LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com


 

Lee Miller, Mrs. und Lady Penrose

von Katja Schickel



 

Lee Miller (Elizabeth Miller), *1907 in Poughkeepsie, New York, kommt schon früh durch ihren Vater Theodore zur Fotografie und ist seit ihren Kindertagen, vor allem aber als Teenager auch sein bevorzugtes (Akt-)Modell. Man kann sein Verhalten zumindest als ambivalent beschreiben: Nach der Vergewaltigung seiner Tochter mit sieben Jahren durch einen – wie es heißt – Freund der Familie, bei der das Kind mit einer Gonorrhoe (Tripper) infiziert wird und, da es noch kein Penicillin gibt, noch jahrelang medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen muss, wird sie liebevoll gepflegt, auch zu einem Psychiater geschickt, der ihr helfen soll, über das Geschehene hinwegzukommen, andererseits beutet der Vater als Fotograf ihren Körper bis in ihr Erwachsenenleben hinein aus, indem er sie immer wieder, meist nackt, fotografiert. Mit achtzehn Jahren geht sie zum ersten Mal nach Paris, um Kunst zu studieren und die dortige Kunstszene kennenzulernen. 1927, gerade zurück in New York, entdeckt sie der Zeitungsverleger Condé Montrose Nast, als er sie gerade noch rechtzeitig vor einem herannahenden Fahrzeug von der Straße wegzerren kann.

 

Der Vierundfünzigjährige erliegt sofort dem Charme und der Ausstrahlung der schönen Zwanzigjährigen, sieht das – durchaus auch ökonomische – Potential, lässt umgehend Aufnahmen von ihr machen und lanciert eines ihrer ersten Porträts auf die Titelseite der Vogue, womit eine der außergewöhnlichsten Karrieren beginnt – ein Märchen aus Glamour, Geld und Begehren, wie es heutige Castingshows jungen Mädchen gerne versprechen. Lee Miller ist das It-Girl schlechthin: gebildet, schön, mondän, sicher im Auftreten, mit ebenmäßigem Gesicht und melancholischem Blick, einem fast unschuldig anmutendem Sexappeal, der einerseits inszeniert wird, den sie aber auch selbst mitbringt und einzusetzen versteht. Die zielstrebige Lee Miller wird nicht nur das damals erfolgreichste Fotomodell, eine Mode-Ikone des New Yorker Jazz Age , von den besten Fotografen ihrer Zeit abgelichtet, beispielsweise Edward Steichen, George Hoyningen-Huene und Arnold Genthe, in Paris scharen sich auch die Surrealisten um sie, die sie als Objekt ihrer Begierde – ganz Alpha-Männchen – zu einer der fünf [?] schönsten Frauen der Welt küren, Pablo Picasso malt sie mehrmals und wird ein Lebensfreund, Jean Cocteau dreht mit ihr in der weiblichen Hauptrolle den Film  Le sang d'un poète. Ihre stürmische Liaison mit Man Ray, dem sie sich als seine kommende Schülerin und Assistentin förmlich aufdrängt, weil sie unbedingt bei ihm Fotografie studieren will, hat weitreichende Folgen: einige der ästhetisch interessantesten experimentellen Bilder entstehen, sie erarbeiten gemeinsame Projekte. 


             

© Vogue, E. Steichen                © Vogue, E. Steichen                     © Hoyningen-Huene                       © Man Ray

 

Lee Miller will aber nicht nur fotografiert werden, passives Modell sein, Assistentin oder Muse für andere, sondern Künstlerin und selber fotografieren. Sie möchte vor und hinter der Kamera stehen. Sie erlernt von ihrem Liebhaber Techniken, erweitert sie und entdeckt die Solarisation für ihre Fotoarbeiten (die nochmalige kurze Belichtung des bereits belichteten Fotomaterials, durch die eine Art Überbelichtung entsteht), für die dann allerdings Man Ray berühmt wird – und macht sich, dem 'Meister' längst ebenbürtig, 1929 mit einem eigenen Foto-Studio für Portraits und Modefotografie selbständig, nachdem sie mehrere Heiratsanträge Man Rays abgelehnt hat. Sie möchte sich privat nicht zu sehr an ihn und seine besitzergreifende Eifersucht binden. In Paris nennt man sie schon Madame Man Ray, sie besteht jedoch auf ihrem Namen – und Anhängsel eines Mannes möchte sie schon gar nicht sein. Sie will hier und jetzt ihre Freiheit ausleben und keine engen Beziehungen, findet, dass freie Liebe auch Frauen zustehe, hält sich daran und stößt damit viele vor den Kopf.

 

           

Charly Chaplin, 1932

 

 Mary Taylor

 

Lee Miller in: Jean Cocteau...

  Le sange d´un  poète

 

Der surrealistischen Bildgestaltung, den formalen Experimenten bleibt sie auch im 1932 eröffneten Foto-Studio treu, das sie gemeinsam mit ihrem Bruder Erik in New York betreibt; sie lichtet die Reichen und Schönen der Stadt mit diesem besonderen „Touch“ ab (u.a. Charly Chaplin) und ist damit zwei Jahre lang nicht nur als Gesellschafts-, sondern auch als Werbefotografin äußerst erfolgreich, bis sie den wohlhabenden ägyptischen Geschäftsmann Aziz Eloui Bey kennenlernt, ihn heiratet und mit ihm nach Kairo zieht. Während ausgedehnter Exkursionen fotografiert sie die Wüste, Oasen und Dörfer. Auch hier ist die Bildgebung außergewöhnlich, das Licht- und Schattenspiel markiert die scharfen Konturen von Architektur und Landschaft. Außergewöhnlich sind auch die Anstrengungen, die sie unternimmt, um an ein Bild zu gelangen. So erklimmt sie beispielsweise die Cheops-Pyramide, um den Schatten zu fotografieren, den diese wirft. Eine Zeitlang genießt sie das Luxusleben, aber sie fühlt sich in Ägypten als Frau bald zu sehr kontrolliert und entflieht schließlich der Enge und Langeweile dort.

