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Krzysztof Zanussi im Gespräch
mit Daniela Capcarová


 

Der polnischen Regisseur und einer der führenden Intellektuellen der ehemaligen polnischen Bewegung Solidarność sprach über die Wende 1989 und die Veränderungen seither







Fünfundzwanzig Jahre
nach der Wende
sind wir zwar reicher,
aber ungleicher geworden
 

 


Daniela Capcarová: Herr Zanussi, wie hat sich fünfundzwanzig Jahre nach der Wende die Gesellschaft in Mittel- und Osteuropa entwickelt?

Krzysztof Zanussi: Es ist ein schönes Jubiläum, ein Vierteljahrhundert-Jubiläum. Für uns Polen ist es sehr wichtig, weil die Wende praktisch in Polen angefangen hat. Von allen Ostblockländern hatten wir in Polen die ersten freien Wahlen, im Juni 1989. Später, im Herbst 1989 kam es zum Mauerfall in Deutschland. Eine Mauer, das ist etwas, was man sehen kann, was bleibt als ein Symbol – und wir Polen sind darauf eifersüchtig. Wir sagen zu dieser Wende – wir Polen waren die ersten! Deutschland bzw. die damalige DDR war das letzte Land, in dem die reale Wende stattgefunden hat. 1989 war das Jahr der Freiheit, ein Herbst der Freiheit – ein Vierteljahrhundert und bleibt ein wichtiges Datum, besonders für uns Polen. Es war ein neuer Anfang für uns, denn wir hatten in Polen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zwanzig Jahre lang eine Ära der Freiheit und einer vielversprechenden Entwicklung, mit vielen politischen Zusammenstößen usw. Diese Ära war ein positives Moment in unserer Geschichte, danach kam eine riesige Pause dieser Semi-Souveränität, eine Position, in der Polen theoretisch ein unabhängiger Staat war, praktisch handelte es sich jedoch um eine Halbsouveränität und Halbokkupation. Jetzt, seit fünfundzwanzig Jahren haben wir eine freie Gesellschaft. Wir entwickeln uns sehr schnell – mit allen möglichen Problemen und Kontrasten; das ist ja klar, unser Leben läuft nicht so glatt. Wir haben riesige Probleme auch mit der Kultur, weil diese neue Mittelklasse, die sich formiert, ein neues Publikum für die Kultur ist. Dieses Publikum ist ohne Wurzeln, ohne Tradition, nach einer eigenen Identität suchend. Unsere Aufgabe als Kulturschaffende ist heute, einen Dialog mit diesem Publikum zu entwickeln.

 


       

Krzyzstof Zanussi

 

  © Fotos: Maroš Simon/ 

 

K13-Košické kultúrne centrá

 

Wo und wie hat sich die polnische bzw. osteuropäische Gesellschaft im Verlauf dieses Vierteljahrhunderts Ihrer Meinung nach am meisten verändert?

Das lässt sich nicht einfach beantworten. Was die Struktur der Gesellschaft anbetrifft, haben wir es jetzt mit einer Gesellschaft mit Konkurrenz zu tun. Der Kommunismus hat eine Gesellschaft ohne Konkurrenz aufgebaut, das war unpraktisch. Der zweite Punkt des Wechsels ist, dass die Gesellschaft viel reicher geworden ist – wir waren sehr arm, wir sind nicht mehr so arm wie wir früher waren. Aber wir haben auch eine eigene, neue Ungerechtigkeit erworben – eine soziale Ungerechtigkeit, eine ökonomische Ungerechtigkeit, und das ist auch ein Problem im moralischen Sinne. Wie kann man leben, wenn manche Menschen sehr viel Geld haben und andere sehr wenig? Die Armen haben fast keine Chancen und die Anderen wiederum sehr viele. Aber das ist ein normaler Kampf in jeder Gesellschaft. Wir Intellektuelle suchen in jeder Gesellschaft immer nach den Alarmglocken, wo wir dann sagen können, nein, so eine Aufteilung der Gesellschaft geht nicht gut aus.


Wie hat sich in diesen fünfundzwanzig Jahren nach Ihrer Wahrnehmung die Kunst verändert, und welche Veränderungen spüren Sie im Moment am meisten?

