LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
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Kurz & gut

s. auch: EmpfehlungenAlle Jahre wiederWunschzettel


 

 

David Le Breton
Lob des Gehens
Éloge de la marche, 2000. Aus dem Französischen von Milena Adam
190 geb., geb. Matthes & Seitz 2015
19,90 €; ISBN: 978-3-88221-034-7

 

 


„Das Gehen ist Öffnung zur Welt. Es versetzt den Menschen wieder in das glückliche Empfinden seiner Existenz“, so beginnt David Le Breton seine umfassende Beschreibung des Gehens als Lebensform. Dieses glückliche Empfinden seiner Existenz stellt sich bei der Leserin, dem Leser auch bei der Lektüre des Buches ein. Le Breton erfasst mit einer Fülle an literarischen Gewährsleuten, von Henry David Thoreau (hier s.: ) über Nietzsche, Jean-Jacques Rousseau bis zu Patrick Leigh Fermor und Nikos Kazantzakis, die unterschiedlichsten Aspekte und geht dem Gehen auf den Grund: Gehen bedeutet Konfrontation des Körpers mit der Welt, Gehen ist eine Philosophie der Existenz, jedes Gehen wirft den Gehenden auf sich, auf die eigene Identität und den eigenen Platz in der Welt zurück. Le Bretons vielstimmiger Essay ist eine fulminante, glänzend geschriebene Studie des menschlichen Antriebs, des Fortschreitens und Vorankommens.

„Das Gehen ist der Triumph des Körpers, mit unterschiedlichem Klang, je nach Freiheitsgrad des Gehenden. Es ermöglicht die Entwicklung einer grundlegenden Philosophie der Existenz über eine Reihe kleiner Nichtigkeiten, es bringt den Reisenden für einen Moment dazu, über sich selbst nachzudenken, seine Beziehung zur Natur oder zu anderen, über eine Fülle unerwarteter Fragen nachzusinnen.“ (Verlag)

 

Harf Zimmermann - Brand Wand
108 S., geb., 37,5 x 29,5 cm, Englisch, Steidl Verlag 2015

78,00 €; ISBN 978-3-86930-628-5

 




Sie gehörten zum Bild beinahe jeder Stadt: die Brandmauern, durch Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg entstanden. Sie erzählten die Geschichte vieler Städte. Brandwände waren ursprünglich in die Konstruktion des Hauses integriert und von der Straße aus nicht sichtbar, nach 1945 traten sie schroff hervor. Der Begriff bezeichnete anschließend auch Wände, die weitläufige Brachen begrenz(t)en. Hineingebrochene Fensteröffnungen sind oft schon wieder zugemauert. Als Symbole des Zusammenbruchs, des Neubeginns wie des Scheiterns tragen die Mauern die Spuren deutscher Geschichte: Einschusslöcher, Bombensplitter, Ruß, Umrisse vergangener Gebäude, Notreparaturen. Sie sind dicht bewachsen, kahl oder verputzt und oft von Graffiti und Werbung überzogen. Seit dem Ende der DDR und im Zuge des anhaltend um sich greifenden Immobilienbooms wurden viele Altbauten saniert, Brandwände meist übertüncht bzw. die Brachen mit Neubauten gefüllt. Hinter den sichtbaren Mauern kann man aber manchmal noch auf den Innenseiten Abdrücke derselben Geschichte finden, wie eine Negativform desselben Gusses. Merkwürdig, Bilder von Mauern, eben noch, z.B. in den Straßen Berlins, vertraut, oft nur noch beiläufig gesehen, sind viele jetzt für immer verschwunden, aus dem Stadtbild in ein Buchformat gebannt.  - Fünfzehn Jahre lang hat Harf Zimmermann, *1955 in Dresden, in Berlin und dem Osten Deutschlands nach solchen Mauern gesucht. Er hat Journalismus und Fotografie (bei Arno Fischer an der HGB Leizpig ) studiert. 1990 war er Gründungsmitglied der Agentur Ostkreuz. Heute arbeitet er für internationale Magazine und die Industrie und lebt in Berlin.  

 

Briefe von Milena Jesenská aus der Gefangenschaft - Neue Rundschau 2015/2  
Hg. Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler,Oliver Vogel
288 S., Hardcover, Fischer Verlag, 2015
15,00 €; ISBN: 978-3-10-809102-6

 


Zufällig wurden vierzehn Briefe entdeckt, die Milena Jesenská, Journalistin, Übersetzerin, Widerstandskämpferin und einstige Freundin Franz Kafkas, in der Gefangenschaft geschrieben hat. Nach ihrer Festnahme durch die Gestapo im November 1939 waren das Gefängnis in Dresden und das berüchtigten Pankrác–Gefängnis in Prag, schließlich das Konzentrationslager Ravensbrück ihre Leidensstationen.
Die bewegenden Briefe an ihren Vater und ihre Tochter Honza sind erschütternde Zeugnisse, in denen Milena Jesenská über sich und ihre Familie schreibt, über Hoffnungen und Hoffnungslosigkeit. Sie will Mut machen, trotzalledem. Zwischen den Zeilen liest man aber auch ihre Verzweiflung, ausgelöst vor allem durch ihre nicht oder nur notdürftig behandelten Krankheiten. Das sind überraschende Töne nur für die, die sie noch immer nur im Kafka-Kontext wahrnehmen. Bekannt wurde sie durch die erstmals 1949 veröffentlichten Erinnerungen von Margarete Buber-Neumann Gefangene bei Stalin und Hitler und Kafkas Briefe an Milena. Die Briefe werden hier von Alena Wagnerová (s. hier auch:
Alena Wagnerova; Kafkas Nichte - Prag) zum ersten Mal ediert und erläutert. 2014 wurden die Briefe, zusammen mit anderen Schriften, Büchern und Fotos von Milena Jesenská und ihren Weggefährten im tschechischen Kulturministerium in Prag gezeigt.

Eine Besprechung: on.welt.de/1BgYfV1  

       

 

   

Milena Jesenská, 1930

 

im Kafka-Comic von  R. Krumb

 

Stolperstein

 


Eva Ruth Wemme – Meine 7000 Nachbarn
Roma in Berlin
240 S., brosch., mit Abb., Verbrecher Verlag Berlin, 2015
14,00 €; ISBN: 9783957320803




 

Die Geschichten halten fest, was keinem Menschen zuzumuten ist.

Ein Mann arbeitet wochenlang auf der Baustelle des Berliner Flughafens und erhält am Ende keinen Lohn. Einer schwangeren Frau wird im Krankenhaus bestätigt, dass ihr Kind am selben Tag zur Welt kommen werde, dann wird sie gebeten, sich ein anderes Krankenhaus zu suchen. Eine Familie wird im Winter aus ihrer Wohnung geworfen, obwohl sie keine Miete schuldet.

Bei den 7000 Nachbarn handelt es sich um Roma in Berlin. Eva Ruth Wemme übersetzt Literatur aus dem Rumänischen und begleitet seit 2011 rumänische Migrantinnen und Migranten in Berlin als Dolmetscherin und Beraterin. Sie führte zahlreiche Interviews und berichtet eindringlich und aus erster Hand vom Teufelskreis aus Arbeits- und Wohnungslosigkeit, aus Fremdheit und Vorurteilen. Diese Dokumentation macht die Situation und den Grad der Diskriminierung von Roma in Deutschland deutlich.

Eva Ruth Wemme, 1973 in Paderborn geboren, studierte in Köln, Berlin und Bukarest. Sie war Dramaturgin am Schauspielhaus Chemnitz und ist nun als Lektorin, Autorin und Übersetzerin tätig, sie übersetzte u. a. Mircea Cartarescu, Nora Iuga und Ioana Nicolaie aus dem Rumänischem. Als Autorin erhielt sie 2010 das Stipendium der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin sowie das Alfred-Döblin-Stipendium. Sie lebt in Berlin und ist Sprach- und Kulturmittlerin für Neuankömmlinge aus Rumänien. Verlagsinfo

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Sabine Bode – Die vergessene Generation
Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Mit einem Nachwort von Luise Reddemann
304 S., brosch., Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-94797-7

 



Die Menschen der Generation der Kriegskinder berichten erstmals über ihre Erlebnisse während des Krieges. Noch nie hat es in Deutschland eine Generation gegeben, der es so gut ging wie den heute Sechzig- bis Fünfundsiebzig-jährigen. Doch man weiß wenig über sie, man redet nicht über sie - eine unauffällige Generation. Jetzt beginnen sie zu reden, nach langen Jahren des Schweigens.

Die Kriegskindergeneration ist im Ruhestand, die eigenen Kinder sind längst aus dem Haus. Bei vielen kommen jetzt die Erinnerungen allmählich hervor und mit ihnen auch Ängste, manchmal sogar die unverarbeiteten Kriegserlebnisse. Sie wollen nun über sich selbst nachdenken und sprechen. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter spricht von einer „verschwiegenen, unentdeckten Welt“. Mit den Holocaust-Opfern habe man sich eingehend beschäftigt, mit der Kriegskindergeneration nie. Ihnen wurde gesagt: „Sei froh, daß du überhaupt überlebt hast. Vergiß alles und schau lieber nach vorne!“ Sie haben den Bombenkrieg miterlebt oder die Vertreibung, ihre Väter waren im Feld, in Gefangenschaft oder sind gefallen. Diese Erinnerungen haben sie bislang in sich verschlossen gehalten, sie trösteten sich mit der Einstellung: „Andere haben es noch viel schlimmer gehabt als wir.“ So wurde eine ganze Generation geprägt: Man funktionierte, baute auf, fragte wenig, jammerte nie, wollte vom Krieg nichts hören - und man konnte kein Brot wegwerfen. Klappentext

Sabine Bode lebt als freie Journalistin in Köln, schreibt Sachbücher und arbeitet für die Kulturredaktionen des Hörfunks von WDR und NDR.
Leseprobe:
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Jens Orback, Schatten auf meiner Seele
Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer
Ein Kriegsenkel entdeckt die Geschichte seiner Familie
264 S., geb., Verlag Herder 2015
€ 19,99, ISBN 978-3-451-31267-0

 

 

Wenn Jens Orbacks Mutter von ihrer Kindheit erzählte, kam sie nie weiter als bis zum 13. März 1945 - dem Tag, als russische Soldaten in ihr Heimatdorf in Pommern kamen. Auch ohne genau zu wissen, was ihr damals widerfahren war, spürte der Sohn das unausgesprochene Grauen und die Angst. Das Schweigen schützt nicht: Die unverarbeiteten Traumata der Eltern können sich weitervererben, noch die Kinder werden von den namenlosen Ängsten ihrer Eltern verfolgt.
Persönlich, leise und berührend schreibt der Nach und nach gelingt es dem schwedischen Journalist und Politiker Jens Orback in diesem Buch über die Beziehung zu seiner Mutter und deren Erlebnisse während und nach der Flucht aus Pommern das Schweigen in der Familie über die Kriegserlebnisse aufzulösen. Ein einprägsames Buch, das ein Tabuthema zwischen Eltern und Kindern aufbricht und von den späten Auswirkungen von Flucht und Vertreibung erzählt.
Aus dem Buch: „Wann genau die Geschichte meiner Mutter ein Teil von mir wurde, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an einen Morgen, der bestimmt zwanzig Jahre zurückliegt. Ich lag im Bett in unserem Sommerhaus. Das unangenehme Gefühl, das ich beim Aufwachen empfand, ging in eine Art Panik über, es war, als fiele ich in einen Abgrund, und ich wusste nicht, wie weit ich noch fallen würde. Als würden sich immer weitere Schichten öffnen - ins Bodenlose. Dieses Gefühl kam immer wieder. Es war wortlos übertragen worden, und das machte es mir vielleicht deshalb so schwer, mich dagegen zu wehren. Ich wurde in etwas hineingezogen, womit ich nicht umgehen konnte, ich konnte es nicht in Worte fassen, aber es war etwas in meiner Mutter, das jetzt auch in mir war.
[…] Ich muss mehr aus ihr herauslocken. Sie muss mir sagen, wovor ich mich fürchte. Für diese Aufgabe bin ich nicht sehr geeignet. Es wird eine Reise mit unsicherem Ausgang.“

Jens Orback, 1959 in Stockholm geboren, ist ein sozialdemokratischer Politiker und Journalist. Von 2004 bis 2006 war er schwedischer Minister für Demokratie-, Integrations- und Gleichstellungsfragen. Heute ist er der Generalsekretär der Olof-Palme-Stiftung.

