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Deutschland.

Der Krieg ist gewonnen.


Von Lee Miller



 

Lee Miller: Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945
Herausgegeben von Antony Penrose.
Aus dem Englischen von Andreas Hahn u. Norbert Hofmann
272 S., kart., Edition TIAMAT, Berlin 2013.
24 €, ISBN 978-3-89320-178-5

 






Deutschland ist ein schönes Land – mit Dörfern wie Juwelen und zerbombten Stadtruinen –, und wird von Schizophrenen bewohnt. Es gibt blühende Landschaften und schöne Aussichten; auf jedem Hügel thront ein Schloss. Die Weinberge an der Mosel und die frisch gepflügten Felder sind fruchtbar. Makellose Birken und zarte Weiden säumen die Flüsse, und die winzigen Städte bestehen ganz aus pastellfarbenem Putz, so als wären sie ein modernes Aquarell mit Anspielungen auf das Mittelalter. Kleine Mädchen spazieren nach ihrer Erstkommunion in weißen Kleidern und Blumenkränzchen in der Hand herum. Die Kinder haben Stelzen, Murmeln, Kreisel und Reifen und spielen mit Puppen. Mütter nähen, putzen und backen, Bauern pflügen und eggen; alles wie bei richtigen Menschen. Aber das sind sie nicht. Sie sind der Feind. Dies ist Deutschland, und es ist Frühling.


Sie haben großes Glück gehabt. Der Krieg ist für sie gerade rechtzeitig vorbei, um die Schützengräben zuzuschütten und um die Bombenkrater umzupflügen, um zu säen und zu ernten und eine warme Sommerzeit zu genießen. Die Franzosen und Belgier hatten nicht so viel Glück. Deren Ernte wurde vom Krieg vergiftet, und der Staub ihrer pulverisierten Dörfer wurde an Kampfstiefeln quer durch Frankreich bis an die deutsche Grenze getragen. Ich missgönne den Deutschen jeden Grashalm, jede Kirsche im Vorratsschrank ihrer sparsam geführten Haushalte, jede Furche Acker und jedes unversehrte Dach.Zu meiner ganz ausgezeichneten Baedeker-Führung durch Deutschland gehören auch viele Orte wie Buchenwald, die in meiner Ausgabe von 1913 noch nicht erwähnt wurden, und, falls es eine weitere Ausgabe geben sollte, bezweifle ich, dass sie Erwähnung finden werden.

Schließlich hat niemand in Deutschland jemals etwas von einem Konzentrationslager gehört, und ich vermute, dass dort auch niemand auf das Touristengeschäft besonders erpicht war. Besucher buchten jedenfalls ohne Ausnahme nur den Hinfahrtschein, und falls sie lange genug am Leben blieben, hatten sie reichlich Muße, die Sehenswürdigkeiten, sowohl historische als auch moderne, im Rahmen persönlicher und praktischer Erkundungen näher kennenzulernen.

Nun aber kommt, trotz des Umstandes, dass der örtliche Gestapo-Rotary-Club keine Werbung machte, ein beharrlicher Touristenstrom in dieses Lager, um die Schrecken mit eigenen Augen zu sehen. Sie verhalten sich nicht wie die Gaffer bei den Luftangriffen, auch verbringen sie ihren freien Tag nicht einfach aus reiner Neugier hier. Sie gehören weder zu einem Trauerzug, noch

gehen sie hier einem Freizeitvergnügen nach. Es war General Pattons Idee, dass die Bewohner Weimars, einige Tausende jeden Alters und Geschlechts, die von den Brutalitäten der Konzentrationslager noch nie etwas gehört hatten, dem Lager einen Besuch abstatten sollten, das so viele Tausende Menschen beherbergte und begrub, von dem aber nie jemand etwas gewusst hatte, obwohl es in bequemer Laufweite vom Zuhause dieser abgehärteten Rucksackträger lag.