 

   

 Lee Miller mit Aziz Eloui Bey 

  ... mit Roland Penrose

  

Mit Roland Penrose, einem britischen Maler, Kunstsammler und Freund der Surrealisten-Szene in Paris, den sie 1937 während eines Kurzbesuchs in Paris kennenlernt, bereist sie Griechenland und Rumänien. 1939, kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs, trennt sie sich endgültig von ihrem Mann, um mit Penrose, der acht Jahre später ihr zweiter Ehemann werden wird, in London zu leben. Die US-Botschaft schickt zunächst jedoch alle amerikanischen Staatsangehörigen zurück in die USA, Miller erreicht bei ihrer alten Arbeitgeberin, der Modezeitschrift Vogue, dass sie als freie Kriegsfotografin zurück nach Europa gehen und von dort berichten darf.



 

Die Kriegsberichterstatterin (s. hier: Lee Miller - Krieg

Ab 1944 ist sie offizielle Kriegsberichterstatterin – embedded, d.h. von der US-Army akkreditiert – und arbeitet oft mit dem Life-Reporter David E. Scherman zusammen. Sie begleitet die US-Armee auf ihrem Einsatz im westlichen Europa, berichtet über den Vormarsch der Truppen und die Eroberung Deutschlands, unter oft lebensgefährlichen Umständen. Sie ist keine Pazifistin, sondern erklärte Gegnerin des NS-Regimes. Ausgerechnet eine US-Amerikanerin, ehemaliges Supermodel, wie man sie heute nennen würde, ist im 2. Weltkrieg als Reporterin quer durch Europa unterwegs, schreibt ihre Berichte wie sachlich-nüchterne Protokolle über das Kriegsgeschehen und die Gräuel, die sie erlebt, wobei man meint, heute noch den Zorn zu spüren, mit dem sie manchmal in die Tasten haut – und seltsamerweise (oder gerade nicht) sind ihre präzisen, lakonischen Texte, weil sie auch in ihnen mit Bildsequenzen arbeiten, zugleich poetisch und im Sprachduktus schroff, sodass es ihnen bis heute gelingt, in das Glatte der deutschen Erinnerungsfloskeln zu dringen, Sprünge und Risse zu hinterlassen. Alle diese Texte sind ein gutes Gegenmittel gegen die ritualisierte Sprache einer hohl gewordenen, oft rührseligen Erinnerung an eine deutsche Geschichte, die so nie war, die niemand – damals wie heute – so recht haben will und deshalb wegschiebt, verdrängt oder unbedingt vergessen will (Motto: Genug ist genug. Irgendwann muss doch endlich mal Schluss sein, O-Ton seit 1945), gegen eine Haltung also, die sich gerne selbstreferentiell und voller Selbstmitleid dem eigenen Schicksal widmet und, wenn es um „Opfer“ geht, reflexartig Hier! schreit und in ein nicht enden wollendes Lamento ausbricht, zu dem schwer verdauliche Zutaten gehören: Dreck und Schlamm im Kampf gegen den Russen, vor Stalingrad, Bombennächte, Flucht und Vertreibung, u.a. dem Polen, dem Tschechen geschuldet, denen man ungeniert noch bis in die 1970er Jahre öffentlich bescheinigen darf, keine Kultur zu haben. Dafür werden die eigenen Opfer gerne gegengerechnet und hervorgehoben, weil man schließlich ganz ungewollt in den Krieg geraten ist, von der Verfolgung und Ermordung der Juden, der Andersdenkenden und anders Lebenden nie wusste, wie hätte man denn auch wissen können?

 

Niemand erhört euch, schon darum ist es weise eingerichtet, dass man mit euch nicht sprechen darf. So wie die Besitzer in ihren Häusern sich von euch absondern, so hat man euch abgesondert und es wahr gemacht, dass ihr nicht mehr in Häusern sein dürft nach eurem eigenen Wunsch und dass ihr nicht mehr wohnen dürft. Abfall seid ihr, den man nicht zwischen Stühlen und Schränken verwahrt. Abfall vermischt sich mit Abfall und Sünde mit Sünde, alles ist ein ekelhafter Brei, nur gut für Gewürm, das seine Verwesung befördert. Man hat euch den Abschied gegeben und die Hände über euch gerungen, doch nicht gewinkt, nein, in Abwehr hat man euch die Hände entgegengehalten. Man hat sich die Seelen von euch in Schuldwasser gewaschen, als man euch auslud, und die Türen vor euch verschlossen, dass sie bellend ins Schloss schnappten, denn es wurde befohlen, nicht nach euch sich umzuschauen; empfindsame Mütter gingen noch weiter als jedes Gebot, sie schlossen sorgsam die Fenster und zogen die Vorhänge vor, damit euch die Kindlein nich sähen, wenn ihr vorüberzogt. Die Kindlein könnten zu jäh erschrecken, wenn euer Anblick sie unvorbereitet verletzte. (HG Adler, Eine Reise, S. 91) s. hier: HG Adler - Romane

  

