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Krims Märchen

Über Kommentare zur Lage in der Ukraine und auf der Krim

von Katja Schickel



Es war einmal...

Wenn mein Nachbar seine Kinder schlägt, ist dann die notwendige Konsequenz, dass ich meine auch schlage? Oder versuche ich, da ich Gewalt - insbesondere gegen Kinder - ablehne, mit ihm zu sprechen? Wenn sich dies als schwierig erweist, wende ich mich an andere Verwandte und Bekannte, damit die auf ihn einwirken können – und, aber nur dann, wenn das alles nichts nützt, werde ich mit dem Jugendamt Kontakt aufnehmen oder ihn anzeigen.

 

Russisches Roulette

Man kann die jetzige Logik der Macht, die noch aus dem Kalten Krieg stammt, nicht gutheißen, indem man den Rechtsbruch Russlands auf der Krim aufrechnet gegen die bekannten Rechtsbrüche der USA – und das auch noch Moral nennen (Win-win-Situation trifft Nullsummen-Spiel). Schlimm genug, dass „der Westen“ (westliche Politiker, Industrie und Militär) diese mehr oder weniger begangen, stillschweigend akzeptiert oder ausdrücklich gutgeheißen hat. 

Innerhalb weniger Wochen veränderten Ereignissse, deren tatsächliche Relevanz und Reichweite niemand voraussah, bisher als sicher geltende Gegebenheiten in Europa. Es scheint nach wie vor eine Vorliebe für Russisches Roulette zu geben - auf allen Seiten und von allen sog. Global Playern. Niemand weiß dabei genau, wer auf der Strecke bleibt. Aber irgendwer oder irgendetwas wird es sein. Einige werden ihren Spaß haben, besonders weil andere keinen haben. Imperiales Gehabe verfolgt immer einen Zweck. Ansonsten: Business as ususal. Klappern gehört zum Handwerk, sagt der Diplomat - und: Nichts ist so beständig wie der Wandel, sagt der Philosoph. Wer sagt da: Pech gehabt!? Und von wo....?


Tricks

Es ist wichtig, dass Russland, wie viele andere europäische Länder auch, die Vergangenheit nicht suspendiert hat und (noch) weiß, welche Verbrechen und Verheerungen mit dem Symbol des Hakenkreuzes verbunden waren und sind. Opfer haben immer ein besseres Gedächtnis als die - in diesem Fall - deutschen Täter (und in der Ukraine ist diese Erkenntnis auf besondere Weise virulent). Aber es als Propagandamittel einzusetzen, um die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns zu suggerieren und damit Legitimation zu erhalten, die Krim, und vielleicht, wie es zurzeit aus der politischen Gerüchteküche zu uns herüber wabert, die Ost-Ukraine, sogar die gesamte Ukraine zu annektieren, ist ein übler und zynischer Trick, der umstandslos alle UkrainerInnen, die für Selbstbestimmung und Freiheit auf die Straße, vor allem auf den Majdan in Kiew, gegangen sind, diskreditiert, indem man sie zu „Faschisten“ stempelt (übrigens nach wie vor der falsche Begriff, richtigerweise müssten sie Nationalsozialisten heißen; vermutlich wegen des zweiten Teils des Namens hat man sich in der sozialistischen und kommunistischen Sprachregelung bereits in den 1930er Jahren des italienischen Faschismus´ bedient; pikant, dass deutsche SozialistInnen und KommunistInnen gegen die „Faschisten“ kämpften, wenn sie – doch wirklich durchaus heldenhaft – gegen Hitler und den deutschen Nationalsozialismus kämpften). Unter dem Deckmantel, sich vor den ukrainischen Nazi-Monstren schützen zu müssen, wird Völkerrecht gebrochen, aus der desolaten wirtschaftlichen Lage der Ukraine Profit geschlagen (und gelockt: Bei uns in Russland wird es euch finanziell viel besser gehen...) und ganz nebenbei klargemacht, wie man mit Demokratiebewegungen umzugehen gedenkt. Im eigenen Land macht es Putin bereits vor, und seine Helfershelfer vollstrecken die Urteile gegen kritische, missliebige Gegner, die stets zu Feindinnen und Feinden des Russischen Volkes erklärt werden. Man steckt sie in Gefängnisse, Arbeitslager oder bringt sie gleich um.