   

Randi Crott, Lillian Crott Berthung
Erzähl es niemandem!
Die Liebesgeschichte meiner Eltern
280 S., Hardcover, 25 s/w Abb.
€ 19,99, ISBN 978-3-8321-9640-0

 


 

Dass sie jüdische Wurzeln hat, erfährt Randi Crott erst, als sie erwachsen ist. Und genau wie ihre Mutter 1942 soll auch sie jetzt – über zwei Jahrzehnte nach dem Krieg – mit niemandem darüber sprechen. Bis zum Tode des Vaters bleibt seine Geschichte verborgen. Weggepackt in alten Briefen und Dokumenten. Mit großer Leidenschaft rekonstruiert die Autorin den Lebensweg ihrer Eltern. Er reicht von der Verfolgung der Juden in Deutschland über die deutsche Besatzung in Norwegen bis hin zu den Problemen der Vergangenheitsbewältigung nach dem Krieg. Randi Crott hat sich in einem bewegenden Buch auf die Suche nach der Geschichte ihrer Familie gemacht.
„Ohne Hitler hätte es mich nicht gegeben. Welches Gefühl ist für so einen Fall reserviert? Ich bin auf der Welt, weil meine norwegische Mutter sich in einen deutschen Besatzungssoldaten verliebt hat. Aber es gibt noch eine andere Wahrheit, die mir lange genug verschwiegen wurde.“

Randi Crott, *1951 in Wuppertal, ist Journalistin und arbeitet für Radio und Fernsehen. Neben der Moderation von WDR-Sendungen wie Mittagsmagazin, Montalk, Funkhausgespräche, West.art-Talk, West.art Literatur im Römer, Aktuelle Stunde, ARD-Radionacht der Hörbücher und 3 nach 9 ist sie Autorin verschiedener Filme. 


 

Hellmut G. Haasis, „Den Hitler jag ich in die Luft“ 
Der Attentäter Georg Elser – Biografie 
Edition Nautilus – Verlag Lutz Schulenburg 
400 S., brosch., mit 25 Abb., 
€ (D) 22,– €; ISBN 978-3-89401-606-7

 


 

 

Haasis setzt dem Fast-Hitler-Attentäter Georg Elser als Widerstandskämpfer ein Denkmal 

München, 8. November 1939: Alles war sorgfältig vorbereitet. In dreißig Nächten hatte Georg Elser im Pfeiler hinter dem Rednerpult eine Bombe installiert. Doch kurz bevor sie explodierte, hatte Hitler, früher als sonst, den Bürgerbräukeller verlassen. Zum gleichen Zeitpunkt war der Attentäter durch aberwitzige Umstände bereits verhaftet. Noch während Hitler seine Zuhörer gegen England aufstachelte, hatte Elser bei Konstanz versucht, unbemerkt in die Schweiz zu gelangen. In seiner Jackentasche fanden die Zöllner eine Postkarte des Bürgerbräukellers, die den „illegalen Grenzgänger" später zum Verdächtigen machte. Er wurde an die Gestapo nach München ausgeliefert und dort nach schweren Folterungen zu einem Geständnis gezwungen. Am 9. April 1945 wurde der schwäbische Widerstandskämpfer im KZ Dachau ermordet. Bis dahin suchte die Gestapo in endlosen Verhören nach den „Hintermännern". Hitler und Himmler wollten nicht glauben, dass Elser allein gehandelt hatte; es musste Drahtzieher geben. Es gab sie aber nicht – ein Umstand, der später auch die Historiker verwirrte: Ein Handwerker, der keiner politischen Gruppe angehörte, ein Einzelner, der früh erkannte, dass der Kriegstreiber Hitler nur mit Gewalt gestoppt werden kann, passte in keine ideologische Schublade. 

Hellmut G. Haasis, *1942 in Mühlacker, Studium der Theologie, Geschichte, Soziologie und Politik. Politischer Publizist, Verleger und Rundfunkautor. Veröffentlichungen u.a.: Spuren der Besiegten, 1984; Gebt der Freiheit Flügel, 1988; Das unheimliche Prag, 1992; Edelweißpiraten, 1996; Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß; 1998. Tod in Prag. Das Attentat auf Reinhard Heydrich, 2002, s. hier:Henker von Prag. Thaddäus-Troll-Preis, Schubart-Preis, Civis-Preis

 

   

Lars Geiges, Stine Marg, Frank Walter
Pegida – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?
208 S., kart., farb. Abb., transcript Verlag Bielefeld, 2015
Print: 19,99 €, ISBN: 978-3-8376-3192-0; E-Book (PDF): 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3192-4; E-Book (EPUB): 14,99 €, ISBN 978-3-7328-3192-0


Die Jahreswende 2014/15 brachte mit Pegida einen ganz anderen politischen Winter. Menschen gingen auf die Straßen, wetterten gegen die „Islamisierung des Abendlandes“, skandierten „Wir sind das Volk“ und schimpften auf die „Lügenpresse“:  Nicht nur – aber vor allem – in Dresden, wo Pegida ihren Anfang nahm, wurden Zehntausende mobilisiert. Medien und Politik rätselten: Was ist Pegida? Woher kommt die Bewegung? Was macht sie aus und was treibt ihre Aktiven an? Das Göttinger Autorenteam hat Pegida-Demonstrationen beobachtet und Interviews, Gruppendiskussionen sowie eine Onlineumfrage durchgeführt. Dieser Band versucht eine erste Analyse von Pegida, aber auch von NoPegida und gibt so einen Einblick in die momentane deutsche Zivilgesellschaft und ihre Ambivalenzen. Zu klären wäre noch, was eigentlich die "saubere" Seite ist und ob solche Reinlichkeitsbegriffe wirklich taugen...  

 

Jan Wagner, Rebentonnenvariationen
112 S., geb., Hanser Berlin, 2015
15,90 €, ISBN 9783446246461







Für den Leipziger Buchpreis 2015 nominiert

Der Garten ist „natürlich“ eine Metapher: für das Leben, für Werden und Vergehen, Leben und Tod. Die Dinge, die Wagner betrachtet, an denen sein Blick hängen bleibt, kommen aus Flora und Fauna und sind, obwohl doch eigentlich bekannt, voller Geheimnisse. Sie zeigen ihre Schönheit, offenbaren sich aber nicht gleich. Man muss schon genau hinschauen, einen Augenblick an der Regentonne stehenbleiben, sich Zeit nehmen und Muße haben. Ihre Anwesenheit in der Welt ist ein Wunder – und voller Verwunderung lässt Wagner seine Blicke schweifen, taucht ein in die Bilder, die sie in ihm auslösen. Es ist ein kindlicher Blick, den er evoziert, der nicht sortiert, der sich noch keinen Begriff macht. Das Erstaunen denkt nicht nach, es will einfach weiter, und das ist stilistisch brillant in Szene gesetzt. Jedes Wort trägt, trägt einen fort, in andere Jahreszeiten, in andere Aggregatzustände und Seinsweisen, in das eigene Leben. Da stromert jemand auf schmalen Wegen durch Gärten und Landschaften wie in einer unbekannten Wildnis und findet Unkraut wie die Ackermelde oder die vieldeutigen Silberdisteln, sieht Weidenkätzchen, Schlehen und Morcheln und allerlei Vögel und andere Tiere. Sie sind eine Welt für sich und welthaltig zugleich, und sie beobachtend wird man ein Teil davon. Als Kind erlebt man das. Als erwachsener Mensch kann man versuchen, sich diesen Zustand zu vergegenwärtigen und neu zu erfinden. Da reist einer in den Süden und Esel stehen da wie Wächter auf einer Anhöhe, wie antike Skulpturen, die an heroische Zeiten erinnern und zugleich an ihre Vergänglichkeit gemahnen. Flirrender Schaum in der Luft um ein Gebüsch herum, als wäre man am Meer, aber man ist doch schon da... oder irgendwo ganz anders. Lichte Sommertage, Hitze auf der Haut, durch Sturm und Regen, das Universum schaut in die Fenster. Düfte, die ein unbekanntes Flair versprühen und Sehnsüchte wecken, wie aus der Ferne, unwirklich und dennoch seltsam bekannt, steigen Gerüche auf, die an Tod und Verwesung erinnern. Ein Kind im Brunnen, Blitze und Donner, die Kälte der Verlassenheit, die Gewalten der Natur und die Gewalt der Menschen gegen sie und sich selbst, lauter Abenteuer, die am Abendbrottisch enden, im Klassenzimmer oder viel später irgendwo in einer anderen Ordnung, in der man dem Staunen wie dem Erschrecken Herr geworden zu sein scheint und die Erinnerung an den Reichtum und die Verluste nur im Summen der Mücken allgegenwärtig bleibt: „als hätten sich alle buchstaben / auf einmal aus der zeitung gelöst / und stünden als schwarm in der luft; […] sie tanzen, / dünner als mit bleistift gezeichnet“.

O-Ton vom Dichter, nun mit dem Leipziger Buchpreis für Belletristik ausgezeichnet: 

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=50059 


André Herzberg, Alle Nähe fern
272 S., geb., Ullstein Buchverlage Berlin 2015
21,00 €, ISBN-13 9783550080562




Drei Generationen umspannt die Geschichte einer jüdischen Familie in Berlin, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reicht, ihren sephardischen Ursprung jedoch in Spanien hat. Am Anfang steht der Aufstieg des Großvaters vom Lederhändler zum mittelständischen Unternehmer mit deutschnationalem Weltbild. Herzberg beschreibt die gesellschaftlichen Gegebenheiten sowie die durchaus widersprüchliche familiäre Anpassung an die vermeintlichen oder tatsächlichen Anforderungen lakonisch und pointiert. Die Eltern von Paul, dem Vater von Jakob, der der Erzähler des Romans ist, können sich in buchstäblich letzter Minute vor der Deportation ins Exil retten. Den Sohn hatten sie schon vorher nach England in Sicherheit gebracht. Nach dem Krieg geht Paul als überzeugter Kommunist in die DDR, verleugnet dort seine soziale Herkunft und lebt als ranghoher Funktionär. Hier flicht Herzberg auch deutlich autobiographische Elemente ein: nach einer schwierigen Kindheit wird sein Protagonist Sänger, durchlebt nach Mauerfall und „Wende“ eine existentielle Krise und findet schließlich zu Judentum und zu sich selbst. Erzählt wird von der immerwährenden, oft nicht eingestandenen und durchaus unterschiedlichen Suche nach Bindung, Zugehörigkeit und Liebe: wahlweise zu einem Land (ausgerechnet dieses!?), zu einer Partei, zu einer Familie, zu wirklichen Freunden - und von Wunden, die nie ganz heilen. In der Beschreibung der Heimatlosigkeit und der erschreckenden Fremdheit zwischen Vätern und Söhnen erinnert der Stoff auch an Thomas Brasch, dessen Familiengeschichte Ähnlichkeiten aufweist (s. hier auch: Thomas Brasch). Herzberg ist jedoch Musiker, er versteht etwas von Harmonien und Dissonanzen und wie man den Kopf frei bekommt mit Musik – und komponiert seinen Text zwischen einigen wichtigen historischen Ereignissen und stets eigenwillig darauf reagierenden Menschen mit einigen Tempi-Wechseln und Gespür für die weichen, harten und Zwischentöne luzide und eindringlich zugleich.