Zu jenem Zeitpunkt (Buchenwald wurde am 12. April 1945 befreit) war bereits Einiges weggeräumt worden, das heißt, es lagen keine noch warmen Leichen mehr herum, und diejenigen, die so aussahen, als würden sie jeden Augenblick tot umfallen, befanden sich im Krankenhaus. Alle hatten bereits ein oder zwei Mahlzeiten gehabt und fühlten sich danach entsprechend krank –aufgrund ihrer geschrumpften Mägen und ihrer Gefühle. Sie wurden auf eine Diät gesetzt, die dem entspricht, was sie im Lager erhalten hatten. Nur dass ihre Suppe nun Gemüse und Fleischextrakt enthält. Ich habe an jenem Tag der Befreiung gesehen, was sie vorgesetzt bekamen, und man würde zögern, es an Schweine zu verfüttern. Die sechshundert Leichen, die sich im Hof des Krematoriums stapelten, weil im Lager in den letzten fünf Tagen die Kohle ausgegangen war, hatte man bis auf hundert weggeschafft. Die Spuren des Todes waren von dem hölzernen »Kartoffelstampfer« (Ein Foltergerät, mit dem man Insassen zu Tode prügelte) abgewaschen, da alles desinfiziert werden musste. An den Auspeitschungspfählen hingen nun Strohpuppen anstelle von Menschen, die schon so gut wie tot waren, die zwar noch fühlen, aber nicht mehr reagieren konnten. Im unterirdischen Krankenhaus arbeitete man auf Hochtouren. Dennoch starben an jedem Tag hundertfünfzig Menschen. Man verfrachtete ihre Leichen in einen Raum abseits der Krankenabteilung.

Unter den offiziellen Lagerakten, die überall zerstreut und zerfleddert herumlagen, befand sich auch die Buchhaltung des Lagers. Da wurde kein Geld und keine Arbeitsstunden aufgeführt, sondern die Zahl der Toten. Seit Anfang dieses Jahres lag sie bei über fünftausend, fast sechstausend monatlich. Das Blatt für April erfasste nur die ersten zwei Wochen und verzeichnete um die sechshundert Tote. Eine makabre Zwischenbilanz. Angesichts der Tatsache, dass allein im Hof sich schon weit mehr Leichen stapelten als auf den Listen insgesamt ausgewiesen waren.

Jahrelang mussten wir uns Märchen über Brennstoffmangel anhören. Wir haben die Reden der Ingenieure und Minister der Luftwaffe zitiert, die sich noch mit einer festgefressenen Pleuelstange abplagten – denn es gab ja nicht genug Brennstoff. Sie sprachen davon, dass die Frauen nur zweimal in der Woche backen und kochen konnten – denn es gab ja nicht genug Brennstoff. Dass sie frieren mussten und Frostbeulen bekamen und in den Wald gingen, um Brennholz zu hacken – denn es gab ja nicht genug Brennstoff. Niemals jedoch hätten wir daran gedacht, dass es ihnen aufgrund dieses Mangels unmöglich geworden war, die materiellen Beweise für ihre Untaten zu beseitigen. Weiß Gott, sie haben sich mancherorts die größte Mühe gegeben, aber hier wurden sie daran gehindert, alle einzuäschern, die Franzosen, Belgier, Polen, Briten, Amerikaner und all jene aus den 22 Ländern, die ihre Unschuldigsten oder Zynischsten, ihre Talentiertesten, Aufsässigsten und Unglücklichsten zu diesem großen Leichenberg beisteuerten – wegen Brennstoffmangels.

Die von General Patton eingeladenen Touristen fielen reihenweise in Ohnmacht, auch wenn einige von ihnen ihre Arroganz beibehielten. Sogar nachdem dieser Ort zu 95 Prozent aufgeräumt worden ist, wird Soldaten, die durchaus daran gewöhnt sind, die Opfer einer Schlacht wochenlang in Gräben herumliegen zu sehen, noch elend schlecht bei dem, was sie hier sehen.