Pro-russische Werbung für das Referendum auf der Krim am 16. März 2014


Der Kotau als Stilmittel

Man liest erstaunt in Kommentaren, dass das russische Volk und die Mehrheit der russischsprachigen Krim-Bevölkerung jetzt wieder ganz hinter Putin stehe (ein nettes, allerdings vermutlich nicht ganz unverhofftes Geschenk für ihn; dennoch auch ein wenig spekulativ), und diese Konstellation von beschenktem Wohltäter und seinen GratulantInnen wird als ein Beweis mehr für … ja, was eigentlich? … für: wörtlich - Volkes Wille gesehen, dieser Königsdisziplin sozusagen des von oben oktroyierten und unten missverstandenen Demokratieprinzips, ein Wille, der das Geschehen überdies unumkehrbar mache, weil er außerdem auch noch mit der Banderole: Nie wieder Faschismus! geschmückt ist. Putin hat sofort das Machtvakuum in der Ukraine ausgenutzt, vermutlich auch die Erschöpfung der Menschen. Darin zeigt sich sein blitzschnelles Reaktionsvermögen und einiges manipulative Geschick. Denn natürlich stehen auf der Krim glücklicherweise nicht die Deutschen, sondern lediglich Ukrainer und Krim-Tataren, mit denen „seine“ russischen Landsleute bisher einvernehmlich – und mit ukrainischen Pässen versehen - lebten. Dennoch kotauen manche Kommentatoren jetzt förmlich mit einem: Chapeau! vor Putin. Der wollte Respekt und erhält ihn prompt.

In der Ukraine „herrschen“, auch wenn die russische Propagandamaschinerie das behauptet, nicht „die Faschisten'“, die man militärisch ausschalten müsste. Die Regierungsbeteiligung von mehreren ausgewiesenen Rechten ist äußerst bedenklich, wenn nicht gar verwerflich, und die erste Maßnahme, die russische Sprache nicht mehr als zweite Landes- und Verwaltungssprache anzuerkennen, hat die nationalistische Gesinnung einiger dieser Regierungsmitglieder offenbart, allerdings wurde sie von der Mehrheit im Parlament als schwerwiegender Fehler kritisiert und sofort gekippt. Die Rechten (Rechtspopulisten, Rechtsradikale, Nazis) regieren – muss man einschränkend sagen – das Land noch nicht, denn die Eskalation, das alte Teile und Herrsche – und das ist ein kluger Schachzug der Russen – findet längst schon im Land selbst statt, wirkt destabilisierend und ist damit äußerst gefährlich (Ungarn macht es gerade vor).


Nationalismus als Trumpf

Man hat erfolgreich ins machtpolitische Schatzkästchen gegriffen, den allseits einsetzbaren Nationalismus wiederentdeckt und herausgezogen. Er war natürlich immer da, nie ganz aus der Geschichte des Landes verbannt, hatte sich aber im Mantel der Finanzjongleure, zwischen den Lippen der Sprachhygieniker, in den offenen Händen volatiler PolitikerInnen versteckt, präsentierte sich nun dem staunenden Publikum und veranstaltete – quasi als dessert surprise – ein kleines Feuerwerk (das, um wieder in die brutale Realität zurückzukehren, etwa achtzig Tote forderte, in der Quintessenz nach vorne abgeschossen wurde, aber nach hinten losging). Machthaber aller Couleur haben gelernt: Bevor das Spektakel zur schrecklichen Explosion führt, das Land und Leute völlig zerstört (wie z.B. gerade in Syrien), wird es, wenn irgend möglich, mit militärischer Präsenz und Waffengewalt gestoppt. Die russischen Truppen scharren an der Grenze zur Ost-Ukraine schon – nicht nur – mit den Füßen (was die Nato mit ihren Schilden tut, wissen wir – noch – nicht).