Wissen Sie, mit der Modernisierung kommt auch eine Massengesellschaft zustande. Diese Massengesellschaft animiert die amerikanische Gesellschaft. Das bedeutet, dass es zu einer enormen Amerikanisierung der Kunst kommt. Es ist nicht ganz positiv, obwohl ich wiederum sagen würde, dass es demokratisch ist. Unsere Gesellschaft in Mitteleuropa war traditionell sehr vertikal – mit einer Autorität, mit einer Intelligenz – also einer privilegierten, gebildeten Klasse, und der Rest – die Massen – folgten nur dem, was die Intelligenz wählte. Das hat sich aber heutzutage geändert, es kam zu einer breiten Emanzipation. Die Menschen ohne Kultur, ohne Ausbildung wählen frei, sie wählen oft Kitsch, durchschnittliche Filmserien zum Beispiel. Sie wählen Banalität, die früher in unserer Gesellschaft nicht existierte. Und wenn sie existierte, dann wurde sie verachtet, sie wurde zu etwas, das sich intelligente Menschen nicht angeschaut haben. Heute merken wir, dass auch gut ausgebildete Leute solch kitschige Sachen gut finden. Mir als Künstler tut das selbstverständlich weh.


Schon Ihre Kollegin Agnieszka Holland hat einmal in einem Interview gesagt, die FilmemacherInnen hätten während des Sozialismus trotz der sozialistischen Zensur mehr künstlerische Freiheit gehabt als jetzt, denn jetzt müssten sie dem Diktat des Marktes folgen. Film muss Gewinn bringen.

Das ist natürlich wahr und normal, wir dürfen aber nie nostalgisch sein. Denn unser gemeinsames Leben im Sozialismus war sehr schlecht, die Entwicklung sehr langsam, es gab sozusagen fast keine, und die Ungerechtigkeit war sehr groß. Auch wenn wir Künstler, besonders am Ende des Kommunismus, irgendwelche Privilegien hatten, obwohl sie auch eher unbedeutend waren – das ist immer noch kein Beweis, dass das System gut war. Es war ein ganz schlechtes System.


Jetzt müssen Sie sich als Regisseure immer stärker durchsetzen als es vorher der Fall war, denn es gab erfolgreiche Regisseure, die schon bekannt und anerkannt waren. Jetzt treten Sie in Konkurrenz mit allen anderen Regisseuren europaweit, nicht nur in Polen.

Ja, unsere Konkurrenz sind amerikanische Filme mit einer Riesenwerbung, also ist es nicht so leicht für uns. Niemand hat mir allerdings versprochen, dass es jemals leicht sein wird, und es ist nicht leicht.


Sie sind aber eine besondere Spezies unter den Regisseuren, waren und sind in beiden Systemen erfolgreich.

In gewisser Hinsicht ja, der Erfolg ist jedoch nie endgültig festgelegt – er hat immer seine Grenzen. Aber ich beschwere mich in dieser Hinsicht nicht.


In Ihren Filmen begegnen wir der „apathischen Beklommenheit einer inneren moralischen Unruhe“, schrieb ein Filmkritiker und andere pflichteten ihm bei. Das ist momentan auch ein Thema des gegenwärtigen menschlichen Daseins. Wie nehmen Sie das Leben der Generation der heute Fünfundzwanzig-Jährigen wahr – also der Generation, die direkt nach der Wende geboren wurde?

Die erste Generation, die die Wende erlebte, war oft verloren, denn sie hat den Schock der Freiheit und des Reichtums erlebt – und dieses Erlebnis war sehr stark. Und sie hat auch die Orientierung verloren. Aber heute nach fünfundzwanzig Jahren ist es schon besser. Ich sehe es an meinen Studenten, sie stellen ernste Fragen, sind nicht mehr naiv, und sie glauben nicht so naiv an den Fortschritt wie die Generation vor ihnen. Sie sind gesund skeptisch und stellen ernste Fragen – wie zum Beispiel, welches Lebensmodell das beste ist.


Ihr slowakischer, auch weltweit bekannter Kollege und Regisseur, Juraj Jakubisko hat hier vor einem Jahr erzählt, dass junge Regisseure jetzt aufs Neue Filmtechniken wiederentdeckten, die Ihre Generation schon vor zwanzig oder fünfzig Jahren entdeckt hätte. Statt sich mit den Filmen der Klassiker zu befassen, sich von ihnen inspirieren zu lassen und zu neuen, selbst entwickelten Techniken zu kommen. Wie sehen Sie das aus Ihrer Perspektive?