 

Europa – Traum und Wirklichkeit, Hg. Nicol Ljubić, Tilman SpenglerDokumentation der Europäischen Schriftstellerkonferenz 2014192 S., brosch., Christoph Links Verlag, 2015

14,90 €, ISBN: 978-3-86153-826-4

  

 

Dreißig AutorInnen aus vierundzwanzig Ländern trafen sich im Mai 2014 (s. hier: ) in Berlin und diskutierten einen Tag lang über Europa. Gibt es eine gemeinsame europäische Identität? Ist Europa noch ein Ort der Sehnsucht? Welche Herausforderungen kommen auf diesen Kontinent zu? Die vielschichtigen Antworten der Tagungsteilnehmer sind in dieser einzigartigen Dokumentation versammelt. An Reden und Podiumsbeiträge reihen sich unveröffentlichte Prosatexte und Gedichte sowie ein Manifest der Autoren. Ein polyphoner Band, der Denkanstöße liefert und uns daran erinnert, was Europa sein könnte und sein sollte. s. hier auch: Manifest zu Europa


Aufbruch und Rückkehr
Ukrainische und tschechische Prosa im Zeichen der Postmoderne
Kaleidogramme Bd. 95
311 S., brosch, Kulturverlag Kadmos Berlin, 2013
24,90 €, ISBN 978-3-86599-185-0

 




„Ist es weg? Und wie soll man jetzt leben – so oder anders?“ fragt Jáchym Topol in seinem Roman Die Schwester. Wie individuelles und kollektives Leben so oder anders nach der ideologischen Entleerung des Ostblocks und der scheinbaren ideologischen Pluralisierung des Westens gestaltet werden könnte, bewegte die Literatur im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Einer der möglichen Wege war die weltanschauliche Vielfalt und Gleich-Gültigkeit von Denkfiguren der Postmoderne: Das Ende der 'großen' vereinheitlichenden ideologischen Geschichten und ihr Zerfall in eine Vielzahl kleiner Erzählungen ist wahrscheinlich das bekannteste postmoderne Postulat. Die postmoderne Prosa Tschechiens und der Ukraine ist in ihrer Ästhetik darüber hinaus nur in der Verknüpfung mit den jeweils nationalen, insbesondere modernen Denktraditionen verständlich. So wird die Reflexion partikularer und marginaler Traditionen und Identitäten zur ästhetischen Praxis in ukrainischen und tschechischen Prosatexten und spiegelt in der Rückschau die aktuelle kulturelle Gemengelage und Erinnerungskultur, z.B. bei Oksana Zabužko oder Jáchym Topol. Populäre Denkfiguren sind auch die Karnevalisierung der Literatur etwa bei Jurij Andruchovyč und Jiří Kratochvil, die virtuellen Geschichtsszenarien (Vasyl’ Koželjanko, Miloš Urban) oder postkoloniale literarische Schreibstrategien wie beispielsweise bei Zabužko und Andruchovyč (Verlagsinfo). Ähnliches trifft übrigens auch auf das Filmschaffen jener Zeit zu.  

  

Der CIA-Folterreport
Der offizielle Bericht des US-Senats zum Inhaftierungs- und Verhörprogramm der CIA.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Wolfgang Nešković
800 S., brosch., Westend 19.01.2014
18,00 €, ISBN 978-3-86489-093-2

 






“Wir haben nur getan, worum wir gebeten wurden und was uns als rechtmäßig geschildert wurde. Wir wissen, dass unsere Aktionen effektiv waren.“ Mit diesen klaren und eindeutigen Worten verteidigt der verantwortliche CIA-Beamte Jose Rodriguez die Foltermethoden seiner Behörde in ihren Geheimgefängnissen – und erhält Rückendeckung von oben: „Wir als Nation sollten froh sein, dass solche Leute für uns arbeiten“, sagt der ehemalige Präsident George W. Bush, unter dessen Ägide diese Methoden angewandt wurden. Der Folterbericht, der jetzt vom US-Senat veröffentlicht wurde, deckt die CIA-Praktiken unter Bush schonungslos auf und zeigt in drastischer Weise das moralische Versagen des mächtigsten Landes der Welt.

Wolfgang Nešković ist ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und war jahrelang MdB, seit seinem Austritt aus der Linksfraktion im Dezember 2012 bis 2013 war er der einzige fraktionslose Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Er gehörte u.a. dem Parlamentarischen Kontrollgremium an, das die deutschen Nachrichtendienste Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst kontrollieren soll, und war mit dem Fall Murat Kurnaz befasst.

 

Kurz & Verrissen: Das Wesentliche und das Unwesentliche

Joachim Sartorius hat mit dem Titel Niemals eine Atempause ein 'Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert' herausgebracht. Er ist immer noch ganz Mann der alten Schule, was nicht weiter auffällt, weil in der zeitgenössischen, sollte es eine solche geben, der gleiche, durch ständige gegenseitige Selbst-Beweihräucherung hervorgerufene Mief herrscht, ausgesprochenes oder unausgesprochenes Einverständnis durch die heiligen Hallen der Dichtung (wie der Geschichtsschreibung) weht, der Männerblick, der immer noch entscheidet, was der Rezeption wert ist und was nicht, weswegen der Herausgeber eben auf „Feministisches verzichtet hat“ (was immer der Feuilletonist sich darunter vorstellen mag...). Es fehlt also nicht nur „der Feminismus“ (?), überhaupt „mehr weibliche Stimmen“, wird zwar konzediert, aber – beeilen sich die Rezensenten zu beschwichtigen – das liege in der „Natur jeder Anthologie“, die immer etwas weglassen müsse, also in diesem Fall eben Frauen. Aber – weiß ein Kritiker –, „das sind kleinliche Einwände.“ Und wer lässt sich schon gerne als kleinlich, gar als verbittert bezeichnen, das macht schließlich hässlich ... Nachhaltig und strukturell verändert hat sich das gesellschaftliche Leben im 20. Jahrhundert sicherlich durch die Frauenbewegungen: politisch, juristisch, literarisch, künstlerisch – aber in einem Handbuch der politischen Poesie haben Frauen auch 2015 nichts zu suchen, dort herrscht die gleiche eisige Rezeptionsgeschichte des Ausschlusses, wie eh und je. Wenn man keine Chance hat, politische Poesie von Dichterinnen kennen zulernen, weil sie nicht veröffentlicht und rezensiert wird, existiert sie nicht bzw. nur im Verborgenen, im Unsichtbaren. Man kann auch nicht darüber streiten, was "das Politische" überhaupt ist, was das Politische in der Poesie und das Poetische in der Politik sucht.  

 

Askim Utkuseven – Rache auf Türkisch. Geschichten
160 S., brosch., Divan Verlag 2015
15,90 €, E-Book: 6,99 €, ISBN 978-3-86327-025- 4 





Hasan und Hatice heiraten. Halime will einen Dönerladen aufmachen, Ali nur die Führerscheinprüfung bestehen. Ayse haut ihren Mann in die Pfanne, Akif will ein Mädchen mit seiner Kochkunst erobern und Mehmet versucht, seiner Schwiegermutter zu entgehen … Wenn Sie dachten, Sie wüssten alles über unsere türkischen Mitbürger, dann lesen Sie diese Geschichten. Dass Kochen, Heiraten, Kinderkriegen, Schwiegermütter, Arbeitslossein, Flirten, Rachenehmen, Taxifahren, Familienfeiern auf Türkisch ganz, ganz anders sind, als wir es uns vorstellen, davon geben die Storys von Askim Utkuseven einen kleinen Eindruck(Klappentext). Mehr zum Verlag: http://www.divan-verlag.de/ und zum Verlagsprogramm: http://www.boersenblatt.net/855528/?t=newsletter

 

Andreas Kossert, Kalte Heimat
Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945
432 S., geb., s/w Abb., Siedler Verlag 2008
24,95 €, ISBN: 978-3-88680-861-8

 




Zur Erinnerung:
Die 'Flüchtlingsfrage' in Deutschland
Mit diesem Buch bricht Andreas Kossert ein Tabu: Er erschüttert den Mythos der rundum geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945. Erstmals erhalten wir ein wirklichkeitsgetreues Bild von den schwierigen Lebensumständen der Menschen im »Wirtschaftswunderland«. Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen mehr als vierzehn Millionen Menschen aus den deutschen Ostgebieten, der überwiegende Teil in die westlichen Besatzungszonen. Diejenigen, die Flucht und Vertreibung überlebt hatten, fühlten sich von ihren deutschen Landsleuten aber nicht aufgenommen, sondern ausgegrenzt. Während die einen schon alles verloren hatten, sahen sich die anderen nun dem gewaltigen Zustrom der „Fremden“ ausgesetzt, der das soziale Gefüge Restdeutschlands auf den Kopf stellte. Vorurteile und der mit dem Lastenausgleich aufkommende Neid zogen einen tiefen Graben durch die deutsche Gesellschaft. Ohne die Vertriebenen, die mit Nichts begannen, hätte es jedoch kein Wirtschaftswunder gegeben, sie waren ein wichtiger Motor der Modernisierung in der Bundesrepublik. So wurden sie zwar als Wähler heftig umworben und politisch von allen Seiten instrumentalisiert, zugleich aber mit ihren tiefen Traumatisierungen allein gelassen. 
Andreas Kossert hat die schwierige Ankunftsgeschichte der Vertriebenen umfassend erforscht und beleuchtet erstmals diesen blinden Fleck im Bewusstsein der deutschen Nachkriegsgeschichte. In seinem Buch beschreibt er eindrucksvoll die Erfahrungen derjenigen, die durch den Krieg entwurzelt wurden und immense Verluste erlitten haben, und fragt nach den materiellen und seelischen Folgen für die Vertrieben und deren Nachkommen. s. dazu auch die TV-Sendung
Kalte Heimat, Vertriebene in Deutschland
https://www.youtube.com/watch?v=A_BMJ_LYgoI

  

Amerika – Sven Regener liest Franz Kafka
Sechs CDs mit 476 Minuten Laufzeit.
Ungekürzte Lesung von Sven Regener.
tacheles!/RoofMusic, Bochum 2014
24.00 €, ISBN 9783864841033



 

 