Weil man – ganz mit sich identisch und im Reinen – doch nicht schuld war, weil doch immer alle unpolitisch waren, verzeiht man den ehemaligen Kriegsgegnern und Opfern und drängt ihnen den deutschen Versöhnungswillen förmlich auf. Der Tenor bleibt gleich: Auch die Deutschen haben Schreckliches erlebt, natürlich haben wir schuld, aber auch ihr habt Dreck am Stecken. Beide Seiten haben Mist gebaut, diesen Satz einer Enkelin von Vertriebenen, kann man immer noch in einem jüngst erschienenen Buch lesen. Diese Paradoxie ergibt sich aus dem zum Geflügelten Wort avancierten Buchtitel: Opa war kein Nazi! - ein griffig zusammengefasstes 'Wissen', das schließlich in fast jeder deutschen Familie von Generation zu Generation weitergegeben und tradiert wird und ihr als Wesenskern bis auf den heutigen Tag innewohnt. Bis heute gilt die bestechende 'Unlogik': Die Täter waren immer die Anderen. Lee Millers Texte räumen radikal mit diesem historischen Missverständnis auf. Manche Texte funkeln vor Hohn und Spott, weil sich das Böse auch als lächerliche Farce zeigen kann und manchmal nur Sarkasmus vor Sprachlosigkeit schützt. Die Frau und ihr Blick sind eine Zumutung: wie Lee Miller unverschämt direkt daherkommt, sich eine Amerikanerin zwischen die Deutschen begibt, hinschaut und ungefragt fotografiert...


   


       

Die Kriegsfotografin Lee Miller

 

Häftlinge im KZ Buchenwald 1945

 

Tote und GI´s in Buchenwald



 


 

Leichen in Buchenwald 


Abbilder des Entsetzens

Lee Millers Fotos können noch heute erschüttern, gerade weil sie nicht inszeniert sind, weil sie nichts retuschieren, nichts hervorheben und überhöhen. Ihr liegt an Aufklärung, nicht an Verklärung. Wie Momentaufnahmen erscheinen sie, hart in ihrer realistischen Sicht auf das Leben und Sterben. Sie zeigt die Zerstörung von Häusern, Natur und Menschen, die Erbarmungslosigkeit eines von Deutschen entfachten Krieges, der sich buchstäblich in die europäischen Städte eingebrannt hat. Schonungslos zeigt sie die Wahrheit der Konzentrationslager, d.h. sie schont zuallererst sich selber nicht, aber will die Täter, die Gaffer, die Leute, die nie etwas mitbekommen haben wollen und sich zunächst einigermaßen umständlich herausreden, bis aus ihren ersten Ausflüchten routinierte Lebenslügen werden, nicht verschonen. Sie durchschaut die Taktik und ist empört.

Sie geht in deutsche Gefängnisse und Folterkammern, fotografiert KZ- und Gefängnis-Wärter, SS-Offiziere, lebende und tote. Ihre vermeintliche Distanziertheit entpuppt sich als möglichst realitätsnahe Wiedergabe eines Augenblicks des Gewahrwerdens von allumfassendem Schrecken und Entsetzen. Berührtheit angesichts der Gräuel und des Terrors, von dem sie erfährt, den sie selber erlebt, kann sie sich nicht leisten. Sie ist objektiv in dem, was sie wiedergibt. Aber sie ist nicht neutral. Ihr Blick auf Deutschland ist knallhart objektiv und unversöhnlich, weil er zu viel Schreckliches gesehen hat, das verleiht den Bildern ihre Rigorosität, der man sich nicht so schnell entziehen kann. Text für Text, Bild für Bild seziert sie ihren Gegenstand: den Krieg, Deutschland. Das sind ihre Forschungsobjekte, denen sie mit Kamera und Reiseschreibmaschine zu Leibe rückt.

 

           

KZ-Wärter bitten um Gnade

 

Selbstmord eines SS-Offiziers

 

Die Weimarer Bevölkerung in Buchenwald

  Leipziger Bürgermeistertochter

 

Sie diagnostiziert dem Land und seinen Bewohnern „kriminelle Geisteskrankheit“ und eine unfassbare „Liebe zum Tod“, ist schockiert vom „Opportunismus“ der Deutschen, die sich, weil sie den Krieg verloren haben, jetzt schnell und übereifrig auf die Seite der Sieger schlagen wollen. Sie hasst den Kotau, das sich scheinheilige Andienen und Anpassen an die neuen Gegebenheiten, den willfährigen „Gehorsam“. Sie sieht „Unterwürfigkeit, Heuchelei und Anbiederung“: „Ich war irritiert und irgendwie auch beleidigt durch schleimige Einladungen zum Essen in Keller-Wohnungen, andererseits amüsierte ich mich über die Kühnheit der Deutschen, die darum bitten, in einem Militärwagen mitfahren zu dürfen.“ Mitleid mit den Deutschen hat sie nicht: „Ein Gefängnis der Gestapo wurde befreit, und die stummen Toten wie die sprechenden Lebenden richten den Vorwurf, kriminell und geisteskrank zu sein, nunmehr gegen das ganze deutsche Volk.“

 

   


       

in Köln 1945

 

Köln 1945

 

In Ruinen

 

Verletzter mit Brandwunden

 