Ich glaube, das ist ein ewiges Problem. Die jungen Menschen entdecken etwas, was schon vor Jahren entwickelt wurde. Für mich ist das kein Schock, sondern eine normale Sache. Aber was ich eher als Problem sehe, ist die Tatsache, dass die jungen Menschen bei uns immer größere Schwierigkeiten mit einer Erzählung haben. Und hier gibt es einen Unterschied zu den USA: in Amerika können die Menschen über ihr eigenes Leben erzählen, in Europa ist es meiner Meinung nach mit der Postmoderne schwieriger geworden. Es ist eine idiotische philosophische Tendenz – alles ist so relativ, dass eine kohärente Erzählung sehr schwierig wird. Es scheint so, als hätten wir keine festen Werte und Gefühle mehr. Und diese narrativen Probleme sind hier immens, technische Probleme empfinde ich demgegenüber eher als nebensächlich. Heute kann jeder, der ein Handy hat, leicht Menschen filmen, und das schon in jungen Jahren.

 

   

Filmplakate: Stasys Eidregevicius

 

Marek Freudenreich

 

In Ihrem Film Barwy Ochronne, auf Deutsch Tarnfarben, stellen Sie die Anpassung der Moral eines Menschen in einer Situation, die sich ständig verändert, dar. Dieser Anpassung begegnen wir immer stärker bei unseren Politikern – Jahre nach der Wende und achtunddreißig Jahre nachdem Sie den Film gedreht haben. Das gilt auch für die Politiker, die im Moment Europa führen. In Ihrem Film geht es auch um das Motiv der Macht und des Geldes, das heute für viele Politiker eine Eintrittskarte in die Politik ist. Haben Sie sich so einen Nach-der-Wende-Trend vorstellen können, als sie vor fünfundzwanzig Jahren in den Reihen der Solidarność gekämpft haben?

Ja, das war für mich eine paradoxale Enttäuschung. Ich bin wirklich enttäuscht, dass das Thema meines Filmes Tarnfarben bis heute aktuell ist. Ich hatte gehofft, dass dieses Thema sowie der Sozialismus eine Sache der Geschichte bleiben wird. Das Gegenteil ist aber wahr. Das Thema des „Mantels nach dem Wind hängen“ existiert bis heute. Die Korruption ist ewig und offenbar tief im Menschen verwurzelt, der Konformismus auch. Auch Kunst ist heute unglaublich konformistisch. Besonders die Avantgarde, sie ist von Natur aus sehr konformistisch, weil es die kleine Cliquen sind, die sich gegenseitig unterstützen und keine Verifizierung akzeptieren. Leider hat etwas, das meiner Meinung nach damals nur mit dem Sozialismus zu tun hatte, eine Verbindung zum heutigen Leben und betrifft nicht nur unsere europäische, sondern auch die amerikanische Realität.


Heutzutage wird die Masse von Politikern gesteuert, die Masse gewinnt in unserem jetzigen Gesellschaftssystem an Bedeutung. Sie war auch zu Hitlers Zeiten und davor wichtig. In Ihren Filmen stellen Sie oft einen Intellektuellen vor, der mit einer gedankenlosen Masse konfrontiert wird. Wenn wir aber die heutige Situation in den Ländern des ehemaligen Ostblocks beobachten, ist die Konfrontation der Intellektuellen mit der Masse immer vorhanden. Ist Ihrer Meinung nach die gegenwärtige Masse sorglos oder hat sie auch ihre Probleme?