Die westlichen Kommentare versuchen jetzt gerne, Russland zu erklären, also: wie es tickt. Man müsse verstehen, das Russland – wegen der westlichen Rechtsbrüche – kein Vertrauen mehr in "den Westen" (zu dem mittlerweile viele mittel-, süd- und osteuropäische Staaten gehören) habe. Hatte es das seit 1945 jemals? Und umgekehrt: Brachte der Westen Russland, dereinst noch Sowjetunion, Vertrauen entgegen? War es nicht so, dass sich da zwei Supermächte gegenseitig mit ihren atomaren Waffen in Schach hielten und die Menschen, vor allem in Europa, zwischen diesen Blöcken zerrieben. Je nach Staatsangehörigkeit konnte man Dissident werden, wenn man als pro-amerikanisch oder pro-kommunistisch (jetzt: pro-russisch) identifiziert wurde. Im Westen war man in der Regel ein unliebsamer Außenseiter (in der BRD hörte man den Satz: Geh doch nach drüben! oder erhielt Berufsverbot), im Osten (Warschauer-Pakt-Staaten) landete man im Gefängnis oder gar im Gulag.


Wahlhelfer auf der Krim


Selbstbestimmung

Was immer die UkrainerInnen wählen, es ist legitim! Als Außenstehende müssen wir das Ergebnis der innenpolitischen Auseinandersetzung akzeptieren. Es sind schließlich keine Kinder, die man an der Hand nehmen muss, um ihnen die Gefahren des Straßenverkehrs zu erklären, dass sie also zuerst nach links, dann nach rechts schauen müssen. Man beschreibt die UkrainerInnen aber buchstäblich als Kinder, die im Sandkasten mit Förmchen spielen, wenn es um Demokratie geht, gesellt sich aber sofort in eben diesen, um ihnen zu erklären, wie man richtig spielt. Man hat auf ein Mal ein empathisch wichtigtuerisches Verständnis für diejenigen, die sich günstigere ökonomische Perspektiven erhoffen und offensichtlich auch mehr politische und kulturelle Vielfalt durch Russland garantiert sehen als durch die ukrainische Übergangsregierung. Und findet diese Sichtweise nicht einmal seltsam einseitig und ziemlich dumm. Man vertraut einem binnen kürzester Zeit von einer nicht gewählten Provinz-Regierung mit Propaganda und Militärpräsenz (haben wir sie nicht alle gesehen, die vermummten Soldaten mit Maschinengewehren, die Panzer an jeder Straßenecke? Waren das nur Pappkameraden oder Kulisse für den neuesten Action-Blockbuster?) durchgepeitschten Referendum auf der Krim mehr als einem Termin für freie Wahlen im Mai, der auch zu einer neuen Verfassung der Ukraine führen soll. Man bescheinigt der Ukraine (im Gegensatz zu Russland etwa!?), noch keine gefestigte Form der Demokratie zu haben (eben nur diese kindischen Förmchen!) und lässt völlig außer acht, dass genau dies mit der Orangenen Revolution und erneut mit der jetzigen Majdan-Bewegung versucht worden ist. Wer braucht da eigentlich von wem Unterricht in Demokratie?

Westliche Politiker hatten auf dem Majdan allerdings nichts zu suchen, sie haben das Gezerre der Blöcke (bist du nicht für mich, dann bist du gegen mich; EU-Beitritt oder Eurasien-Projekt) und damit die Schwächung der Ukraine nur weiter vorangetrieben. Sie sollten ihre Fehler zuallererst eingestehen, bevor sie einfach so weitermachen wie bisher und die Konflikte verschärfen. Das historisch bedingte labile Staatsgefüge der Ukraine, seine unterschiedlich entwickelten, in Agrarwirtschaft und Industrie unterteilten Regionen als Argument für eine Politik der starken Hand zu nehmen, die keine Oppositionsbewegung brauche, sondern eine ausbalancierte Wirtschaft, einen starken Verwaltungsapparat und geeignete juristische Mechanismen zur Korruptionsbekämpfung, ist Reißbrett-Politik, die bloß Gebäude errichten will, um die Architekten zufrieden zu stellen, nicht um menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen, in dem man gerne gemeinsam mit anderen lebt. Leerstand oder Wieder-Abriss sind durchaus mit einkalkuliert, wenn die menschlichen Bedürfnisse nicht zum Plan passen. 