Sie fotografiert die historische Realität in Deutschland, Trümmerlandschaften, zerstörte Straßen und Plätze, überraschend intakte Ecken, die Leere und Stille in den Städten, ihr beredtes Schweigen, das tägliche Leben, wie es eben doch weitergeht, aus den Bunkern kriecht, im Krieg und nach dem Krieg, eigenartig schnell Normalität wird, gespenstisch und real zugleich, in den Kulissen einer grotesk entstellten Welt. Zwischen den Ruinen werden allerlei Geschäfte gemacht, man sieht erstaunlich viele gut gekleidete Menschen, die offenbar auch jetzt Wert auf ihr Äußeres legen, manche scheinen recht wohlhabend zu sein, bemerkenswert viele Fahrradfahrer, Deutsche in Gesprächen mit GI´s, kleine Menschengruppen, die verloren in der Steinwüste herumstehen und Bekanntmachungen lauschen, und dann – als Essenz und/oder Menetekel – zeigt Lee Miller die Wunde, direkt und ganz nah: den jungen Flakhelfer von der Heimatfront, der nicht unschuldig ist, der vermutlich den Krieg unbedingt noch gewinnen wollte, aber nur verlängern half, auf dem Boden, ohne Hände, und Schere und Skalpell an den blutigen Stümpfen zeugen vom vergeblichen Versuch, ihn, den Kindersoldaten, zu retten. Scheinbar mitleidslos schreibt sie auf die Rückseite des Fotos, dass dies ein guter Deutscher sei: „Er ist tot.“ Im Köln des März 1945 hat sie recht mit diesem Epitaph. Der Krieg wird noch bis zum 8. Mai dauern.



Believe it!

„Ich dokumentiere und mache keine Kunst“, hat sie über ihre Arbeit gesagt. Sie ist keine Erzählerin. Sie will zeigen, was geschehen ist, was gerade geschieht, wohin Verrohung führt. Sie fotografiert und schreibt über den D-Day in der Normandie, die Belagerung von St. Malo, den ersten Einsatz von Napalm-Bomben (und sehr zeitgenössische Bilder drängen sich auf, von Afghanistan über Irak und Syrien bis in die Ukraine), die begeisterten Befreiungsfeiern in Paris, Kämpfe in Luxemburg und dem Elsass, über das Treffen der Roten Armee und der amerikanischen Streitkräfte in Torgau, schließlich über die Befreiung der KZ´s Dachau und Buchenwald. Sie fotografiert Hitlers und Eva Brauns Domizile in München und Berchtesgaden, die Situation der deutschen Städte Aachen, Köln und Ludwigshafen, ist entgeistert über die Teilnahmslosigkeit und fehlende Empathie einer verstockten Bevölkerung, die stock und steif behauptet, nichts gewusst zu haben und Hitler lediglich verübelt, nicht gesiegt zu haben. Ihre Nachkriegsreise führt sie noch weiter nach Wien und Ungarn, wo sie die Exekution des Premiers Laszlo Bardossy miterlebt.

Ein Bild aus jener Zeit wird sofort weltberühmt und gehört seither zur Ikonographie des 2. Weltkriegs und seines Endes. Ihr damaliger Kollege David Scherman hat es am 30. April 1945 in München geschossen. Am selben Tag begeht Hitler im Berliner Führerbunker Selbstmord. In subtiler und mehrdeutiger Pose sitzt Lee Miller in Hitlers Badewanne und wäscht sich Schulter und Nacken. Ihr Blick ist vage und ohne Ziel. Sie hat sich den Dreck von Dachau wegwaschen müssen, wo sie am Morgen gewesen sei, wird sie das Foto einmal lapidar kommentieren. Entsetzt hat sie in Buchenwald beobachtet, wie Leichen aus den Blöcken geworfen werden, damit „ein Wagen, der jeden Tag die Runde macht, sie einsammeln kann wie Müll.“

Als sie ihren ersten Bericht über das KZ Buchenwald in die Vogue-Redaktion nach New York schickt, sendet sie noch ein Kabel: Believe it! I implore you to believe this is true - Ich flehe Sie an zu glauben, dass dies wahr ist.


© David Schermer, in München 1945


Der Krieg ist aus – ist er das?

Lee Millers Reportagen zeigen den Horror des Krieges, die Opfer des deutschen Vernichtungswillen in so vielen verschiedenen Facetten, dass sie sich wundert, als tatsächlich der Frieden proklamiert wird und sich sofort weitergehende Fragen stellt: Wie sieht dieser Frieden aus, wie wird die Ordnung 'danach' beschaffen sein und auf wessen Kosten geschieht das alles; darüber möchte sie gerne weiter recherchieren und schreiben.

Erstaunlich genug, dass alle ihre Reportagen in Vogue veröffentlicht werden, als sie aber weiter über Nachkriegsdeutschland und das zerstörte Europa berichten möchte, erhält sie eine Absage. Damit will jetzt offenkundig niemand mehr zu tun haben. Analysen und Ausblicke sind nicht erwünscht. Man will zur Tagesordnung übergehen, d.h. man macht einfach weiter. Nach zwei Jahren, in denen sie für das Blatt noch einmal Mode und Prominenz fotografiert, quittiert sie sozusagen den Dienst, heiratet und bekommt mit Vierzig den Sohn Antony, dem wir unser Wissen über Lee Miller und ihr Werk verdanken, denn jahrzehntelang gibt es zwar Bilder von ihr, aber kaum Hintergrundinformationen über sie. Sie wird – wenn überhaupt – oft nur als das schöne Modell der Vogue und die Muse der Surrealisten, als Geliebte Man Rays wahrgenommen. Zunächst widmet sie sich den Biographien, die ihr Ehemann Roland Penrose über Miró, Man Ray, Picasso und Tàpies schreibt, für die sie neben kurzen Textpassagen vor allem Bildmaterial aus ihrem Fundus liefert, wird – nun als Ehefrau und Mutter – quasi seine Assistentin. Sie lebt, so steht es geschrieben, zurückgezogen in einem Cottage in East-Essex, ihr Mann macht sich derweil einen Namen und wird immer bekannter, schließlich sogar geadelt. Sie ist das, was sie nie sein wollte, das Anhängsel, die Frau an seiner Seite, wird zwar eine richtige britische „Lady“, die jedoch schwer depressiv ist und in Alkoholabhängigkeit versinkt, aus der sie nie wieder herausfindet.