Probleme haben heutzutage natürlich alle, die Menschen sind emanzipierter, kultivierter und informierter. Darin sehe ich eher eine positive Entwicklung. Die Massen haben ein Wahlrecht, wählen die Politiker und deshalb haben wir jetzt in Europa einen tiefgreifenden Populismus. Die Frage ist auch, was man unter „ehemaligen Ostblockländern“ versteht. Welches Europa ist gemeint? Es gibt kein einheitliches Osteuropa. Ich bin jetzt hier in Košice / Kaschau, und das ist eine Stadt mit einer gotischen Kathedrale – die hat nichts mit dem Osten zu tun, Osten ist byzantinisch. Der Osten ist die Ukraine, der Osten ist Griechenland – und das alles hat mit einer spezifischen Beziehung zur Masse zu tun. In der orthodoxen Tradition ist der Konflikt zwischen den Massen und Eliten viel tiefer als beispielsweise bei uns in Polen, mit unserer eher westlichen Mentalität. Es wurde dramatisch, als Peter der Große die Altgläubigen aus Russland vertrieben hat. Das war etwas, was auch im Westen passierte, allerdings eben viel früher.


Die gegenwärtigen osteuropäischen Politiker arbeiten aber wiederum sehr erfolgreich mit den Massen – sei es Orbán, Timoschenko oder Putin heute. Wo sehen sie die Gefahr in dieser Manipulation der Massen?

Die Gefahr dabei ist, dass die Menschen den Sinn verlieren, weil eigentlich doch jeder klug genug ist, wenn er über die eigenen Interessen nachdenkt. Nur die großen Populisten lenken die Menschen so, dass sie nicht mehr verstehen, dass es gegen ihre eigenen Interessen ist. Noch besser: es ist gegen ihre Möglichkeiten einer eigenen persönlichen Entwicklung gerichtet. Deswegen ist es gefährlich und auch ein Beweis dafür, dass die Massen den Sinn für Verantwortung verloren haben. Aber wir sind verantwortlich für unsere Welt. Wenn wir falsch wählen, spüren wir bald die Konsequenzen. Deutsche haben Hitler demokratisch gewählt, was letztendlich schreckliche Konsequenzen für die ganze Welt hatte, aber auch für Deutschland und Österreich. Das war ein Beweis, dass es sehr gefährlich ist, wenn man leicht und ohne tiefes Nachdenken eine Wahl trifft. Wir müssen immer über die Konsequenzen unserer Wahl nachdenken.


Ich habe absichtlich diese Frage gestellt, weil ich denke, dass gerade in den Ostblockländer die Unterwerfung der Masse für die Politiker ein großes Problem darstellt.

Aber heute gibt es wiederum auch interessante Tendenzen, wo ich einen starken geistigen Widerstand beobachte. Junge Menschen bilden so viele eingetragene Vereine, Organisationen und Gruppen, sie verstehen, dass man sich ohne eine geistige Dimension nicht harmonisch entwickeln kann. Ich hoffe, dass uns diese Menschen helfen. Also diese Initiativen, die gegen die Massen steuern. Es gibt wenigsten etwas Widerstand gegen diese verrückte Lebensart und dieses verrückte Lebensmodell bzw. Lebensmuster, das teilweise aus Amerika und teilweise aus Europa als eine moderne Lebensart daherkommt. Wir müssen unsere eigene Lebensart und eigene Harmonie finden. Es ist wichtig eine Harmonie herzustellen, einerseits ist es sehr wichtig etwas zu produzieren, etwas zu verdienen – es ist aber nicht unser ganzes Leben. Das sollte auch andere Dimensionen haben.


In der Slowakei beispielsweise ist eine bürgerliche Gesellschaft, die sich verstärkt auch durch Nicht- Regierungsorganisationen zeigt, noch nicht so entwickelt wie in Deutschland. Wie ist das in Polen?

Bei uns sind diese Organisationen ganz stark, wir haben eine stark ausgeprägte Unterstützung einer Selbstregierung, die in Polen sehr entwickelt ist. Für uns bedeutet das einen Anker der und für die Demokratie. Denn unsere Mittelklasse ist nicht so stark wie in Österreich oder in Deutschland. Aber diese jungen Leute verfügen schon über einen großen Einfluss auf die lokale Politik – die werden wirklich für die Demokratie und deren klare Regeln kämpfen. Diese Generation fordert klare Regeln, ohne die man nicht spielen kann. Und das Leben ist ein Spiel.