Die ehemaligen Häftlinge haben einige ihrer Folterknechte gefunden und erkannt. SS-Männer, die als Zivilisten verkleidet in der Umgebung des Lagers herumstreunten. Werden sie gefangen, geben sie ihnen eine ordentliche Tracht Prügel und bringen sie zurück ins Lagergefängnis. Sie sind in einem furchtbaren Zustand, aber immerhin am Leben und weitaus besser dran, als es jenen

ergangen war, die sie nun bewachen. Wenigstens bekommen sie ausreichend zu essen und waren vorher noch nie verprügelt worden. Einer dieser Herrenmenschen sieht wie Hitler aus. Jedesmal, wenn die Tür aufgeht, werfen sich einige ehemalige Insassen zu Boden und betteln um Gnade. Drei von ihnen waren seit Monaten als Spione im Lager. Ein SS-Mann hatte genug von allem und erhängte sich im Sitzen mit einem Strick, den er am Heizkörper befestigt hatte. Er wurde auf einer Bahre hinausgetragen, ausgezogen und auf einen Haufen knochiger Kadaver geworfen, auf dem er schockierend groß aussah – dieser wohlgenährte Bastard.

Im nah gelegenen Weimar ist der Marktplatz eine Ruine, obwohl das Rathaus und das Hotel Elephant unzerstört geblieben sind. Auch das Cranachhaus sieht noch vergleichsweise heil aus. Das Goethehaus ist ziemlich mitgenommen. Eine Bombe hat das Dach durchschlagen und die Vorderseite zerstört. Das Schillerhaus ist ebenfalls übel getroffen worden. Die Einrichtung hat man vermutlich irgendwo ausgelagert.


Die ersten Tage in Köln bestanden aus einer Reihe widerlicher und erschreckender Begegnungen. Schätzungsweise Hunderttausend Menschen leben in den Kellergewölben der Stadt, die nur noch ein Skelett ist. Man sah immer nur wenige Deutsche auf einmal, und die waren in ihrer Unterwürfigkeit, Scheinheiligkeit und Liebenswürdigkeit schlicht ekelerregend. Das unterirdische Netzwerk bewohnter Keller spie immer mehr Würmer aus. Bleich, gepflegt und von den aus der Normandie und Belgien gestohlenen Fettvorräten gut genährt. Ich fühlte mich von den schleimigen Essenseinladungen in die unterirdischen Behausungen der Deutschen irritiert und angewidert. Erstaunlich fand ich die Dreistigkeit der Deutschen, eine Mitfahrgelegenheit in einem Militärfahrzeug zu erbetteln oder Zigaretten, Kaugummis und Seife zu schnorren, ähnlich wie die Kinder in Frankreich, die wir ziemlich verwöhnt hatten.

Wie konnten sie es wagen! Wem haben wir in England wohl all die Jahre mit ganzem Körper und ganzer Seele getrotzt? Wer wohl, glauben sie, waren meine Freunde und Landsleute, wenn nicht die von den Luftangriffen heimgesuchten Bürger Londons und die misshandelten französischen Kriegsgefangenen? Wer, glauben sie wohl, waren mein Fleisch und Blut, wenn nicht die

amerikanischen Piloten und die Infanteriesoldaten? Was für eine Idiotie, was für eine Dummheit kann sie gegenüber meinen Empfindungen so blind sein lassen? Wie wollen sie sich von allem, was war, distanzieren? Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen

bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?