Die kochende Lady

Sie ist Mrs. Penrose, die hie und da noch bei Partys und Familienfeiern herum knipst, bis sie es irgendwann in den 1950er Jahren ganz sein lässt. Am Ende kreiert und kredenzt sie als begnadete und im County bekannte Hobby-Köchin blaue Nudeln, grünen Reis und andere in vielen Farben leuchtende Speisen und arrangiert sie mit skurriler Akribie. Die Vorbereitungen für ihre Tafeln dauern manchmal Tage. Sie ist die etwas spleenige englische Hausfrau, die ein bisschen frischen kontinentalen Wind ins englische Landhausessen bringt, das dies vermutlich auch gut verträgt, darf sich als exzellente Gastgeberin so kleine Extravaganzen auch erlauben und tritt sogar in einer Show auf, bei der sie einen Preis gewinnt. Das Sagen hat ansonsten, wie überall ringsherum, natürlich der Hausherr. Tatkraft und Durchsetzungsvermögen werden von ihm erwartet. Und drinnen waltet die süchtige Hausfrau. Diese Ordnung steht in den 1950er, 1960er Jahren nicht einmal ansatzweise zur Disposition. Ihre kulinarischen Ausflüge in den Surrealismus sind die kleinen ästhetischen Fluchten, die ihr – abseits der großen Welt – geblieben sind, Spielereien mit offenbar undeutlicher werdenden Erinnerungen – oder solchen, die sie sich nicht mehr gestattet – an ein anderes Leben in einer anderen Zeit, einer anderen Welt. In der hält sich nach wie vor ihr Mann auf, der surrealistische Künstler, Kunsthistoriker und Autor Lord Roland Penrose. Er wird Mitbegründer des Institute of Contemporary Arts (ICA) in London, ist Galerist und Kurator. Mütterlicherseits selbst adligen Ursprungs (aus einer Bankiersfamilie) wird er 1960 nach einer erfolgreichen Picasso-Ausstellung in der Tate Gallery zum Commander of the British Empire erhoben, 1966 für seine Verdienste zur Förderung der Gegenwartskunst zum Ritter geschlagen und erhält 1980 noch die Ehrendoktorwürde für Literatur der University of Sussex. Da ist Lee Miller schon drei Jahre lang tot, in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr existent und ihr Werk im großen und ganzen vergessen bzw. unbekannt. 

 

       

Lee Miller mit Glas

 

.... mit Sohn Antony, 1947

 

Ehepaar Penrose, Anfang 1960er

 

Gift und Gegengift

Alle, durchweg sehr wohlwollenden, deutschsprachigen Kommentare zu ihrem Werk rekurrieren auf den Lebensabschnitt Lee Millers nach dem 2. Weltkrieg mit dem Hinweis auf die durch ihre Vergewaltigung in der Kindheit und ihre späteren Kriegserlebnisse entstandenen Traumata, verschwenden aber keinen Gedanken darauf, wie es möglich war, dass diese bereits in jungen Jahren so umwerfende, begabte und aktive Frau ihre Vergangenheit dermaßen hat ausschalten und abspalten können, von der so gar nichts übrigbleibt als frühe Bilder des Fotomodells, der Modefotografin und ein paar Episoden mit den Surrealisten in Paris, was offenbar auch ihre Umgebung vollkommen zufriedenstellt.

Die Behauptung, mit der man Lee Miller sozusagen eingemeinden, sie nicht zum Einzelfall stempeln möchte, es gäbe schließlich viele Beispiele von Kriegsberichterstattern, die mit Kriegsneurosen auf ihre Erlebnisse reagierten, verallgemeinert unzulässig und verkürzt zugleich. Offenbar findet man es nach wie vor normal, dass eine Frau ihr erfolgreiches Künstlerinnendasein aufgibt und sang- und klanglos – und vollständig zufrieden und glücklich – im Familienleben verschwindet. Man versteht nicht, dass daraus Probleme und Spannungen entstehen können, weil sich die aus dieser Konstellation ergebenden Widersprüche nicht einfach auflösen lassen. Schier unmöglich erscheint es, wenn man mit dem Problem alleine gelassen wird oder es als solches gar nicht auftauchen darf. Lord Penrose jedenfalls möchte zur selben Zeit lieber seinen künstlerischen Neigungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgehen als den Sohn hüten. Praktischerweise wird das auch nicht von ihm verlangt. Sie hat ihre Foto-Laufbahn beendet, freiwillig beerdigt, schreibt ihr Sohn tatsächlich, und widmet sich nun mit gleicher Intensität dem Kochen wie vorher dem Fotografieren, als wäre das nicht eine doch leicht zu durchschauende Ersatzhandlung. Die gelegentlichen Besuche ihrer berühmten Freunde (das oft persiflierte: Wer kann schon von sich sagen, dass Picasso zum Tee kommt?) haben vermutlich das Gefühl ihrer Einsamkeit eher verstärkt als abgemildert, denn die Gespräche handeln zunehmend von den gemeinsamen Plänen von ihnen und Roland Penrose, sie hat nichts Vergleichbares anzubieten und ist nur für die – zugegeben oft unkonventionelle – Bewirtung und lockere, angeheiterte Konversation zuständig.