Ich komme jetzt zu Ihrer Vergangenheit und zwar zu einem Teil, der unsere deutschsprachigen LeserInnen interessieren wird. Man weiß von Ihnen, dass Sie vor der Wende in den Akten der polnischen Staatssicherheit als Inoffizieller Mitarbeiter geführt wurden. Sie äußerten dazu, dass sie nie jemand Schaden zugefügt hätten. Polnische Intellektuelle haben es Ihnen dennoch zum Vorwurf gemacht, umso mehr, als sie eine führende Persönlichkeit der Solidarność-Bewegung waren. Wie haben sie diese Vorwürfe der polnischen Öffentlichkeit emotional verarbeiten können.

Selbstverständlich war es für mich sehr peinlich, und ich bin sehr stolz darauf, dass ich einen Weg zur Klärung finden konnte. Ich habe mit dieser unserer Staatssicherheit nie zusammengearbeitet, die Akten-Aaufnahme geschah vor siebenundvierzig Jahren. Dieser Kampf dauerte nur drei Jahre, Anfang der Sechziger Jahre. Ich habe von der Stasi nie ein Angebot zur Zusammenarbeit erhalten, sie haben mich von der Zusammenarbeit disqualifiziert, und das war auch meine Absicht. Ich habe damals einen Ratschlag bekommen, dass ich mich so benehmen soll, dass die Stasi entmutigt wird, mich für ihre Reihen zu rekrutieren. Wenn man das heute nach siebenundvierzig Jahren als einen Vorwurf mir gegenüber äußert, steckt eine schlechte Absicht von jemandem dahinter. Die Menschen werfen mir das vor, es steht auch auf Wikipedia – obwohl es keine Beweise meiner Tätigkeit für die Staatssicherheit gibt, der Schmutz, der sich damit verbindet, haftet an mir. Für mich ist es peinlich, weil ich glaube, dass ich in diesem Sinne eine weiße Weste habe. Moralisch habe ich gewonnen, trotzdem gibt es Leute, die mir sagen: OK, aber Sie sind auf der Liste. Auf dieser Liste gibt es aber ganz viele saubere Menschen – die Registrierung dort bedeutet ja nicht, dass alle mit der Stasi gearbeitet haben. Ich jedenfalls habe nicht mitgearbeitet.


Durch die personalen „Säuberungsprozesse“ in der DDR aufgrund der Stasi-Vergangenheit haben die neuen Länder im vereinigten Deutschland viele talentierte Naturwissenschaftler verloren, denn sie hatten eine Partei- und oder eben Stasi-Vergangenheit. Was sagen Sie dazu als jemand, der das Studium der Physik erfolgreich abgeschlossen hat?

In Polen waren diese „Säuberungen“ nicht so dramatisch; dramatisch und gefährlich waren die 1950er Jahre. Das war ein echter Kampf mit Todesstrafen und so weiter. Die Penetration unserer Gesellschaft durch den Geheimdienst war nicht so groß wie in der damaligen DDR. Wo ich allerdings ein Problem sehe – und das ist ein riesiges Problem: Wir haben in Deutschland nach den Nürnberger Prozessen die „Entnazifizierung“ erlebt, Russland aber lebt heute – fünfundzwanzig Jahre nach den Transformationen seiner Gesellschaft – ohne einen einzigen solchen Prozess. In Russland hat man nie über „Entkommunifizierung“ gesprochen. Die Verbrecher, die damals an den Partei-, Polizei- und Stasi-Spitzen waren, haben so viele Leute umgebracht, so viele Talente, so viele Chancen hat die Gesellschaft verloren wegen dieser Apparatschiks, die noch bis heute wie anständige Bürger in der Gesellschaft leben. In der Ukraine hat man vor kurzem das Lenin-Denkmal gestürzt, das war ein Symbol für die Entscheidung zu zeigen, was in der Vergangenheit gut und was schlecht war. Solch ein Urteil ist wichtig, weshalb auch die „Gauck“-Kommission so wichtig war, weil die meiner Meinung nach die ganze ehemalige DDR vereinigt hat. Was wir heute nach den Untersuchungen wissen, ist die Tatsache, wer schuldig ist und wer nicht – ich war völlig dafür. Jetzt ist aber die Ukraine daran, und Russland hat über eine solche Säuberung nie gesprochen. Es ist, glaube ich, eine eminente Schwäche dieser Gesellschaft.