„Vielleicht sollte man Kafka anders lesen, nämlich ohne Reserve und ohne interpretatorische Ambitionen. So wie wir mittlerweile in der Malerei dreibeinige Pferde oder blaue Bäume hinnehmen können und auch atonale Musik und Wuppertaler Tanztheater: Wie es gerade kommt. Amerika wäre dafür ein guter Einstieg, denn man kann das Buch auch fröhlich als Abenteuerroman lesen, in dem zwar sprachlich immer mal wieder die Perspektiven verrutschen, der eine Satz dem anderen widerspricht, Überdeutlichkeit mehr zur Vernebelung als zur Aufklärung beiträgt, aber was soll s, die Geschichte ist gut und man will wissen wie es weitergeht, und es geht immer weiter, weil Karl Rossmann ein wackerer Held ist, der alles Mögliche tut, bloß nicht lockerlassen.“ (Sven Regener)

 

Barbara Yelin – Irmina. Graphic Novel
288 S., farbig, geb., 19,5 x 23,5 cm, Reprodukt Verlag
39,00 €, ISBN 978-3-95640-006-3

 






Wie man Mitläufer wird

Irmina ist eine moderne, ambitionierte Frau. Sie will weg von zu Hause und die Welt entdecken, ihr eigenes Geld verdienen und unabhängig leben. Sie möchte Fremdsprachensekretärin werden, macht sich mutig auf den Weg und beginnt Mitte der 1930er Jahre ihre Ausbildung ausgerechnet in London. Dort verliebt sie sich – nicht nur wider die schon erstarkte nationalsozialistische deutsche Ideologie, sondern auch gegen die Konvention Britanniens - in den dunkelhäutigen Oxford-Studenten Howard von der Antilleninsel Barbados. Beide verbindet ihre Neugier, die Suche nach Selbstbestimmung, und es sind seine Erfahrungen und klugen Gedanken, die ihren Blick auf die Welt über den eigenen Tellerrand hinaus öffnen und schärfen. Als Irmina gedrängt wird, nach Berlin zurückzukehren, tut sie es im Bewusstsein, immer noch eine Alternative zu haben, sich ein Hintertürchen offen halten zu können. Aber ausgerechnet ihr Streben nach Wohlstand und gesellschaftlichem Status, der Drang dazugehören zu wollen, lässt sie sich schnell anpassen an die vorherrschenden Meinungen und Gegebenheiten, Heirat mit einem SS-Offizier inklusive. Ihr ist durchaus klar, was geschieht, schließlich geht auch sie an den eingeschmissenen Scheiben der verwüsteten jüdischen Läden vorbei, erlebt auch sie die Reichspogromnacht, das allmähliche Verschwinden von Mitbürgern von ihren Arbeitsplätzen, aus ihren Wohnungen und die Heimkehr ihres Mannes nach nächtlichen Razzien. Trotz dieses Wissens ist ihr der soziale Aufstieg jedoch wichtiger, verschließt sie die Augen, bis sie die neuen Verhältnisse als fließende, alternativlose Folgerichtigkeit ihres Lebens wahrnimmt und nicht mehr als gewaltsamen historischen Umbruch. Sie lernt die Ereignisse willig und widerspruchslos zu akzeptieren. Sie ist das, was man später Mitläufer nennt, um Millionen von Menschen nicht Mittäter nennen zu müssen und so auch moralisch zu entlasten. Barbara Yelin hat sich nach eigener Aussage an den Werdegang ihrer Großmutter gehalten und ein atmosphärisch dichtes und präzise gezeichnetes Werk geschaffen, das die immer enger werdenden Blicke der Protagonistin, die Enge selbst, in der sie sich erstaunlich problemlos einrichtet, in ihren immer kleinteiliger werdenden Tableaus auch künstlerisch darstellt. Im Dezember wurde Irmina vom Tagesspiegel zum besten Comic des Jahres 2014 gewählt.  

  

Roberto Bolaño: Mörderische Huren. Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen.
224 S., geb., Verlag Carl Hanser, München 2014.
19,90 €, ISBN 978-3-446-24593-8

 




Bolaños Erzählungen setzen aufs Beiläufig-Fragmentarische. Sie kommen ebenso aufgekratzt wie abgeklärt, finster wie komisch, morbid wie vital, kritisch wie amoralisch daher. Das Dasein erscheint als melancholischer Tanz über einer Leere, in der sich Angst und Gewalt, Sehnsucht und Langeweile stauen und entladen. Wie die Fliegen zappeln die Menschen in den Netzen des Bösen – und jeder Versuch der Befreiung bedeutet eine neue Verstrickung. Auch die Literatur bietet keine Erlösung, sondern trägt mit ihren Kämpfen und Krämpfen zum Chaos noch bei. Idyllen sucht man vergebens, dafür aber findet man eine schwer zu überbietende existenzielle Wut und poetische Genauigkeit. Nichts Menschlich-Allzumenschliches war Roberto Bolaño fremd. Denn: „Alles ist möglich. Jeder Dichter sollte das wissen.“ Andreas Breitenstein. Ganzer Artikel: http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/literatur-und-lebensgefahr-1.18431198

 

Susan SontagThe Doors und Dostojewski
Das Rolling-Stone-Interview mit Jonathan Cott. Übersetzt von Georg Deggerich
160 S., geb., Hoffmann und Campe Verlag 2014
18,00 €; ISBN 978-3-455-50330-2

 




Die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reden (Kleist) kann man in diesem bereits 1978 geführten Interview erleben. Souverän und klug, d.h. immer die Tiefen des jeweiligen Gesprächsgegenstands auslotend, Verbindungen herstellend, auf der Höhe der Zeit spricht Sontag über Fotografie, Kunst und Literatur, Pop und Musik („Rock 'n' Roll hat mein Leben verändert“), Begegnungen und Beziehungen, empfundene wie verfehlte Lieben, den Umgang mit Krankheit und dem Leben-wollen, ernsthaft und humorvoll zugleich – und natürlich immer auch sophisticated.

Susan Sontag (1933–2004) erlangte Weltruhm durch ihre Essaysammlungen Kunst und Antikunst – im Original: Against Interpretation, Über Fotografie und Krankheit als Metapher. In Amerika, einer ihrer vier Romane, wurde 2000 mit dem National Book Award ausgezeichnet. 2013 erschien der zweite Band ihrer Tagebücher, s.: www.hoffmann-und-campe.de

Links: www.susansontag.com; jwa.org

Terry Castle, "Desperately Seeking Susan", London Review of Books, 2005
Bücher:
Susan Sontag: Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963. Originaltitel: Reborn, Hg. von David Rieff. 384 S., geb., Carl Hanser Verlag 2010. 24,90 €; ISBN-13: 978-3446234949
Daniel Schreiber – Susan Sontag. Geist und Glamour, 343 S., geb., Aufbau-Verlag, 2007. 22,95 €; 978-3-351-02649-3
David Rieff – Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag. Originaltitel: Swimming in a sea of death. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. 160 S., geb., Carl Hanser Verlag 2009
17,90 €; ISBN-10: 3-446-23276-1 und ISBN-13: 978-3-446-23276-1
s. auch:
Termine

 

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944  
By the Bodleian Library. Zweisprachige Ausgabe (Englisch/Deutsch)
Übersetzung: Klaus Modick, Vorbemerkung: Helge Malchow und Christian Kracht
160 S., brosch., 16 x 11 cm, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2014 
8,00 €, ISBN-13: 9783462046342 und -10: 3462046349



Rund 400.000 britische Soldaten führten diese Broschüre des britischen Außenministeriums mit sich, als sie sich anschickten, Deutschland vom verbrecherischen Nationalsozialismus zu befreien. Sie sollte ihnen erklären, wie mit den Deutschen umzugehen sei, darüber hinaus enthielt das Heftchen einen Aufruf, sich zwar distanziert und streng, zugleich aber stets fair zu verhalten; es warnte jedoch auch einigermaßen hellsichtig davor, im persönlichen Kontakt nicht auf ihre Lügengespinste hereinzufallen, die nur Ausdruck der weiter wirksamen Nazi-Propaganda seien bzw. Versuche sich von jeglicher Schuld reinzuwaschen oder sich als Anti-Nazi zu präsentieren. Nach einem historischen Abriss über die Machtstrukturen des Landes, über Militarismus und Preußentum, einem Grundkurs in deutscher Geschichte, Politik und Kultur also, geht es hauptsächlich um die Zivilbevölkerung, ihre Mentalität und ihren Alltag. Auffällig ist eine Ordnungsvorstellung, die sich über Sparsamkeit, Gehorsam und Duckmäusertum definiert, zu der wie selbstverständlich Triumphalismus und anbiederndes Selbstmitleid zu gehören scheinen, Merkmale, die schon vor den Nazis existierten, von ihnen jedoch perfektioniert und pervertiert wurden. Die Soldaten werden aufgeklärt über deutsches Essen und Trinken, deutsche Gewohnheiten und Bräuche, Feste und sportliche Veranstaltungen, wie die Deutschen also ihr Leben für gewöhnlich organisierten: Das liest sich seitenweise sogar recht amüsant, manche Passage erscheint skurril und komisch, ist insgesamt allerdings doch erschreckend. Einigermaßen erstaunlich ist vor allem - und das scheint für wirkliche Deutschland-Kenner zu sprechen, die da am Werke waren, dass der Leitfaden weit entfernt von jeglicher Sieger-Attitüde geschrieben wurde, eher getragen ist von Verwunderung. Besorgnis und Befremden über ein äußerst seltsames, „merkwürdiges Volk“
Original: 
www.cgsc.edu/carl/docrepository/Germany1944.pdf - The Bodleian Library

  

Kathrin Gerlof – Das ist eine Geschichte
396 S., geb., Aufbau Verlag Berlin 2014
19,99 €, ISBN: 978-3-351-03563-1

 