Ein Gestapo-Gefängnis wurde befreit, und gegen das gesamte deutsche Volk wird nun von den stummen Toten wie auch den beredten Lebenden Anklage wegen krimineller Geisteskrankheit erhoben. Politische Häftlinge,Leute, die verdächtigt wurden, mit den Alliierten zusammenzuarbeiten, und die Widerstandskämpfer des Maquis standen ganz oben auf der Todesliste. Sie hatten Entsetzliches zu berichten, taten es aber nicht. Tatsachen und Beweise deutscher Brutalität traten in Gesprächen über Charleroi, Orléans, Brüssel oder die niederländische Front zu Tage, ohne explizit ausgesprochen werden zu müssen: im Lachen eines gebildeten französischen Mädchens, dessen Stimme dadurch gleichwohl nicht heller klang; in den Tränen, die das Gesicht des belgischen Jungen hinunterrannen, der am selben Tag noch hätte exekutiert werden sollen.

Nicht viele hatten das Privileg, von ihrer Aburteilung zu wissen. Oft folterten die Wärter die Verdächtigen, die unerträgliche Schmerzen litten, gaben schließlich den Erschießungsbefehl und vergaßen dann, die Papiere zu unterschreiben. Am darauffolgenden Tag wurde dieselbe

abscheuliche Prozedur bei jedem Gefangenen, der noch zu einer Reaktion in der Lage war, wieder durchgespielt. Die Durchführung von Exekutionen hing von mysteriösen Launen und Vorgaben ab. Einige der überlebenden Häftlinge meinten, dass die meisten der Erschießungen nur dazu dienten, die strapazierten Nerven der Verhörten zu foltern.

Beeindruckend an jenem Gefängnis war, dass es sich mitten im Herzen Deutschlands befand. Diese Taten wurden inmitten des Vaterlands begangen und nicht von Leuten, die sich nicht zu benehmen wissen wie Touristen, die sich Zigarren mit einem 1000-Francs-Schein anzünden. Diese Taten waren auch keine zügellosen Ausfälle einer kleinen Gruppe Verdammter, die ihre Energie nicht unter Kontrolle hatten und denen man nicht auf die Schliche kommen konnte oder die mit Einsamkeit und Langeweile entschuldigt wurden. Es waren nicht die gefürchteten SS-Männer, die gottgleiche Elite, es waren Nazis der unteren Befehlsränge und Angestellte der Regierung, ganz normale Leute. All das geschah in einer deutschen Großstadt, deren Bewohnern die Aktivitäten ihrer Liebhaber, Gatten und Söhne bekannt gewesen sein mussten, zumindest mussten sie etwas geahnt haben und wollten nichts davon wissen.


Der lauernde Aachener Dom und die ausgebrannten Rathaustürme blicken verächtlich auf die ehemals eleganten Straßen herab. Stuckverzierte Fassaden säumen lange, protzige Boulevards, so als stünden sie noch in voller Pracht da, hätten noch ihre Eingeweide und wären als Häuser noch lebendig. Jedoch hat das Feuer die Verzierungen geschwärzt und aus den Treppenhäusern, Vorhängen, Klavieren und auch aus vielen der Bewohner schimmlige Schutthaufen in den Kellern gemacht.

Aachen war die erste größere Stadt, die von der Militärregierung verwaltet wurde. Viele Experimente hatte man unternommen und auch viele Fehler dabei begangen. Die intensive Bombardierung, die der Besetzung der Stadt vorausging, machte aus den alten Ruinen neue.

Sobald die Stadt eingenommen war, wurden die Einwohner erfasst und überprüft und in ihre Stadt – oder was davon noch übrig war – zurückgeschickt. Da trat ein zusätzliches Problem auf. Die Demarkationslinie zwischen den von der Neunten und der Ersten Armee kontrollierten Gebieten verlief quer durch die Stadt, und jede der beiden Armeen hatte ihre eigene Theorie über die geeigneten Sicherheitsmaßnahmen. Die eine Armee verordnete während der gefährlichen Phase des deutschen Gegenangriffs eine durchgängige Ausgangssperre. Auf der anderen Seite der Demarkationslinie konnten die Einwohner nach Belieben kommen und gehen. Arbeit, die von Zivilisten hätte ausgeführt werden sollen, blieb unerledigt, weil die Beschäftigten auf der anderen Seite der Grenze wohnten und nicht zu ihrer Arbeitsstelle kommen konnten. Die neue Zeitung schickte Polizeieskorten mit Passierscheinen zu den Druckern, die im Gebiet mit Ausgangssperre