 

   

Filmplakate: Franciszek Starowieyski

 

Marek Freudenreich

 

Auch die Slowakei und Tschechien waren in diesen Stasi-Prozessen nicht wirklich vorbildlich und konsequent genug. Der erste slowakische Premierminister nach der Wende, Vladimír Mečiar, ließ einen großen Teil der Stasi-Archive vernichten. Wie sehen Sie das?

Ich glaube, dass in Tschechien und in der Slowakei so ein Prozess stattgefunden hat: gut oder vielleicht nicht so gut – wichtig war die Absicht. Es gab einen Willen, und zwar den Willen klar zu sagen, was in der Vergangenheit gut und was eben schlecht war. Wenn wir darüber nicht nachdenken, wenn wir unsere Geschichte nicht beurteilen, dann wiederholen wir dieselben Fehler.


Auf was kann sich das Publikum demnächst freuen? Sie sind ja sowohl Regisseur als auch Drehbuchautor und Produzent.

Ich arbeite jetzt an ein paar Projekten, ich habe immer die Absicht, weiter mit Deutschland zusammenzuarbeiten; ich habe ein paar interessante Drehbücher und suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für deren Umsetzung. Die Lage in Deutschland ist allerdings gerade nicht besonders günstig für ambitioniertes Kino. Im Fernsehen laufen meistens Serien, aber nicht schöne, interessante Filme, wie es noch ein paar Jahre zuvor der Fall gewesen ist. Ich arbeite aber auch mit einem Theater zusammen, dem ich momentan zur Verfügung stehe. Deutschland interessiert mich auch als Nachbarland, und ich habe auch ein paar Jahre lang immer wieder dort gearbeitet. In den letzten vier, fünf Jahren gab es allerdings keine Projekte dort, und ich merke, dass mein Deutsch nicht mehr so flüssig ist wie früher.

 

   


Filmplakate: Franiszek Starowieyski

 

Marek Freudenreich

  

Für den mit Deutschland koproduzierten Film Ein Jahr der ruhigen Sonne haben Sie auf dem Filmfestival in Venedig den Goldenen Löwen bekommen. Das war genau vor vierzig Jahren.


Ja, es war im Jahr 1984, es war eine deutsche Koproduktion und wurde auch im deutschen Fernsehen gezeigt. Für mich war der Film eine schöne Erfahrung; es war eine sehr aufwendige Produktion, denn wir mussten in Amerika drehen, in Polen und teilweise auch in Deutschland. Ich bin sehr stolz, weil damals in Venedig Michelangelo Antonioni Jury-Präsident war. Deshalb hat dieser Preis für mich bis heute eine besondere Bedeutung.


Welches Gefühl war es, als Sie als ein Regisseur aus dem sozialistischen Block einen anerkannten westlichen Filmpreis in Händen hielten?

Der Film war nicht sozialistisch, es war vom Westen koproduziert, und für mich war es ein Beweis dafür, dass das, was ich mit meiner Filmkunst sage, auch eine Bedeutung für das ausländische Publikum hat. Dieser Film hatte auch einen ganz guten Verleih in den Vereinigten Staaten, weil eine Person in dem Film Amerikaner ist. Mich hat es natürlich sehr gefreut, dass die Amerikaner diese Geschichte verstehen.


Sie waren eine der führenden Persönlichkeiten der Bewegung Solidarność. Wenn Sie jetzt eine Bilanz ziehen, nach fünfundzwanzig Jahren – welche von Ihren damaligen Erwartungen wurden erfüllt und welche nicht?

Ich glaube, dass die Erwartungen an sich selbst immer höher sind als die Möglichkeiten. Man muss aber immer große Erwartungen haben – das ist eine Regel. Wenn wir realistisch sind: wir als Land Polen haben sehr große Erfolge gehabt – wir haben einen Schritt Richtung Modernität gemacht. Unsere soziale Struktur ist aber nicht so schön, wie wir erwartet haben. Es entstanden neue Konflikte, wir sind neu voneinander getrennt, wir sind nicht so großartig, wie wir waren – das ist auch normal. Jede Revolution bringt nur einen Teil in Ordnung, und die Erwartungen sind immer viel größer. Ich bin nicht nur von unserer Revolution, als auch von mir selbst enttäuscht; damals waren wir alle viel idealistischer als heute – und wir müssen diese beglückende Erfahrung wieder aus uns herausholen.