Mit dem Fall der Mauer ist deutsche Geschichte nicht einfach zu einem guten Ende gekommen, es werden ganz andere Erinnerungen wach oder eigentlich Erinnerungslücken in der gesamten deutschen bzw. deutsch-deutschen Geschichte wieder sichtbar. Anstatt es sich – sechs Jahre nach vollzogener „Wende“ – in den Häuschen der schönen und ruhigen Siedlung Warenberg [!] gemütlich machen zu können, in der sich alle – „Ostler“ wie zugezogene „Westler“ – gut aufgehoben und sicher fühlen, in der man sich eingerichtet, eigene Bedürfnisse ausleben und die anderer zulassen kann, stellt eine Erbengemeinschaft Restitutions-Ansprüche auf Grundstücke und Häuser, die alle jüdischen Familien gehört haben (sollen). Der Ort wird plötzlich von einer ganz anderen Vergangenheit eingeholt. Die Hausbesitzer sind gezwungen, über Schuld und Mitschuld nachzudenken. Sie suchen nach Lösungen, die jeweils zum eigenen Leben passen, bringen dadurch jedoch die vormals oberflächlich-freundliche Nachbarschaft in arge Bedrängnis und an den Rand des Ausnahmezustands. Die Folgen der Rückforderung stellen alle auf eine harte, ausweglose erscheinende, zugleich finanzielle wie moralische Probe. Die Unfähigkeit zu trauern ist nicht nur eine weit zurückliegende Diagnose auf Papier, sie definiert mit einem Mal Rede und Gegenrede, Diskussion und Streit, wenn es um den eigenen (oder vermeintlich eigenen) Besitz und die juristische Handhabung von legitimen Forderungen und Schuld geht, wenn die heiklen Fragen beantwortet werden wollen. Lange Zeit konnte man sich vormachen, nichts (mehr) mit der Vertreibung und Ermordung der Juden zu tun zu haben. Nun rückt die Geschichte ganz nah an die BewohnerInnen, im Zuge der Auseinandersetzungen kommen auch jüngere Rechnungen zwischen vermeintlichen Gewinnern und Verlieren der deutschen Einheit auf´s Tapet, überlagern jahrelang empfundene Ungerechtigkeiten und schwelende Neidgefühle die Konfrontation mit dem Schicksal der toten und überlebenden Juden. Die schon angespannte Atmosphäre wird weiter aufheizt, man bedient sich auch der altbekannten Ressentiments und Vorurteile, Heuchelei und Opportunismus sind allgegenwärtig.  Der „Wendehammer“, eigentlich Name eines Verkehrsschilds, das am Ende einer Straße einen Wendeplatz ausweist, wird so zum Synonym für ein nie gewolltes und einschneidendes Erlebnis, das unbequeme Entscheidungen herausfordert. Durch die Salomon-Weinreb-Straße fährt man nicht einfach durch, am Ende ist man gezwungen umzukehren. Die Einheitsgewinnlerin und Maklerin Ute Graf, mit westdeutscher Polit-Vergangenheit während ihrer Studienzeit, will sich weder den Boden unter den Füßen wegziehen noch die Butter vom Brot nehmen lassen. Geschmeidig und entschlossen will sie sich vor allem „aus allem heraushalten“ und einen guten Schnitt machen: „ Das wäre ja dann so, als zahlten wir an diese Erbengemeinschaft, mit deren Ansprüchen wir nun wirklich gar nichts zu tun haben. Ute Graf war fuchsteufelswild geworden, als ihr Mann ansetzte, ihr zu widersprechen. […] Philipp hatte irgendwann angefangen, ihr alle naselang erklären zu wollen, was Kollektivschuld sei. Er las geradezu ostentativ vor ihren Augen ein Buch über die Unfähigkeit zu trauern. […] Jetzt aber versuchte ihr eigener Mann, sie zu verunsichern, indem er ihr erklärte, man hätte eine Verantwortung gegenüber diesen Weinrebs und gegenüber den Weizmanns auch. Zum Verwechseln ähnlich diese Namen, schon allein das machte Ute Graf fuchsteufelswild. Haben wir etwa in der DDR gelebt? Ich bitte dich, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, lass mal die Kirche im Dorf. Selbst wenn das alles so stimmt, wie die Erben es behaupten, ist es nicht unsere Verantwortung, ihnen Genugtuung für vergangenes Unrecht zu geben. Dieses Rad dreht doch niemand mehr zurück, hatte sie gesagt und war bei jedem Satz etwas lauter geworden. Und weil sie es hasste, lauter zu werden. Sie bekam dann immer eine ganz schrille Stimme, die ihr selbst in den Ohren weh tat. Deshalb hatte sie ihren Mann gefragt: Willst du mit mir vögeln? Und das hatte Philipp Graf ausreichend abgelenkt. Beim Vögeln hatte Ute Graf gedacht: Jetzt ficken wir uns den Juden aus dem Kopf. Das war kein guter Gedanke.“

 

Marko Martin – Treffpunkt '89
Von der Gegenwart einer Epochenzäsur
320 S., Hardcover, Wehrhan Verlag 2014
22,80 €, ISBN 978–3–86525–416–0
 




Im Mai 1989 reiste Marko Martin als Kriegsdienstverweigerer aus der DDR aus und erinnert ein Vierteljahrhundert später nicht an das sattsam Bekannte, sondern an die Vorgeschichte der Umwälzung ebenso wie an ihre heutigen Spuren im Gesicht der Welt. Sein Augenmerk liegt dabei auf den antitotalitären Vordenkern wie etwa Manès Sperber, Arthur Koestler, Václav Havel und Albert Camus. Persönlich kennenlernen konnte er Jürgen Fuchs, Reiner Kunze, Melvin Lasky, Ralph Giordano, Czesław Miłosz , Tomas Venclova, André Glucksmann, Milo Dor oder Francois Fejtö, dazu emigrierte Dissidenten zwischen Toronto, Lissabon und Hongkong. So ist eine Sammlung von Essays, Reportagen und Porträts entstanden, die „1989“ als bis heute fortwirkende Zeit-Zäsur sichtbar macht, die sich – vor allem im „deutschen Erinnerungsmief“ (Michael Kleeberg in der SZ) – eben nicht allein auf den Berliner Mauerfall beschränkt, sondern einen breiteren Kontext herstellt, weil diese Jahrhundertgeschichte über Mitteleuropa hinausgeht. Erinnert wird u.a. auch an die Niederschlagung der Pekinger Studentenproteste auf dem Tiananmen (04.06.1989), an das erste Aufbegehren der Zivilgesellschaft in Birma.

  

Ricarda Junge - Die letzten warmen Tage

432 S., geb., S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014
21,99 €, ISBN: 978-3-10-403095-1




Der Roman erzählt – aus Westperspektive – deutsche Geschichte, von deutschen Befindlichkeiten, deren Ursprung schon in den 1950er Jahren liegen. Die Geschichte der Hauptfigur Anna, die im saturierten Heile-Welt-Kosmos wohlhabender Familien in gut situierter Wiesbadener Hanglage mit der dazugehörigen Uns-fehlt-es-an-nichts-Überheblichkeit und dem Tochter-aus-gutem-Haus-Image aufwächst und doch immer Fremdheit spürt, umspannt zwei Jahrzehnte und widmet sich den gesellschaftlichen Umbrüchen, die ihr persönliches Leben erschüttern und umkrempeln (werden). Auf dem Sonnenberg gibt sich die alte BRD zunächst jedoch noch satt und zufrieden. Allerdings ist Annas Mutter als Kind mit ihren Eltern aus der DDR geflohen und fühlt sich seither – mehr oder weniger eingestanden, immer aber spürbar – entwurzelt und heimatlos. Wie viele Flüchtlinge lebt sie fortan in Provisorien, fühlt sich, vordergründig längst angekommen, nirgends wirklich zu Hause, ein Gefühl, das sie verkörpert und weitergibt. Dass sie aus der DDR stammt, wird tunlichst verschwiegen. Ihre Vergangenheit wird in Schweigen gehüllt, vor allem der Großvater aus der DDR birgt ein Geheimnis, das Anna entschlüsseln möchte. Mit der Wende ändern sich die altbekannten, bis dahin gültigen Koordinaten des Zusammenlebens, im wiedervereinigten Deutschland verwandelt sich nicht nur das gesellschaftliche Klima. Vor allem die Jungen erleben, wie fragil ehemalige gesellschaftliche Systeme und Ideologien sein können: die soziale Sicherheit, die Versprechen auf ein immer besser werdendes Leben mit dem ehernen Lebenslauf: gute Ausbildung, guter Job, den man lebenslang behält, die blühenden Landschaften entpuppen sich für viele als Illusionen und Wolkenkuckucksheime. Nicht nur die DDR kollabiert, auch die alte BRD existiert nicht mehr, was man sich lange nicht eingestehen will bzw. es sogar bis heute nicht tut. In Junges Buch sind es gerade die Wiesbaden-Sonnenberger Upperclass-Kinder, die auf diesen Wandel reagieren und zwar, in dem sie rechts werden, mit rechtsradikalen Parolen provozieren. Was man in diesem Milieu allenfalls gedacht, aber für sich behalten hat, die reichen Bürgerkinder, die in Villen mit Pools abhängen, wollen drastischer auf sich aufmerksam machen, schrecken auch vor Gewalt nicht zurück, wollen zwar mit den Glatzen aus dem Osten, die Asylbewerberheime in Brand stecken, nichts zu tun haben, jedoch nicht wegen ihrer Taten, sondern weil sie sie für nicht standesgemäß halten, sie als Prolls aus dem Osten abtun, mit denen man sich nicht gemein macht. Diese Schnösel-Kinder haben die gesellschaftlichen Hierarchien längst gelernt und verinnerlicht. Den Rechtsruck innerhalb der Gesellschaft, den man heute beobachten kann, auch hier oben hat er begonnen. Anna wird nach Berlin ziehen und als Online-Werbetexterin in prekären Lebensverhältnissen leben, in wechselnden, unsicheren Beziehungen mit Männern wie Constantin, der sich ganz dem neoliberalen Wirtschaften verschrieben hat, der Kohle machen möchte und andere Menschen nur als Mittel zum Zweck begreift, der flexibel und effizient arbeitet und an ständiger Selbstoptimierung interessiert ist, dem dieser Egoismus zur zweiten Natur geworden ist, den er deshalb – wie die ihn umgebende Gesellschaft auch – für vollkommen normal hält. So „tickt“ man eben heutzutage. - Ricarda Junge entwirft ein gesellschaftliches Panorama der alten wie der neuen Bundesrepublik, das – aus westlicher Retrospektive – die Nachkriegszeit, die Teilung Deutschlands, die alte, ziemlich selbstzufriedene Bundesrepublik mit ihrer sozialen Marktwirtschaft und die nach der Wende entstandene Berliner Republik zeigt. Die historische Entwicklung dieser Gesellschaft(en) erzählt sie konzis anhand von Biographien und Begegnungen einiger weniger Personen, und man erfährt erstaunt und wie beiläufig, wie sehr das Private und das Politische miteinander verbunden sind, wie beredt Schweigen und Verschweigen sein können, wenn man beiden auf den Grund geht – und wie notwendig das ist.

Leseprobe: http://www.fischerverlage.de/media/fs/308/LP_978-3-10-002218-9.pdf

Ricarda Junge über ihr Schreiben: http://www.rbb-online.de/buecherundmoor/archiv/buecher-moor-fritzi-haberlandt/ricarda-junge-die-letzten-warmen-tage-.html

 

Michael Zantovsky – Václav Havel
In der Wahrheit leben, Aus dem Tschechischen von Hans Freundl.
688 S., geb., Propyläen Verlag, Berlin 2014
26.00 €, ISBN 9783549074374

 




Václav Havel war Schriftsteller mit Publikationsverbot, Dissident und gefeierter Staatsmann. Er schlug sich als Taxifahrer durch, weil er nicht studieren durfte. Als Wortführer der Regimegegner landete er im Gefängnis. Nach der Revolution von 1989 wurde er zunächst als tschechoslowakischer, später tschechischer Staatspräsident eine der geachtetsten Leitfiguren der westlichen Welt. Zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution legt Michael Zantovsky, engster Freund und Weggefährte, die erste große Havel-Biographie vor, die zugleich einen neuen Blick auf die dramatischen Ereignisse des Herbstes 1989 wirft. s. hier auch: Vaclav Havel


Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt, Original: Jardí vora el mar, 1967.
Hg. Roger Willemsen