wohnten, und die Militärregierung, die versuchte, die Wasser- und Elektrizitätsversorgung zu reorganisieren, konnte nur über die eine Hälfte der Stadt bestimmen. Frauen, die sich um die Nahrungsversorgung durchaus selbst hätten kümmern können, mussten vom Militär verpflegt werden, und überhaupt wurde der Alltag der Leute so tragikomisch, als würde ihre Haustür in der neutralen Schweiz aufgehen, aber ihr Außenklo sich im kriegführenden Deutschland befinden.

Aachen blieb noch für längere Zeit eine Frontstadt, und für die Einwohner war die Niederlage bitterer als für jede andere Stadt seit Paris. Obwohl die Stadt vor ihrer Einnahme von den Bomben in Trümmer gelegt wurde, ist sie so verwöhnt und arrogant geblieben wie eh und je. Die Menschen lebten in Kellern und Katakomben, aber sie trugen Pelzmäntel, Seidenstrümpfe und äußerst hässliche Hüte. Aachen war der Umschlagplatz für die Beute aus dem geplünderten Frankreich und daher ein Zentrum des Schwarzmarkts. Die »Stadt der Könige und Kirchen«, die »Kaiserstadt« war zu einem Ort trostloser Verwüstung degeneriert, dessen Bevölkerung ohne jeden Stolz war und eigennützig hortete, was sie nur kriegen konnte, in den Schlangen zur Essensausgabe betrog und mehr Geld hatte, als es Dinge zu kaufen gab.

Es war bitter, die erste größere Stadt zu sein, die fiel.

Es war bitter, Gefangener zu sein, während man noch an den Endsieg des Reiches glaubte. Und sie waren sehr darauf bedacht, nicht den Eindruck zu erwecken, sie seien erleichtert über den Frieden, für den sie nun bezahlen mussten. Das deutsche Radio sendete Hassreden gegen sie, klagte sie der Feigheit an und drohte allen, die uns unterstützten, mit Vergeltungsmaßnahmen. Die Menschen waren verängstigt und mürrisch und dachten, sie würden noch einmal ein Schlachtfeld abgeben, falls die Nazis zurückkämen.

In den Ruinen gab es Spinnweben und ein Bouquet.

Luftangriffe konnten anhand dieses Bouquets unterschieden und datiert werden wie alte Weine. Bestimmte Blumenarten mussten Jahre gebraucht haben, um in dem zerbröckelten Mauerwerk zu gedeihen. Andere Gebäude, bereits moosbewachsen, wurden von jüngeren Bombardierungen wieder aufgeschreckt, und das Artilleriefeuer der allerletzten Schlachten hinterließ frische Wunden im Narbengewebe des vergangenen Jahres.

Als ich auf einen Trümmerhaufen kletterte, um den Dom zu fotografieren, löste ich eine Schuttlawine aus, auf der ich dann zur Straße hinabrutschte. Kaum hatte sich die festgetretene Erde gelockert, stieg fauliger Grabesgestank empor. Halb vergrabenes, verwesendes Fleisch drehte sich in seinem Grab herum und klebte an meinen Händen, meinen Ellbogen und meinem Hintern.

Tausende nicht registrierte namenlose Leichen verpesteten die Luft. Der Gestank in den Ruinen nimmt im Sonnenlicht zu und schwindet in der kühlen Nacht.