 

In den englischsprachigen Publikationen, auch in der Biografie ihres Sohnes Antony Penrose, sind die Erklärungen vielschichtiger, weil sie wenigstens ansatzweise versuchen, die verschiedenen Aspekte ihres Lebens zu verbinden: die Gewalterfahrung in der Kindheit und ihre Retraumatisierung im 2. Weltkrieg, d.h. Brutalität und Verrohung am eigenen Leib zu erleben bzw. das Grauen mit eigenen Augen zu sehen, was sich als Körpererfahrung eingeschrieben hat; ihre Schönheit und die damit einhergehende Erfahrung eines vieldeutigen Begehrens, das ihr entgegengebracht wird, das sie auch trägt und sie deshalb – zumindest teilweise – für ihre eigenen Belange nutzen kann; ihr außergewöhnliches Können, das sie stärker als ihre männlichen Kollegen beweisen und verteidigen muss; die Erfahrung einer späten Geburt, die sie aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse zwingt zu heiraten und damit in die Rolle der Ehefrau und Mutter drängt, die sie zunächst vielleicht sogar gerne ausfüllt, zumindest ausfüllen will, die sie aber auch unbeweglich macht und ihr aufgrund der Folgen der Schwangerschaft ein unglückliches Körpergefühl beschert. Sie hat sich in ihrem Körper stets wohlgefühlt, jetzt ist das Konzept ihrer Körperlichkeit fundamental gestört. Ihre erste „Stimmungskrise“ ist bezeichnenderweise eine postnatale (oder postpartale) Depression, sie wird der Mutterrolle nicht gerecht, kommt aus den Gefühlsschwankungen nicht heraus und betäubt die Gefühle von Fremdheit und Unglücklich-Sein, Selbstzweifel und Aggression mit Alkohol. Sie erfüllt die Erwartungen nicht, obwohl sie es versucht. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie anfänglich doch noch den einen oder anderen Auftrag von Vogue oder Life annimmt, anstatt sich ausschließlich um ihren Sohn zu kümmern, wie man es von ihr verlangt. Gegen die Schuldgefühle, die in sie sickern wie Gift, hilft verlässlich eine andere Droge. Nur spekulieren lässt sich darüber, ob ihr wirklich gut tut und sie ohne Zögern akzeptiert, dass die erste Frau und Vertraute von Roland Penrose, Valentine Boué, über lange Zeiträume Mitbewohnerin im Landhaus wird. Spekulation bleibt auch, ob es über die neue Situation eine befriedigende Kommunikation gegeben hat. Sie scheint nicht möglich zu sein, ist vielleicht sogar für Lee Miller selbst undenkbar. Sie darf nicht hadern. Sie darf sich diese Dissonanzen in ihrem Leben nicht einmal eingestehen. Ihre Umwelt meint, und das ist dokumentiert: Sie hat doch alles. Was sie nicht (mehr) hat, ist ihre Autonomie, die freie Entscheidungsmöglichkeit. Es hat sie kalt erwischt: Mit dem allmählichen Verlust ihrer körperlichen Attraktivität und abgeschnitten von möglichen Arbeitsmöglichkeiten, steht sie eigentlich mit nichts da, sollen nun Kind, Haus und Garten ihr Reich sein, während ihr Mann jetzt erst zu wahrer Hochform aufläuft. Er macht sich einen Namen, während sie ihren verliert. Sie muss, um überleben zu können, notgedrungen versuchen, ihre aktive, erfolgreiche Vergangenheit zu verleugnen. Ihre Depressionen und die Sucht sprechen dafür, dass ihr das nie vollständig gelingt, aber auch, dass sie stets einen Status Quo zu etablieren und aufrechtzuerhalten sucht. Das Problem wird vertuscht und alle tragen dazu bei.