240 S., geb., Mare Verlag, 2014
26,00 €, ISBN-13:978-3866480339 (auch als e-book und Hörbuch erhältlich)



In Der Garten über dem Meer lässt Mercè Rodoreda einen alten Gärtner zu Wort kommen, der Zeit seines Lebens einen hochherrschaftlichen Garten in der Nähe von Barcelona pflegt. Als in den 1920er-Jahren ein frisch verheiratetes Paar, Francesc und Rosamaria, ins Herrenhaus einzieht, ist lautes und wildes Feiern angesagt, Dolce far niente auf Katalanisch: die Reichen und Schönen der Region – und alle die sich dafür halten bzw. dazugehören wollen – geben sich ein luxurierend-sommerliches Stelldichein: im Haus und im Garten, am Strand und auf dem Meer. Es wird der Extravaganz und dem lässig zur Schau gestellten Müßiggang gefrönt, Konkurrenz und Heuchelei inbegriffen. Auf diesem Karussell der Eitelkeiten dreht sich alles um Avancen und Begehrlichkeiten, um Käuflichkeit und wandelbare Prinzipien. Spannend wird es, als der Besitzer der benachbarten Villa mit noch mehr rauschhaftem Luxus aufwartet und sich außerdem als Jugendliebe der Ehefrau entpuppt, was zu heftigen emotionalen und einigen erotischen Verwicklungen führt. Unter dem schönen Schein liegen die Gefühle bloß, in den unausgesprochen vorausgesetzten Übereinkünften werden die ersten Risse sichtbar. Verglichen wurde der Roman mit der Welt, die F. Scott Fitzgerald in Der große Gatsby beschrieben hat; in seiner Abgründigkeit erinnert er auch an die Gesellschftsromane von Cesare Pavese.
Weltberühmt wird Mercè Rodoreda (1908-1982) allerdings bereits mit ihrem 1962 erschienenen Roman La plaça del diamant (Auf der Plaça del Diamant, suhrkamp taschenbuch), der in über zwanzig Sprachen übersetzt ist und als eine der literarisch besten und eindringlichsten Darstellungen des Spanischen Bürgerkriegs gilt (s. hier auch:
- A. Munoz Molina). In ihrem Werk setzt sich die Schriftstellerin immer wieder mit Exil, Krieg und Diktatur auseinander, lebt lange in Frankreich und der Schweiz, bis sie Mitte der 1970er Jahre – nach dem Ende der Franco-Diktatur – wieder nach Katalonien zurückkehren und dort ihren Roma Mirall trencat / Der zerbrochene Spiegel veröffentlichen kann, der gekonnt die Brüchigkeit einer Familienkonstellation thematisiert, die mit Machtausübung und Ideologie aufrechterhalten wird, eine bis in feinste Verästelungen führende Kritik an starren familialen Strukturen, die Übertretung und Gewalt geradezu evozieren, und auch als Allegorie auf Bürgerkrieg und Zwangsgemeinschaft gelesen wurde. - Außergewöhnlich und empfehlenswert sind auch ihre Kurzgeschichten und Erzählungen, einzeln oder in Erzählbänden erschienen, u.a: Vint-i-dos contes, 1958 / Zweiundzwanzig Kurzgeschichten; Quanta, quanta guerra … / Weil Krieg ist; La mort i la primavera.1986 / Der Tod und der Frühling; Der Fluß und das Boot; Und lass als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer.

 

Heike Geißler – Saisonarbeit
263 Seiten, kart., Spector Books / Volte #2
14 €, ISBN 978-3-944669-66-3



Das Leben ist kein Ponyhof
Berichte, Enthüllungen und Reportagen über Amazon gibt es mittlerweile viele: der weltgrößte Online-Händler ist ins Gerede gekommen. In den Schlagzeilen sind diverse Verschiebeaktionen in andere Regionen und Länder (zuletzt nach Polen und Tschechien), um Steuern und höhere Löhne zu sparen – und um wachsendem Widerstand von Beschäftigten auszuweichen; schikanierende Wachdienste und immer wieder Streiks in einigen Logistikzentren; weltweite Proteste von Buchhändlern, Autoren und Verlegern gegen die erdrückende Marktmacht. Selbst Jeff Bezos, der „Mr. Gnadenlos“ genannte Chef, ist mit seinen Praktiken in Verruf geraten, im Netz führt die Empörung zu verlässlich hohen Klickzahlen. Heike Geißler, Autorin, Übersetzerin und in Geldnot, wird vorweihnachtliche Saisonarbeiterin und benutzt in ihrem subjektiven, zugleich politisch hochbrisanten Erfahrungsbericht Amazon als Fallbeispiel, um auch auf Strukturen unserer Arbeits- bzw. Dienstleistungsgesellschaft insgesamt zu sprechen zu kommen. Die Arbeitsorganisation bei Amazon zeigt ihr, dass „mit dieser Arbeit und vielen Sorten Arbeit grundsätzlich etwas faul ist“: Die hohlen sog. Mitarbeitergespräche zwischen Appell, Drill und Motivationstraining, die nur der Kontrolle und Anweisung dienen, die sich modern-jovial gebende Hierarchie, die die alte Hackordnung von den mit Klemmbrettern ausstaffierten Chefs bis zur Leiharbeiterin mit 6,75 Euro Stundenlohn trotzdem nicht verbergen kann, knapp bemessene Pausen, hastig herunter geschlungene Essen, die Toilette als vermutlich einzig unbeobachteter Zufluchtsort, am Ein- und Ausgang das entwürdigende Gedrängel vor den Stechuhren. Der aufgezwungene, gewöhnungsbedürftige 'vernünftige Arbeitnehmerschlaf' zur Kinderschlafenszeit und die bleierne Müdigkeit, die bleibt. Wer lebt, stört, dieser mehrdeutige Satz Elfriede Jelineks scheint Heike Geißler vom Vorstellungstermin bis zum vorzeitigen Abbruch der Beschäftigung zu begleiten. Ihre Beobachtungen und Gedanken gehen weit über Amazon hinaus, vermitteln gleichzeitig aber doch ein konzises Bild des Unternehmens.
http://www.boersenblatt.net/818046/?t=newsletter

  

Silke Scheuermann
Skizze vom Gras – Gedichte
Umschlagbild von Alex Katz
104 S., geb., Schöffling & Co. Verlag
€ 18,95 €,
ISBN: 978-3-89561-376-0

 





Naturlyrik im Zeitalter technischer Möglichkeiten der Reproduktion allen Lebens, einer allgegenwärtigen Selbstüberschätzung und Optimierung in allen Bereichen. Reicht das aus zum Leben? Zum Überleben?



Die Ausgestorbenen
Es sind die Pflanzen in den Schlagzeilen, nicht die auf der Wiese
,
in Wäldern und Sümpfen, Gärten und Parks.
Es sind die Pflanzen, die in den Konjunktiv gezogen sind,
weil wir sie umtopfen in imaginäre Parks,
Erdgeschichte, Kapitel. Jene, die Neubaugebieten
gewichen sind, Umgehungsstraßen und Krafwerken,
im Paralleluniversum riechen sie wunderbar,
in diesem nur nach Papier und Listen,
schlechtem Gewissen und hohem Gewinn.
Wir befinden uns tief im Gestrüpp von Schuld,
das über verlorene Schmuckstücke wächst, weggeworfene Ringe,
Fußkettchen aus angelaufenem Silber. Vergeblich verhandeln wir
alte Gefühle, suchen nach Bildern, die sich im Traum bewegen.
In meinem Brustkorb funkelt mein Herz wie ein versteckter
Kressesamen, ein Blättchen Löwenzahn.
Schwaches Licht fällt auf etwas, das an die Wand gezeichnet ist,
und ich sehe, es sind Bilder der ausgestorbenen Pflanzen.
Für einen Augenblick flüstern alle ihre Namen gleichzeitig,
und ihre Farben leuchten noch einmal auf,
leuchten und leuchten, addieren sich zum Frühling,
wie es ihn kaum je gegeben hat,
wie er kaum jemals in Öl existierte oder auf Hochglanzpapier,
wie er niemals in Fabriken hergestellt wird oder Industrieparks,
gebaut auf dem Areal, das einst das ihre war, jetzt
so wild überwuchert von etwas Neuem.
 


George Saunders - Zehnter Dezember. Stories 
Originaltitel: Tenth of December. Stories, RH New York
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert

272 S., geb., Luchterhand Literaturverlag 2014
€ 19,99 [D], € 20,60 [A], CHF 28,50. ISBN: 978-3-630-87427-2

 




Man möchte die Augen schließen, um nicht all das lesen zu müssen, was George Saunders beschreibt: das Elend der Leute (nicht nur die äußere, auch die innere Armut), ihr Scheitern, den Schrecken und die Verzweiflung und die Peinlichkeit, die manche dabei empfinden und wir manchmal mit ihnen, als sei man beim heimlichen Belauschen und Zuschauen ertappt worden – und manchmal all das zusammen. Saunders geht mitten rein in eine Geschichte, zeigt jemand, der gerade ins Unglück stürzt oder buchstäblich ins offene Messer läuft, und der Widerwillen, genau das zu tun, was man gerade tut, läuft spürbar mit, der wiederum unseren weckt: So genau will man von der Brutalität des Lebens doch gar nichts wissen, lieber unbehelligt bleiben. Aber so genau muss man es wissen, wenn man nicht dauernd die Augen verschließen will vor dem, was direkt neben uns oder mit uns selber geschieht. Dann wiederum beginnt er – fast beschwichtigend!? – mit einem erfolgversprechenden Tag, der allerdings meist nicht so enden wird wie geplant. Falsche Entscheidungen, Schicksal, Intuition? Plötzlich wird man mit etwas konfrontiert und muss reagieren, vermutlich war es immer schon da, lauerte irgendwo, aber man hat es übersehen und/oder verdrängen wollen. That´s life – und es kann einem ganz schön mitspielen, weswegen Saunders Geschichten nicht nur von wilder Trauer durchzogen und tragisch sind, sondern manchmal auch ziemlich komisch.... Die Geschichten tun weh, man möchte die Augen schließen – und doch weiterlesen. Leseprobe: » pdf-Ansicht


Maria Sewcz: inter esse
Berlin 1985 – 1987
80 S., Text von Inka Schube deutsch/englisch,
Steidl Göttingen/ Sprengel Museum, Hannover 2014
38,00 €, ISBN 13 9783865217882.



Mauerjahre. Mit „kalter, unversöhnliche Wut“, schreibt die Fotohistorikerin Inka Schube, „kündigt Sewcz jene Verbindlichkeit gegenüber dem Sichtbaren auf: dass jedes Bild an seinen Rändern endet. Dass es da den einen Raum der Wahrnehmung gibt, den alles und jedes miteinander teilt.“ So illusionslos hat niemand Ostberlin „abgelichtet“, so kompromisslos diese Generation porträtiert, der „im Warten die Zukunft abhanden“ gekommen ist. Selbst Mensch und Tier sind nicht wirklich belebt, es herrscht allenfalls die Nachahmung längst lästig gewordener Haltungen und starrer Ordnungsprinzipien, bildlich durchkreuzt von Diagonalen und schiefen Winkeln, die Sujets zwischen schwarz-weißen Linien eingezwängt, lauter Schnitte, als wollten sich die Bilder selbst ins 'eigene Fleisch' schneiden, „im ständigen Wechsel der Perspektiven und ohne jedes Interesse, die individuelle Wahrnehmung den sogenannten historischen Notwendigkeiten unterzuordnen.“ Interessant ist, dass zur gleichen Zeit, also der Vorwendezeit, auch in West-Berlin in ähnlicher Weise fotografiert wurde, nur eben die andere Seite jenseits von „Pariser Platz, Rathaus, Alexanderplatz, Thälmann Denkmal und der Grenze“.  