Sehen Sie eine gewisse Verschiebung der Werte der jüngeren Generationen, wie wir es zum Beispiel in Deutschland beobachten können – die junge Generation legt mehr Wert auf Familie und auf soziale Bindungen?

Ich sehe, dass die Werte dieselben sind. Und der großartige Wert, den unsere von der griechischen Antike beeinflusste Geschichte uns hinterlassen hat, ist die Harmonie. Wir müssen immer nach einem harmonischen Leben suchen, und wenn wir es finden, das Gleichgewicht zwischen familiärem und professionellem Leben, zwischen Karriere und Unabhängigkeit – dieses Balance-Halten, dieses Oszillieren setzt uns in Bewegung, bringt Fortschritt und uns weiter. Wichtig ist, dass wir das Leben nicht einseitig sehen.


© Das Interview führte Daniela Capcarová. Fotos des Regisseurs:: Maroš Simon/K13-Košické kultúrne centrá



Krzysztof Zanussi gehört zu den bedeutenden Regisseuren und Drehbuchautoren der polnischen und der globalen Kinematografie. 1939 in Warschau geboren, fängt er nach dem Abitur zunächst an, an der Warschauer Universität Physik zu studieren, weil er nicht daran glaubt, sich während der Stalin-Zeit in der ersten Hälfte der 1950er Jahre als Kulturschaffender frei ausdrücken zu können. Mit der Entspannung ab 1956 studiert er dann an der Philosophischen Fakultät der Universität in Krakau. Vier Jahre später absolviert er das Regiestudium an der Filmhochschule ŁódźZanussi dreht mehr als dreißig Filme fürs Kino und Fernsehen. Sein Debütfilm ist 1969 Struktur des Kristalls. Schon hier geht es um Recht und Gesetz, Idealismus und Opportunismus, eine humanistische Sichtweise und eine rational pragmatische. Zanussi gilt als Repräsentant des „Kinos der moralischen Unruhe“. Wegen seiner analytischen Schärfe und seines gleichsam sezierenden Humors nennt man ihn auch den „polnischen Godard“. Zanussis Filme der 1970er und 1980er Jahre stoßen gesellschaftliche Diskurse an und sind damit nicht unwesentlich an den politischen Veränderungen und Umwälzungen in Polen beteiligt. Seine Protagonisten sind Anti-Helden, die sich aus sehr unterschiedlichen Gründen Illussionen hingeben und desillussioniert werden. Ideal und Wirklichkeit prallen zu häufig und zu heftig auf- und gegeneinander. Es geht um subjektives Glück, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung, um Räson und Willkür. Deshalb nennt man ihn auch gerne den „Moralist aus Warschau“, der er damals weniger ist als heute, wo er die gesellschaftlichen Widersprüche zwar weiterhin sieht, ihnen jedoch – auch filmisch – eher mit dem individuellem Streben nach Harmonie begegnet. Die wichtigsten Werke seines filmischen Schaffens sind: Familienleben - 1971, Preise in Chicago und Colombo; Illumination -1973, Goldener Leopard in Locarno; Quartalbilanz - 1975, Silberner Bär in Berlin; Tarnfarben - 1976, Grand Prix in Gdańsk, Preis in Teheran; Das Jahr der ruhigen Sonne - 1984, Goldener Löwe in Venedig; Bruder unseres Herrn nach einem Stück von Karol Wojtyła – 1997; Das Leben als eine geschlechtlich übertragene tödliche Krankheit - 2000, Goldener Löwe in Danzig und Supplement - 2001. Für seine Filme erhält er viele Preise und Auszeichnungen auf Filmfestivals, u. a. in Cannes, Venedig, Berlin, San Remo und Gdańsk, und den Sonderpreis der New Yorker Filmkritiker zusammen mit Andrzej Wajda. Zanussi ist bis zu dessen Tod eng mit dem „Magier des Polnischen Kinos“, Krzysztof Kieślowski, befreundet, ist Mitglied der Europäischen Filmakademie, führt Theater-Regie in Palermo, Bonn, Krakau und Basel, lehrt an Filmschulen in Łódź und London. Seit 1992 arbeitet er als Professor an der Universität in Katovice. Er leitet das Filmstudio Tor.









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18XI14



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