Europas Grenzen
Die Grenzen Europas wurden im Laufe der Jahrhunderte so oft verschoben und keine Rücksicht auf die jeweiligen Bevölkerungen, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen und Sprachräume genommen, was zu weiteren Spannungen und neuen Kriegen führte. Wenn der Patriarch Putin der Ukraine, Europa, der EU und den USA droht, dass er „seine“ Landsleute schützen werde, wenn die sich in einem anderen Land von einer Mehrheit (oder einer anderen dominierenden Minderheit) bedroht fühlten, dann müssen all die nach dem 1.Weltkrieg von den Siegermächten der Entente gegen die neu entstehende Sowjetunion geschaffenen Pufferstaaten, die sich nach dem 2. Weltkrieg im Warschauer Pakt mehr oder weniger freiwillig wiederfanden, um ihre Souveränität fürchten: alle jetzt mit Russland assoziierten, früheren Sowjetrepubliken, die baltischen Staaten, die Ukraine, die ja mit Kiew auch den Ursprungsort des alten Russischen Reichs teilt, und Polen. Wer mit Grenzverläufen spekuliert, sollte vorsichtig sein, was damit ausgelöst werden kann. Polen wurde im Laufe von drei Jahrhunderten mit drei Teilungen zwischen dem russischen Zarenreich, den Habsburgern und Preußen dermaßen zerlegt, dass es bis 1918 kein eigener Staat mehr war, jeweils nach dem 1. und dem 2. Weltkrieg noch einmal verschoben, immer nach dem Gusto und den Interessenlagen der Siegermächte.

Wer ein friedliches Europa will, dessen Friedensidee schon mit den Massakern in Ex-Jugoslawien schwer beschädigt wurde, sollte nicht mit Gewalt drohen, nationalistisches Geschachere nicht befördern, anerkannte Grenzen nicht willkürlich und einseitig verändern wollen und um Nichteinmischung bemüht sein. Ernstgemeinte Verantwortlichkeit beginnt mit gegenseitigem Kennenlernen-Wollen der jeweils anderen Seite, der verschiedenen Perspektiven und Ansichten, zeigt sich in guten Kontakten und Gesprächen, in freundschaftlicher Anteilnahme. Nur so ist „Einmischung“ produktiv und wirkt nicht destruktiv. Dies liegt, wie wir wissen, nicht unbedingt im Interesse der Großmächte, der Rüstungsindustrien, der internationalen wie nationalen Wirtschaften, aber im Interesse von Europäerinnen und Europäern kurz- wie langfristig schon. Es geht immer um Demokratie, Freiheit, Vielfalt und Freizügigkeit – in und mit allen Ländern. Es kann nicht um Überwachen und Strafen gehen – und die Beweisführung, wer dies effizienter bewerkstelligt oder über die geeigneteren Machtapparate verfügt. Weltweit hat diese Form der Legitimierung längst an Glaubwürdigkeit verloren, und die Menschen gehen überall auf die Straße. Ziviler Ungehorsam galt einmal auch bei uns als eine Tugend. Auch in dieser Hinsicht lässt sich einiges vom Majdan lernen.


It's just an old war, not even a cold war...

17.03.2014: Putin hat sich nach dem Sieg des Referendums auf der Krim feiern lassen. Jetzt sei sie wieder russisch, wie sie es immer war. Natürlich war sie das nicht immer, aber so weit in die Geschichte will man nicht gehen und so genau nehmen mit ihr auch nicht. Der Westen habe versucht, betont Putin, Russland an den Rand zu drängen (meint er sich?). Dies ließe man sich aber, wie man gezeigt habe, nicht mehr gefallen. Schließlich habe Russland ein legitimes Recht auf die Krim, das sogar durch eine demokratische Wahl bestätigt wurde. Punkt. Und der Westen muss und wird diese Zeichensetzung akzeptieren. - Und August Thalheimer schrieb 1946 in Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nach dem 2.Weltkrieg: Solange der Konflikt beider Lager noch nicht akut und offen, d. h. Krieg ist, bewegen sich beide in Etappen ihren Zielen zu. Beide Lager verkleiden einstweilen ihre Züge mit der scheinbar gemeinsamen Flagge der Demokratie - nur dass sie hier und dort entgegengesetzte Wirklichkeiten deckt.....  


 


18II14

s. hier auch: betr.: Ukraine


Von weit weg hört man  postmodernes Gelächter. Cool bleiben! Wir wollen nur spielen...

atomic clown - flickr 

 

 

 

 



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