetes Verhältnis wie das zwischen den Deutschen und den Völkern des östlichen Europa. Auf Jahrhunderte einer faszinierenden und inspirierenden Kooperation folgte im 20. Jahrhundert eine Phase beispielloser Destruktion, in der das alte Netzwerk deutscher kultureller Beziehungen unterging. Nach dem deutschen Krieg und der deutschen Herrschaft von 1939 bis 1945 konnte nichts mehr sein wie zuvor. Selbst ein halbes Jahrhundert Friedenszeit kann solche Traumatisierungen nicht einfach löschen. Krieg, Verfolgung, Besatzungsregime, Weltanschauungskrieg unter Aufkündigung aller bis dahin geltenden Normen, Völkermord und schließlich die Reaktion auf all dies in Vertreibung und ethnischer Säuberung − all das hat tiefe Spuren hinterlassen.

Andererseits gilt aber auch: Jede Generation macht sich ihr eigenes Bild von der Welt und von der Vergangenheit. Mit neuen Erfahrungen, die man heute macht, kommt auch eine andere Geschichte in den Blick. Die jetzt heranwachsenden Europäer zeichnen sich ihre Europakarte neu. Und darin spielt die Gegenwart vielleicht eine größere Rolle als die Vergangenheit, von der die jungen Leute nur aus der Erzählung wissen können. Das Verschwinden des Ostens zieht auch das Ende des alten Westens nach sich. Was Europa die ganze Nachkriegszeit über war, war es durch die Teilung der Welt. Nachkriegseuropa war die Opposition von "Demokratie und Diktatur", von "Kapitalismus und Sozialismus", von "Freiheit und Unterdrückung". Dies sind ideologische Chiffren für die Existenz zweier Hemisphären, zweier verschiedener Formen des way of life. Die Teilung bestimmte die geistige Ökonomie des Kontinents. Sie definierte die Alternativen bzw. den Mangel an Alternativen. Man musste sich immer entscheiden. Die Losung Nachkriegseuropas war das Entweder-Oder, die Eindeutigkeit, das Ja oder Nein. Nun gibt es den Osten nicht mehr.Was dort entstanden ist, ist weder das Alte noch auch das Neue. Es ist ein Nicht mehr und ein Noch nicht. Es ist keine Diktatur mehr, aber auch noch keine richtige Demokratie, vielleicht eine Demokratur. Die Eindeutigkeit ist dahin. Der Westen hat seinen Feind im Osten verloren. Die Barbaren, ohne die der Westen offenbar nicht leben kann, kommen heute aus anderen Weltregionen. Was der alte Westen war, war wesentlich Antiwelt, also Anti-Osten, Anti-Kommunismus. Der Spiegel, in den der Westen geblickt hat, ist verschwunden.

Das neue Europa entspringt nicht dem Kopf des Zeus, sondern wächst von unten. Dabei kann uns der neue Osten einiges lehren. In den letzten zehn Jahren haben die Menschen im östlichen Europa eine große Umwälzung miterlebt und mitgetragen, von der alle befürchtet haben, sie würde in einer politischen und sozialen Katastrophe enden. Trotz der schrecklichen Kriege in Jugoslawien und im Kaukasus ist die "Transformation" im großen und ganzen auf friedliche und humane Weise abgelaufen. Obwohl sich die Lebensverhältnisse, einer ganzen Gesellschaft auf zum Teil drastische und brutale Weise geändert haben, kam es zu keinen Aufständen, Revolten oder militanten Konflikten. Die Menschen haben ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Disziplin, an politischer Weisheit und Geduld an den Tage gelegt. Konfrontiert mit fast ausweglosen Alltagssituationen, rapider Umstellung der Lebensverhältnisse, haben sie die Nerven behalten, verfielen nicht in Hysterie und Panik und entwickelten ein Höchstmaß an schöpferischer Improvisation. Dieses wachsende Europa ist nicht identisch mit den strategischen Europaplanungen in Brüssel, Luxemburg und Straßburg. Die zentralen Planungen sprechen immerzu von der "Erweiterung Europas". In dieser Formulierung stecken verschiedene Illusionen. Erstens: Die Erweiterung der Europäischen Union ist nicht dasselbe wie die Erweiterung Europas.

Europa ist auch, was nicht zur EU gehört. Auch das östliche Europa gehört zu Europa. Was das westliche Kerneuropa vom östlichen Europa lernen könnte, ist vor allem das Vertrauen in die Erneuerungsfähigkeit von Institutionen, in die Stärke der Basisaktivitäten der zivilen Gesellschaft und in die Improvisationsfähigkeit und Kraft der vielen Individuen. Gesellschaften wie die polnische etwa haben demonstriert, dass tiefgreifende und nachhaltige Umwälzungen, die von den Menschen selbst verstanden und gewünscht werden, auch mit ihnen durchgeführt werden können. Dieses Vertrauen auf die Selbsttätigkeit der Bürgergesellschaft ist aber die wichtigste Voraussetzung für das Gelingendes neuen Europa.

 

© Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Karl Schlögel; erstveröffentlicht in Passagen, Nr. 36, 2005

 

Karl Schlögel, *1948, hat an der FU Berlin, in Moskau und St. Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, Autor und Herausgeber u.a. der Bücher:

Terror und Traum: Moskau 1937, München 2008
Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt a.M. 2007 (Hrsg.)
Das Russische Berlin: Ostbahnhof Europas (Ergänzte und aktualisierte Neuausgabe von Berlin, Ostbahnhof Europas), München 2007
Planet der Nomaden, Berlin 2006
Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, München 2005
Kartenlesen oder: Die Wiederkehr des Raumes, Zürich 2003
m Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003
Promenade in Jalta und andere Städtebilder, München 2001
Die Mitte liegt ostwärts: Europa im Übergang, München 2002
Petersburg: Das Laboratorium der Moderne 1909-1921, München 2002
Berlin, Ostbahnhof Europas: Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998
Go East oder die zweite Entdeckung des Ostens, Berlin 1995
Moskau lesen, 1984, geänderte Neuauflage 2011: Moskau lesen. Verwandlungen einer Metropole, Carl Hanser Verlag, München 2011.
Für seine historiografischen und essayistischen Werke wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Sigmund Freud-Preis, dem Georg Dehio-Buchpreis, dem Lessing-Preis, dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung (2009) und zuletzt mit dem Hoffmann-von-Fallersleben-Preis für zeitkritische Literatur und dem Franz Werfel-Menschenrechtspreis(2012). Schlögel lebt in Berlin.

 

 

 

Historiker sein, das heißt Geschichte erzählen und Geschichte schreiben zu können (Karl Schlögel über seine Profession)

 

 

© Brockdorff Klang Labor - Festung Europa 



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