Aachen ist nun schon seit einigen Monaten eingenommen und nicht mehr bombardiert worden. Es hat keine neuen Toten und Beerdigungen mehr gegeben. Dennoch riecht und sieht es aus wie eine Grabstätte. Die Zivilisten gehen ihrer alltäglichen Arbeit nach, schleppen Wasser, treiben Essen auf, stehen in den Schlangen vor den wenigen verstreuten Geschäften nach Kartoffeln und Gemüse an. Läden mit neuen Schaufenstern sind zwischen den zerstörten Gemäuern am Theaterplatz aus dem Boden gesprossen. Fette, rosige Babies dösen in luxuriösen Kinderwagen, und Frauen mit unscheinbaren Gesichtern und leeren Augen warten an Straßenkreuzungen, während Lastwagen den Schutt ihrer Häuser zu dem Staub zermahlen, der sich auf ihre Schuhe aus viel zu gutem Leder und ihre leeren Einkaufstaschen legt.


In Bonn säumen zerstörte Klavier- und Musikgeschäfte, die alle Beethoven heißen, einen ausgebombten Platz in der Nähe des Münsters, wo ein großes Denkmal des Komponisten über dem abgeriegelten Schutthaufen eines gigantischen Luftschutzbunkers thront, der einen Volltreffer abbekommen hatte. Einige Einwohner erzählten mir – und die Militärregierung hat es bestätigt –, dass die Luftschutzhelfer der Krauts einen halbherzigen Versuch unternommen hatten, mit einem Kran einige der schweren Betonbrocken zu heben, die auf den Bunker geschleudert worden waren, die Arbeit aber schließlich aufgaben. Die Schreie der darin eingeschlossenen und verletzten Menschen sollen drei Tage lang angedauert haben, doch niemand durfte sich ihnen nähern.

Mehrere hundert Leichen liegen nun dort verschüttet, aber das war allen gleichgültig. Mir ebenfalls, denn ich erinnerte mich an die Erzählung Digging for Mrs Miller von John Strachey, der damals Luftschutzhelfer war, und ich erinnerte mich an die Kraut-Bomben auf London, an die V1-Flugbomben und die V2-Raketen. Und ich erinnerte mich an das Mitgefühl und den Mut der Luftschutzhelfer und Rettungstruppen, die während der langen Angriffe ganze Nächte durcharbeiteten und im Lichtschein der Brände, der immer noch mehr Bomben anzog, Stein für Stein wegschafften. Man sagt, die Nazi-Behörden ignorierten das Ausmaß der zivilen Verluste mit genau der Beharrlichkeit, mit der sie auch ihre Folteropfer verfolgten.


Bad Godesberg, wo der Friedensvertrag zwischen Chamberlain und Hitler unterzeichnet wurde und wo wir den Frieden nun auf die harte Tour gewinnen, ist wie die Stadt Brühl sehr Nazi. Reiche pensionierte Villenbesitzer, konservative Pensionsbetreiber, erfolgreiche Angehörige der Mittelklasse und starrköpfige Wertpapierbesitzer hatten ein Interesse daran, eine Partei zu unterstützen, die ihnen Sicherheit versprach. Es zog die Art Leute an, die ihre Aktien festhalten und die Börsennachrichten auf ihre Profite hin aufmerksam verfolgen, ohne sich zu fragen, ob es sich bei der Mine um einen Schwindel handelt oder um die Dividende einheimischen Kapitals. In diesem Geist haben sie auf Hitler gesetzt und sind nunmehr schockiert, sich als »Witwen und Waisen« eines Börsenschwindels wiederzufinden. Und von uns erwarten sie Sympathie dafür, dass sie die Komplizen von Gaunern waren und mit Diebesgut gehandelt haben.

Auf dem berüchtigt schönen Hotelrasen von Bad Godesberg spielten GIs Baseball. Am anderen Flussufer standen kunstvolle Ruinen sehr alter Schlösser und dazu auch frische Ruinen, die von verwundeten Soldaten oder den Mannschaften der provisorischen Hauptquartiere bewohnt waren, die den Abriss weiterer Schlösser im Inneren von Krautland planten.