Die Hölle Alkohol

Allenthalben kann man lesen, sie sei eine schwere Trinkerin gewesen mit manchmal wahren Alkoholexzessen, eine ältere Frau, die unter Zuhilfenahme von zu viel Alkohol ihrer Jugend und ihren ruhmreichen Zeiten sinnlos nachgetrauert habe. Stets ist dem Befund ein despektierlicher, höhnisch anmutender Ton unterlegt, der ausdrückt, sie hätte sich einfach bescheiden sollen. Man nimmt ihre Krankheit, die Abhängigkeit, nicht ernst. Der tatsächlich von ihr empfundene Verlust (von Perspektiven, von Wertschätzung, von Gefühlen, von ihr wichtigem eigenen Tun, legitimen Wünschen und Sehnsüchten usw.) lässt sich vielleicht sogar tatsächlich an ihrem Alkoholpegel ablesen. Generell sind solche Sätze aber eher geeignet, Alkoholismus zu mystifizieren als über Sucht als ein reales Geschehen zu sprechen, als eine Art Selbsthilfeversuch zwischen Selbst-Bestimmung und Selbst-Zerstörung, ein Austarieren und Ausagieren eines äußerst schwankenden Selbstwertgefühls. Vermutlich braucht die stets mehr oder weniger betrunkene Lady viel Alkohol, um ihr Gedächtnis peu á peu auszulöschen, mindestens zu sedieren, das allerdings mit ihm gleichzeitig immer wieder neue Nahrung erhält und befeuert wird. Wer säuft, 'vergisst' ja nicht, sondern versucht nur, die eigenen Erfahrungen, die Retrospektive der großen und kleinen Geschichten des eigenen Lebens, in denen er oder sie einmal eine Rolle gespielt hat, und die Erinnerungen daran so tief wie möglich in sich zu vergraben, endlich zum Verstummen, zum Verschwinden zu bringen – mindestens so lange man keine Chance hat, aus dem Dilemma herauszukommen. Und sie lassen sich gleichzeitig immer wieder ausgraben und wiederbeleben, als Möglichkeiten vitalisieren, sobald ein künstlich erzeugtes Hochgefühl für kurze Zeit über die Dämonen zu siegen scheint. Der übermäßige Gebrauch des Suchtmittels Alkohol (vermutlich kommen noch Tabletten wegen ihrer diagnostizierten Depression hinzu) weist auf dessen Ersatzcharakter. Die Frage ist also: Was vermisst die zu Lady Penrose mutierte Lee Miller? Zu welchen Gefühlen hat sie keinen Zugang mehr und zu welchen will sie keinen mehr haben? In alkoholisierten Gedankengängen (auch von Menschen, die nicht suchtkrank sind) finden sich oft längst vergessen geglaubte Erlebnisse, man entdeckt Zusammenhänge, die man vorher nicht sehen konnte oder wollte. Plötzlich wiedergefundene Verstecke können tröstlich sein, ein unverhofftes Geschenk, über das man sich freuen kann, das inspiriert, sie können aber auch in Angst und Schrecken versetzen, gerade wenn man sich schwach und labil fühlt. Verbergen und aufdecken, das ist wahre Sisyphus-Arbeit der Seele – und Alkohol ist hilfreicher und hinterhältig-verhindernder Begleiter dabei. Ohne ihn wäre sie eigentlich nicht notwendig, aber Lee Miller befindet sich in einer Situation, von der sie meint, sie nicht anders bewältigen zu können. Alle Aktivität ist ins Innere verlegt, dort wird dieses Auf und Ab und Hin und Her als Bewegung, als immer noch Lebendig-sein erlebt, ohne dass man sich real nur einen Zentimeter bewegen müsste, aber dennoch muss man es als ein Pochen auf das eigene Leben, auf die eigene Lebendigkeit verstehen; dort lassen sich mit minimalem Aufwand alte wie neue Abenteuer ständig reanimieren, aber nur dort, weil der Alkohol letztendlich die gesamte Energie aufbraucht, die nötig wäre, das Leben in der Realität in die eigene Hand zu nehmen, aufzustehen und zu gehen, beispielsweise.

Lee Miller hat ihr Leben irgendwann an den Alkohol delegiert und als kluge Frau mit Sicherheit darunter gelitten, sich selbst als lächerlich und unwert erlebt, was den Teufelskreis stets von neuem und jahrelang in Gang hält. Dabei scheint ihr Widerspruchsgeist in der Depression noch einmal auf, meldet sich in Abständen zurück. Sie funktioniert einfach nicht, wie sie soll, wie es von ihr erwartet wird und weiß nicht, wie sie es anstellen soll, diese Lücke zwischen Anspruch und eigenem Willen, der ihr ebenfalls fremd vorkommt, zu überwinden. Früher war sie eine Persönlichkeit, die man weder übersehen konnte noch wollte, ihr Aufbegehren, ihre Arbeit galt als animierend und charmant, manchmal auch nervend, aber es wurde anerkannt, und sie konnte sich entfalten und leben. Jetzt fühlt sie sich abgekapselt vom Leben, niemand hat sie dahinein gezwungen, sie hat sich freiwillig, anfangs sicher arglos und ohne zu wissen, wohin das alle führen würde, in eine Falle begeben. Das ist die Wahrheit, die sie – am meisten vor sich selber – ständig verschleiern muss, die nur mit noch mehr Stoff auszuhalten ist, der wiederum vor den notwendigen Konsequenzen dieser Erkenntnis schützt. Sie sitzt im selbst geschaffenen Teufelskreis, in der eigenen Hölle. Alkohol bietet sich anfänglich als Problemlöser an, mit ihm gewinnt sie Distanz zu ihren widerstreitenden Gefühlen. Ihr Leben erscheint als eine Aneinanderreihung furchterregender, in die Länge gezogener Momente einer Flüchtenden, die Angst hat abzuhauen, die sich nicht eingestehen kann, wovor sie flieht und nicht weiß, wohin. Sie steckt fest in ihrem Versagen und dessen Eingeständnis. Sie will jemand sein und weiß nicht mehr, wer das sein könnte. Die unbewusste Verweigerungshaltung, dieses Bartleby´sches: I prefer not to ist längst im schrecklich Geordneten und Gemütlichen des Farley Farm House versackt, unter eine oberflächliche Gleichförmigkeit gekehrt. Hier hat alles seinen Platz, auch die besoffene Frau. Der Preis für das mickrige Ersatzleben mit der Flasche ist hoch. Lee Miller leidet an ihrem Alkoholismus, der sie in die immer gleichen ausweglos erscheinende Situationen treibt, und hat sich doch im wesentlichen mit ihm arrangiert.