 

Michal Viewegh – Die Mafia in Prag
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
320 S., geb., Deuticke Verlag 2014
19,90 € (D) / 27,90 sFR (CH) / 20,50 € (A), ISBN 978-3-552-06258-0



Der ehemalige Lobbyist Darek Balík wird als Kronzeuge von der Polizei bewacht. An wechselnden geheimen Orten versucht er sich Zeit und Angst mit Wein und Zeitungen zu vertreiben. Ohne Vorwarnung entzieht ihm der Innenminister den Zeugenschutz. Damit ist Balík seinen Feinden ausgeliefert: Der Prager Bürgermeister, der lokale Pate, die russische Mafia, sie alle sind hinter ihm und dem kompromittierenden Material, das er gesammelt hat, her. Michal Viewegh hat die Niederungen der Politik in Tschechien genau recherchiert und zu einem Krimi verdichtet. Dass ähnliche Korruptionsaffären die tschechische Regierung tatsächlich zu Fall bringen würden, konnte er nicht ahnen, als der Roman entstand, der mit Witz und Pulp-Fiction-Elementen überzeugt. (Verlagsinfo) s. hier auch: Spots

Der tschechische Bestsellerautor, *1962 in Prag, arbeitete nach abgebrochenem Wirtschaftsstudium als Nachtwächter, studierte dann Tschechisch und Pädagogik. Bisher bei Deuticke erschienen: Erziehung von Mädchen in Böhmen, 1998); Die Liebe eines Vaters, 1999; Roman für Frauen, 2002; Geschichten über Sex und Ehe, 2004; Völkerball, 2005; Der Fall untreue Klára, 2007; Engel des letzten Tages, 2010; Zeitweiliger Orientierungsverlust, 2011. Leseprobe als PDF. Link: http://www.viewegh.cz/

 

Lisbeth Exner / Herbert Kapfer
Verborgene Chronik 1914 – Hg.: Deutsches Tagebucharchiv
416 S., geb., Verlag Galiani Berlin 2014
Euro 24,99 (D) | sFr 34,70 | Euro 25,70 (A). ISBN 978-3-86971-086-0

 



1914 von unten – Einblicke ins Alltags- und Gefühlsleben der Deutschen

Lisbeth Exner und Herbert Kapfer sichteten, unterstützt von den MitarbeiterInnen des Deutschen Tagebucharchivs, für diesen Band erstmals die dort lagernden ca. 240 Tagebücher aus der Zeit zwischen 1914 und 1918 und komponierten aus den Texten eine Art kollektives Tagebuch des Ersten Weltkriegs, das Einblicke in dieses Schicksalsjahr bietet, wie es sie vorher noch nie gegeben hat: ungeschönt und ohne nachträgliche Zensur berichten unterschiedlichste Menschen in ihren Tagebüchern davon, wie sie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die ersten Kriegsmonate erleben. Anhand dieser privaten Aufzeichnungen erfährt man von der komplizierten Vorgeschichte und der großen Euphorie bei Kriegsbeginn, von den frühe Siegen und der ersten bitteren Ernüchterung. Stimmen von der Front und aus der Etappe, aus den Schützengräben in Ost und West, von den Weltmeeren, aus dem Hinterland. Von einfachen Soldaten und Offizieren, von Daheimgebliebenen, Müttern, Geliebten und Kindern, Sanitätern, Feldpastoren, Arbeitern in Munitionsfabriken, Ehefrauen. Eine Collage subjektiver Aussagen, die in ihrer Gesamtheit ein präzises und vielschichtiges Panorama des Jahres 1914 ergeben. Ab 27.07. kann man online in der Chronik mitlesen: http://www.galiani.de/buecher/lisbeth-exner-und-herbert-kapfer-verborgene-chronik-1914.html

 

Volker Weidermann, Ostende – 1936, Sommer der Freundschaft
160 S., geb., Kiepenheuer & Witsch Verlag Köln 2014
17,99 €, ISBN: 978-3-462-04600-7

 




Ein belgischer Badeort mit Geschichte und Glanz, dazu Sonne und Meer: Noch einmal ein Treffpunkt für alle, die in Nazi-Deutschland keine Heimat mehr haben, auf der Flucht sind, erst einmal entkommen sind. Stefan Zweig und sein spätere zweite Ehefrau Lotte Altmann, Joseph Roth und Irmgard Keun, Kisch und Toller, Koestler und Kesten, die verbotenen Dichter. Ein Strandurlaub im Exil, auf Abruf, einen kurzen Sommer lang Liebe und Freundschaft, Sehnsucht, Hoffnung und Verzweiflung. „Und diese Liebe zur Welt, dieser Enthusiasmus waren hart erkämpft. Einer dunklen Wirklichkeit mühsam abgerungen.“ Der Autor erzählt von Leidenschaften, den schon deutlich spürbaren Rissen im Leben Aller, ihrer Melancholie – und wie es weiterging – atmosphärisch dicht, klar und unprätentiös. Eine schrecklich schöne Sommergeschichte.  


Vier Viertel Leben – Die Biographie von Tomáš Kosta
niedergeschrieben von Vladimir Mlynář
208 S. geb., Verlag Ralf Liebe, 2014
20,00 €, ISBN: 978-3-944566-23-8




Eine Biographie des 20. Jahrhunderts: Der Sohn einer linksliberalen jüdischen Familie in Prag, Tomáš Kosta, wird als Siebzehnjähriger nach Theresienstadt und später in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald deportiert, kann aus einem Todestransport fliehen und überlebt eine Typhus-Erkrankung. Nach dem Krieg wird er Marxist und Mitglied der Kommunistischen Partei; die Verhaftung sowohl des Vaters, dann auch der Mutter, die Opfer der stalinistischen Prozesse während der 1950er Jahre werden, verändern seine ideologischen Positionen. Ab Mitte der 1960er Jahre gehört er dem Reformflügel der Partei an, wird stellvertretender Geschäftsführer im Verlag Svoboda, 1968 dessen Leiter. Nach der sowjetischen Invasion emigriert er mit seiner Familie über die Schweiz nach Westdeutschland, wird Geschäftsführer des Bund-Verlages, schließt Freundschaften mit Heinrich Böll und Günter Grass, lernt andere deutsche Intellektuelle kennen und gibt schließlich die politisch-literarische Zeitschrift L heraus. Als Herausgeber kann er osteuropäische Dissidenten-Literatur unterstützen und wird aktives Mitglied des tschechischen Exils. Seit der Wende lebt er in Prag und Frankfurt/Main, engagiert sich vor allem auf dem Gebiet der deutsch-tschechischen Aussöhnung und ist als ehemaliger Häftling in Theresienstadt Vorstandsvorsitzender der European Shoah Legacy Institution, die den Maximen der Theresienstädter Erklärung / Teresin Declaration von 2009 folgt. (s.hier auch: 
Archiv)


Mittelweg 36, Juni/Juli 2014,
Schwerpunkt: Shulamith Firestone – eine radikale Feministin
Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung


Wer war Shulamith Firestone? Die feministische Theoretikerin und Aktivistin ist heute beinahe vergessen. Das Gedenken an Shulamith Firestone, deren Buch Frauenbefreiung und sexuelle Revolution (dt. 1975, das Original The Dialectic of Sex: The Case for Feminist Revolution kam1970 heraus und wurde bereits 1968 geschrieben) weltweit für Furore sorgte und sie zum Mittelpunkt einer Bewegung machte, widmet sich ihrer persönlichen und politischen Geschichte, den Kämpfen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gegen Rassismus, Armut und soziale Ungerechtigkeit, gegen den Vietnam-Krieg, der Rebellion der Frauen gegen Bevormundung, Kontrolle und Ungleichheit, die in eine radikalfeministische Bewegung mündet, verdeutlicht noch einmal Firestones wichtiges Engagement und die Diskussionen und Demonstrationen von Frauen, die bald überall auf der Welt stattfinden, gibt aber auch sehr intime Einblicke in das Leben der ambitionierten Künstlerin, ihre Kindheit, ihre Krankheiten und ihren einsamen Tod. Sie war wohl schon einige Tage tot, als man ihren Leichnam Ende August 2012 in ihrer Wohnung fand. Die Siebenundsechzigjährige hatte von Sozialhilfe gelebt und war vermutlich verhungert, da man nichts zu essen fand. Es gibt Ambitionen, das Apartment in der East Tenth Street in Manhattan als Gedenkort und Wohnmöglichkeit zu erhalten.


Anke Fesel, Chris Keller (Hg.)
Berlin Wonderland – Wild Years Revisited 1990-1996 
240 S., geb., Deutsch-Englisch, Die Gestalten Verlag, 2014
29,90 €, ISBN 9783899555288




Ein weiterer Band zur Wendezeit, fast ein Vierteljahrhundert danach. Die Protagonisten sind in die Jahre gekommen und erinnern sich an ihre wilde Zeit. Interviews und Zitate lassen die Subkultur der Berliner Mitte lebendig werden. Rund zweihundert Fotos von Tacheles, IM Eimer, Schokoladen und Synlabor und vielen anderen Orten halten die kulturelle Aneignung der Stadt fest. Mit dem Mauerfall 1989 besetzen Künstler, Punks, Anarchos, Hausbesetzer und Visionäre das neue Niemandsland, es geht um Aufbruch, Widerstand und Neuordnung durch neu entstehende Clubs, Bars, Technopartys, Galerien, Ausstellungen, Haus- und Wohnungsbesetzungen – Berlin wird Magnet für junge Leute aus aller Welt. Man lebt Freiräume, entwickelt Kreativität und ein neues Lebensgefühl. Gleichzeitig wird Berlin zum Spekulationsobjekt und die meisten Menschen merken es nicht. Man spürt, wie Berlin allmählich zu dem gemacht wird, was es heute ist. 

 

Esther Dischereit: Blumen für Otello – Über die Verbrechen von Jena.

Klagelieder. Libretto. Dokumentation. 
In deutscher und türkischer Sprache.Übersetzung aus dem Deutschen ins Türkische: Saliha Yeniyol. Mit einem Interview von Insa Wilke.
216 S., geb., Secession Verlag, 29,95 €, ISBN 9783905951288

 



Schüsse. Morde. In Serie. Brutal, systematisch und eiskalt. Die Ermittlungsmaschinerie setzt sich in Bewegung, immer in die falsche Richtung. Bewusstes Kalkül oder ein unbewusstes Steuerungssystem, das zwar scheitert, weil es eben nicht so rational funktioniert wie es sich geriert und Fehler nicht vorsieht. Zeichen werden missachtet, Hinweise falsch gedeutet, Akten vernichtet, es kann nicht sein, was nicht sein darf. Esther Dischereit ermittelt in ihren Klageliedern, was die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) angerichtet, welche Lücken sie bei den Hinterbliebenen aufgerissen und hinterlassen haben. Sie ermittelt, welche Vorurteile die Verbrechen möglich und ihre Aufklärung unmöglich gemacht haben, wie der Rassismus und die soziale Voreingenommenheit gegenüber einer stigmatisierten Bevölkerungsgruppe den Apparat blind und ihn umso furchtbarer selbst zum Täter macht, indem er immer nur nach Schuld bei denjenigen suchte, die mit ihrem Leben bezahlen mussten. "Mit der Shakespeare-Figur des Otello, der als erfahrenes Opfer des Mobs im Gespräch mit dem ermordeten türkischen Blumenhändler Licht in das bringt, was geschehen ist, führt Dischereit uns handgreiflich und zugleich theatralisch vor Augen, wie das Fremde nach wie vor erniedrigt, bekämpft und ausgestoßen wird. Ihre Texte sind Teil einer Trauerarbeit unserer Gesellschaft und der Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden angesichts der Grausamkeit der Taten und der im Versagen offensichtlich werdenden Vorurteile deutscher Behörden.Die Klagelieder und das Opernlibretto erscheinen in einer aufwendig gestalteten deutsch-türkischen Ausgabe."