Ludwigshafen ist ein Schutthaufen. Aber ein sehenswerter. Es sieht nicht so aus wie so viele Städte mit den immer gleichen Ruinen, die man kaum voneinander unterscheiden kann. Bevor die Air Force sich die Stadt zum Ziel nahm, erstreckte sich eines der größten Chemiewerke der Welt über mehr als ein Fünftel ihrer Fläche. Nun war sie verwüstet, zerschlagen, dem Erdboden gleichgemacht. Nie wieder würde man die Salpetersäure in den wüst umhergeschleuderten Tankwagen ausliefern können, aus denen nun Dämpfe entweichen und Gift heraustropft. Hier wurden Unmengen Düngemittel und Kunststoffe hergestellt. Hier befanden sich auch die

Versuchslabore für die Produktion des Wasserstoffperoxidgemischs, das ihre Raketen antrieb.

Riesige Flächen und Tonnen von Stahl und Glas und merkwürdig geformte Dinge bildeten das Treibgut in einer Mondlandschaft. Riesige Kompressoren waren durch die Luft geschleudert worden, aber nicht verbeult. Ein zerborstener Farbbehälter hatte auf der Straße das Farbspektrum eines Feuerwerks verspritzt. Die Straßen hatte man nach Chemikalien benannt. Sehr hübsche

Chemikaliennamen. Sehr hübsche Arbeit der Air Force.

Die Verluste bei diesen Angriffen waren sehr gering, da das Fabrikgelände mit einem Alarmsystem ausgestattet war. In einem Kontrollraum gab es eine Karte mit beweglichen Flugzeugen sowie einen Plan der Fabrik, auf dem markiert wurde, wo etwas vorgefallen war. So, wie die Fabrikgebäude aussahen, bezweifle ich, dass sie ausreichend Schreibstifte hatten, um alles, was vorgegangen sein muss, zu verzeichnen. Die Arbeiter eilten bei Alarm in gewaltige Bunker, in denen man sie ohnehin untergebracht hatte. Es sind hohe quadratische Türme mit falschen Fenstern und falschen Dachziegeln, an deren Bausicherheit allerdings garantiert nichts falsch ist. Sie sind für jeweils zwölf Familien ausgelegt. Es mag Belüftungs- anlagen gegeben haben. Aber ich weiß es nicht, denn es war nichts in Betrieb. Nur der Gestank war furchtbar. Hunderte nun befreiter Sklavenarbeiter leben noch darin. Sie hatten vermutlich nie ein anderes Dach über dem Kopf gehabt, seit sie hierher verschleppt worden waren. Sie durchstöbern die ausgestorbene Fabrik und hoffen vage, irgendwann in ihre Heimatländer zurückgeschickt zu werden. Sie wurden so schlecht ernährt, dass sie selbst bei dem Gedanken an die Heimkehr lethargisch blieben.

Aus einer Vielzahl von Gründen war die Rehabilitation und Repatriierung der Tausenden von Verschleppten und Gefangenen ein chaotischer Misserfolg. Der Krieg ging zu schnell voran. Wir waren mit weit mehr von ihnen konfrontiert, als wir vorhersehen konnten, um Vorbereitungen zu treffen, und Armeen interessiert nun einmal ausschließlich die Kriegsführung und nicht „ein Haufen Fremder“. In den Gefangenenlagern herrscht ein Mangel an Kommunikation, und so fliegen jeden Tag leere Flugzeuge zurück nach Frankreich, die hunderte Gefangene zurückführen könnten, gäbe es nur ein System, die Abflugzeiten und den verfügbaren Platz zu erfassen.


Aus: Lee Miller - Krieg: Deutschland. Der Krieg ist gewonnen, S. 202 ff, © Leseprobe Edition Tiamat

02XI2014










 



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