 

       

Normandie, 1944

 

Befreiung von Paris, mit Picasso

 

Luxemburg, 1944

 

Die beste Zeit des Lebens

Am Ende ihres Lebens wird sie einmal wie nebenbei erwähnen, dass die Zeit als Kriegsfotografin ihre beste gewesen sei. Das leuchtet, trotz des Horrors, den sie auch erlebt hat [und eigener Distanz zum Militär], durchaus ein (obwohl es dann doch eine wirklich bedrückend kurze Zeit der Zufriedenheit in einem fast siebzigjährigen Leben gewesen wäre). Sie hat die Jahre als begehrtes Objekt von Fotografen (und einigen Männern, mit denen sie kürzer oder länger liiert war), ihr glamouröses, ihr sexuell freizügiges Leben sichtlich genossen, fühlte sich jedoch auch oft eingeengt. In der Army empfindet sie sich offenbar ganz pragmatisch als Gleiche unter Gleichen, die Männer respektieren sie. Sie tun ihre Arbeit und sie die ihre – und sie wird wertgeschätzt dafür. Ihre Schönheit ist ihr zeitlebens wichtig, sie weiß schließlich, was sie mit ihr erreicht hat, aber in der gewöhnlichen, allerdings von ihr zusammengestellten, Drillich-Uniform scheint sie sich frei zu fühlen, jenseits von Pose und Maskerade, und mit der Kamera in der Hand kann sie endlich eine eigene Bildsprache entwickeln, die zu dem passt, was sie sieht und weitergeben möchte. Sie will mit dieser Arbeit auch ihrem politischen Engagement gegen Hitler-Deutschland Ausdruck verleihen. Dazu passt nur ein klarer, schnörkelloser, dokumentarischer Stil, der auch für sie Neuland ist, den sie Bild für Bild (und von Etappe zu Etappe) für sich entdecken – und entwickeln! – muss.


Als Lee Miller 1977 an Krebs stirbt, findet ihr Sohn rund 60.000 Negative, 20.000 entwickelte Fotos und Kontaktabzüge, darüber hinaus Unmengen von Manuskripten und Dokumenten in Kartons penibel verpackt auf dem Dachboden seines Elternhauses. Antony Penrose entdeckt nicht nur ein ihm bis dahin vollkommen unbekanntes Werk, sondern posthum eine Frau, die er zuvor nicht gekannt hat, wie er 1985 in seiner Biographie The Lives of Lee Miller schreibt. Er kennt seine Mutter nur als eine Frau, die, solange er denken kann, unter schweren Depressionen leidet und heftige Alkoholprobleme hat. Sie haben lange kein liebevolles Verhältnis zueinander. Als Kind und Jugendlicher hat er mehr mit der Haushälterin zu tun als mit ihr. Von ihrer Karriere als Fotografin, vor allem als Kriegsberichterstatterin, hat sie nie gesprochen. Das Verschweigen schien ihr Schutzmantel zu sein, vor Fragen von außen – und vor ihren eigenen Antworten. Als sie kurz vor ihrem Tod über ebendiese Arbeit befragt wird, meint sie nur abschätzig, sie habe vor langer Zeit einmal ein paar Fotos gemacht, aber die seien im Krieg verloren gegangen und außerdem nicht der Rede wert gewesen. Mit dem Erscheinen ihres außergewöhnlichen Werkes lässt sich diese Aussage einfach widerlegen. Ihre Fotos gehören zum besten und eindringlichsten, was die Fotokunst des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat.



Unter www.leemiller.co.uk/ sind rund 3.000 Fotos öffentlich zugänglich, darunter Porträts von Pablo Picasso, Man Ray, Jean Cocteau, Dora Maar, Max Ernst, Dorthea Tanning, Paul Eluard, Georges Braque, Fred Astaire, Marlene Dietrich, Igor Strawinsky, Yehudi Menuhin, Yves Tanguy, Dylan Thomas, Henry Moore, Oskar Kokoschka, Joan Miró und Colette, Bilder von London während London Blitz, des sog. Blitzkriegs, und eben die Fotos der Foto-Journalistin, der Kriegsfotografin Lee Miller von verschiedenen westlichen Frontabschnitten, aus Paris (mit dem Wiedersehen alter Freundinnen anlässlich der Befreiung) und Deutschland unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs.


- Lee Miller: Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945. Reportagen und Fotos

Herausgegeben von Antony Penrose. Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hofmann, 272 S., kart., Edition Tiamat, Berlin 2013, ISBN 978-3-89320-178-5

- Lee Miller – Köln im März 1945, mit einführenden Texten von Kerstin Stremmel und Walter Filz, hrsg. von der Historischen Gesellschaft Köln e. V. und dem Zentral-Dombau Verein zu Köln von 1842, Greven Verlag, Köln 2013, ISBN 978-3-7743-0618-9.
- Becky E. Conekin: Lee Miller. Fotografin, Muse, Modell; aus dem Englischen von Claudia Kotte und Harriet Fricke, Scheidegger & Spiess Verlag, Zürich 2013, ISBN 978-3-85881-386-2.

- Lee Miller: Lee Miller – Begegnungen. Die Porträts einer großen Fotografin des 20. Jahrhunderts

463 S., geb. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2002, 34,90 €, ISBN 9783875844726

- Antony Penrose: The Lives of Lee Miller. Thames & Hudson, 1985, ISBN 0030058333


Wer das zum Museum umfunktionierte Landhaus Farley Farm House in Muddles Green, Chiddingly, East Sussex (nördlich zwischen Hastings und Brighton gelegen), das Antony Penrose ab 05.04.2015 jeweils an Sonntagen wiedereröffnet, besuchen möchte, findet alles Wissenswerte unter: http://www.farleyfarmhouse.co.uk/

 


Fotos: © Lee Miller Archives, England 2015. All rights reserved.

 


04XI14



Tweet