Hörspiel Ursendung 21.05.2014: Blumen für OtelloÜber die Verbrechen von Jena von Esther Dischereit

 

Barbara Coudenhove-Kalergi
Zuhause ist überall – Erinnerungen
336 S., geb., mit Abb., Zsolnay Verlag Wien 2013
22,90 €, ISBN 978-3-552-05601-5

 



Zu den wenigen Habseligkeiten, die der dreizehnjährigen Barbara bei Kriegsende nach ihrer Vertreibung in den Westen bleiben, gehören ein Taschenmesser und eine Wolldecke. Die Autobiographie der Publizistin und Mitbegründerin der legendären Osteuropa-Redaktion des ORF, erzählt anschaulich und nicht ohne Selbstironie von der untergegangenen Welt der böhmischen Aristokratie, von ihren Anfängen als Reporterin in Wien während des Kalten Krieges, vom Wiedersehen mit ihrer Heimat Böhmen. Sie berichtet über ihre Ehe mit dem Reformkommunisten und Weggefährten Rudi Dutschkes, Franz Marek, dessen zweiter Sohn, Rudi Marek Dutschke, nach ihm benannt wurde. Die uneitlen Erinnerungen der als Grande Dame des österreichischen Journalismus bezeichnenden Autorin geben Einblick in ein bewegtes persönliches Schicksal und vermitteln darüber hinaus mitteleuropäische Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Leseprobe als PDF

 

Kat Menschik - Der goldene Grubber.
Von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr
304 S., Spezialformat 21 × 21 cm, Verlag Galiani Berlin
durchgehend illustriert, mit zahlreichen Farbtafeln
34,99 €, ISBN 978-3-86971-083-9

 


„Ein Buch zum Gärtnern, Wundern und Staunen, für alle, die schon längst einmal wissen wollten, wie Blumensamenbomben funktionieren, ob toter Fisch einen guten Dünger abgibt, mit welchem Trick Brennnesseln nicht brennen und ob tschechisches Armeeyoga tatsächlich gegen Herbstdepression hilft. Eben ein Gartenbuch der völlig anderen Art.

„Jetzt hat diese Frau ein Gartenbuch gemacht. Und was für eins! Es ist ein Bilderbuch, oder ein Comic oder irgendetwas ganz anderes. Auf jeden Fall ist es ein Buch über die Liebe. Natürlich! Das habe ich gleich verstanden und jeder, der einen Garten hat und ihn so ernst nimmt, wie die Liebe ernst genommen werden will, wird das auch verstehen.  Ganzer Artikel: www.freitag.de/autoren/jaugstein/alles-ist-erleuchtetLeseprobe (PDF)

 

Über den Feldern
Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur
Horst Lauinger (Hrsg.) 
784 S., geb., Manesse Verlag 2014
29,95 €, ISBN 978-3-7175-2340-6



 


Über die Felder Soldaten ziehen / klingen die Lieder und locken mit / weit in die Welt Legionen reiten / die zu der Fahne stehn treu im Kampf / Sieh wie die Feinde und Rebellen jetzt weichen /unsrer Siegesmacht... (beliebtes Soldatenlied)
Über alle Fronten hinweg versammelt dieses Buch siebzig Glanzstücke moderner Erzählkunst aus sechzehn Sprachen, viele davon in Erst- oder Neuübersetzung: Novellen, Short Storys und Prosaskizzen, entstanden in der Mehrzahl bereits während der Kriegsjahre, von Ernest Hemingway, Stefan Zweig, Tania Blixen, Marcel Proust, Ford Madox Ford, Robert Musil, Virginia Woolf, Guillaume Apollinaire, Alfred Döblin, Joseph Conrad, Jaroslav Hašek, Isaak Babel, Bertolt Brecht, Ivo Andrić, William Faulkner, Irène Némirovsky, Gabriele d‘Annunzio, Louis-Ferdinand Céline, Franz Kafka, Katherine Mansfield u.v.a. – Das universelle Panorama der Jahre 1914–1918 beleuchtet menschliche Abgründe, zeigt die Realität des Kriegs, überrascht aber auch mit unvermuteten Hoffnungs- und Glücksmomenten. Neben dem Frontgeschehen werden ganz bewusst die Nebenkriegsschauplätze ins Visier genommen: Etappe und Hinterland, scheinbar aus der Zeit gefallene 'zivile' Refugien, dazu die inneren Fluchten, Ideen- und Seelenräume sowie, nicht minder umkämpft als die Gefechtszonen der Außenwelt, die „Territorien des Gewissens“ (Pasternak).
Leseprobe

 

Ludwig Winder – Der Thronfolger. Ein Franz-Ferdinand-Roman
576 S., geb., Zsolnay Verlag, Wien 2014
26,00 €, ISBN 9783552056732

 

 



Sonntag, 28. Juni 1914, 10.45, Sarajevo, Ecke Franz-Joseph-Straße/Appelkai: Mit zwei Pistolenschüssen tötet der neunzehnjährige Gavrilo Princip den Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie. Einen Monat später erklärt Österreich dem Königreich Serbien den Krieg, der gleichzeitig den Ersten Weltkrieg auslöst. Franz Ferdinand d´Este, Neffe des Kaisers Franz Joseph, war ein Tyrann, scheu und voller Menschenverachtung, der den Tod des Monarchen Franz Joseph herbeisehnte und widersprüchliche Staatspläne entwarf. „In diesem biografischen Roman, der nach Erscheinen 1937 sofort verboten wurde, verdammt Ludwig Winder seinen armseligen Helden jedoch nicht, sondern zeigt, wie erstarrt das habsburgische Hofzeremoniell war - eine Wiederentdeckung hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajevo.“ (aus dem Klappentext) In der FAZ vom 02.05.2014 ist Nicole Henneberg nicht nur beeindruckt von der Darstellung des ungeliebten und innerlich zerrissenen Thronfolgers und der Familienporträts, sondern auch von Winders Schilderung der politischen Verhältnisse, die zum Ersten Weltkrieg führten. Darüber hinaus ist es eine subtile psychologische Studie und harsche Kritik an der Doppelmoral der Eliten, zeigt die Utopie eines freiheitlichen Europas und ihr schreckliches Scheitern (s. Empfehlungen: Ludwig Winder, Die Pflicht – das sehr lesenswerte Buch über Möglichkeiten des Widerstands während des Protektorats).

 

Peter Becher (Hg.): Kakanische Kontexte. Reden über die Mitte Europas. 
224 S., geb., Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag 2014. 
ISBN: 978-3-7013-1216-0. 24,00 € (E-Book 19,99 €).

 

 


Als Wien Mittelpunkt der Welt war. Intellektuelle Europas reflektieren das Ende der Donaumonarchie.

Seit ihrem Untergang hat die Donaumonarchie die gegensätzlichsten Reaktionen hervorgerufen: heftigste Ablehnung ebenso wie höchste Wertschätzung, nicht selten überzuckert mit einer schneeweißen Haube Nostalgie. Je mehr sich die Jahrestage ihres Untergangs der magischen Zahl 100 nähern, umso stärker wird „Kakanien“, wie Robert Musil die k. u. k. Monarchie ironisch bezeichnete, erneut zu einem Gegenstand der Reflexion: 1914 starb der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand bei einem Attentat in Sarajevo, 1918 endete der Erste Weltkrieg mit dem Zerfall der Monarchie. In welchen Kontexten wird die kakanische Lebenswelt heute gesehen, mit welchen Erinnerungen und Überlegungen verbinden Intellektuelle wie Karl-Markus Gauß aus Salzburg, Dževad Karahasan aus Sarajevo oder György Konrád aus Budapest ihren Blick auf die mitteleuropäische Geschichte der vergangenen hundert Jahre? Diesen Fragen gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes nach, dem eine Vortragsreihe des Adalbert Stifter Vereins zugrunde liegt. Mit Beiträgen von: Ernst Trost,Wien;Christoph Stölzl, Weimar; Karl-Markus Gauß, Salzburg; György Konrád, Budapest; Dževad Karahasan, Sarajevo; Karl Schlögel, Berlin; Isabel Röskau-Rydel, Krakau; Radoslav Katičić, Zagreb; Jacques Le Rider, Paris; Elena Mannová, Bratislava


Majdan! – Ukraine Europa 
edition.fotoTAPETA__Flugschrift 
160 S., brosch., € 9,90 
ISBN 978-3-940524-28-7 

 

 

 

 

Allein in einer Nacht im Februar am Majdan sind es mindestens fünfundzwanzig Menschen, die bei den Zusammenstößen ums Leben kommen, seit Beginn der Proteste in der Ukraine sterben mehr als achtzig Menschen, über Tausend werden verletzt. Erst die vielen Opfer – so die brutale Logik dieses Aufstands – brachten das Machtsystem des Wiktor Janukowytsch zum Einsturz. Mit den Schüssen vom Majdan besiegelte das Regime sein eigenes Ende. - In diesem Buch kommen vor allem Stimmen aus der Ukraine selbst zu Wort, Schriftstellerinnen, Dichter, Intellektuelle. Aber auch Autoren aus anderen Ländern beschreiben den historischen Prozess. Das Buch wird zur Momentaufnahme eines Aufstands. Die Zeit, um die es geht ist: jetzt. Mit dem Buch betreiben wir Geschichtsschreibung des Augenblicks. - Texte von Anastasija Afanasjewa, Juri Andruchowytsch, Yevgenia Belorusets, Elmar Brok, Roman Dubasevych, Kai Ehlers, Orlando Figes, Jörg Forbrig, Timothy Garton Ash, Rebecca Harms, Yaroslaw Hrytsak, Tamara Hundorowa, Olexandr Irwanez, Halyna Kruk, Wolodymyr Kulyk, Andrij Ljubka, Maria Matios, Adam Michnik, Switlana Oleschko, Martin Pollack, Andrij Portnov, Taras Prochasko, Roman Rak, Mykola Rjabtschuk, Konrad Schuller, Ostap Slyvynsky, Natalka Sniadanko, Timothy Snyder, Olexandr Stukalo, Natalia Yeryomenko, Serhij Zhadan.


Juri Andruchowytsch (Hrsg.)
Euromaidan – Was in der Ukraine auf dem Spiel steht
207 S., Taschenbuch, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
14,00 €, ISBN 9783518060728

 



Prominente und Augenzeugen berichten vom Euromaidan. Wie bei Majdan! - Ukraine Europa, edition.fotoTAPETA-Verlag sind auch in diesem Band aufwühlende persönliche und zeithistorische Texte versammelt. Etwas zeitversetzt geht es hier um das Engagement, die Wut und auch die Enttäuschung der AktivistInnen und um Informationen über die Propaganda und jüngste Politik Putins.
Im Klappentext heißt es u.a.: „Ich gehe auf den Majdan. Wer kommt mit?“, schrieb der ukrainische Journalist Mustafa Najem im November 2013 auf Facebook. Aus einer lokalen Demonstration gegen die autokratische Entscheidung des Präsidenten Viktor Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, wurde eine landesweite Protestbewegung: der Euromaidan. Mehr als hundert Menschen wurden getötet, als der friedliche Protest in Gewalt umkippte. Euromaidan steht für die Hoffnung auf Erneuerung der ukrainischen Gesellschaft. Für eine nachgeholte Revolution. Für den Alptraum eines neuen Ost-West-Konflikts. Wird es sie geben: eine freie, selbstbestimmte Ukraine?

Leseprobe: http://www.suhrkamp.de/buecher/euromaidan-_6072.html












 



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