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Ulla Lenze, Der kleine Rest des Todes 

 

160 Seiten, geb., Frankfurter Verlagsanstalt, 18,90€,

ISBN 978-3-627-00179-7



 

 

 

 

 

 

Was jetzt ist

von Katja Schickel


 

Der Vater, ein Hobbyflieger, ist unter noch ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Ariane, Lieblingstochter, Papa-Kind, fällt ins Bodenlose ihrer Trauer. In ihrem eigenen Absturz, der von außen als solcher wahrgenommen und kommentiert wird, manifestiert sich einerseits die eher unbewusste Identifikation mit dem Vater in seinen letzten Augenblicken, andererseits auch ihr eigenes heilloses Durcheinander. Wie ist er gestorben? War es Unachtsamkeit, so genanntes menschliches Versagen oder doch technisches? Lauter Fragen, die nicht beantwortet werden, bis hin zu der einen besonders quälenden, ob der Unfall gar inszenierter Selbstmord war. Der Tod ist eine Niederlage. Vor allem für die Lebenden, die Hinterbliebenen. Trotz des Wissens, dass alle Menschen sterblich sind, eben nicht ewig leben, will ein Rest in uns diese Tatsache nicht akzeptieren, rebelliert gegen diese Erkenntnis und versucht sich mit gesteigerter Umtriebigkeit zu wappnen. Ulla Lenze erzählt von der Leere und Einsamkeit, die der Verlust in Ariane hinterlässt. Ihre Verzweiflung ist buchstäblich grenzenlos und irritiert zunehmend ihre Umwelt: ihre beste Freundin Beatrice, die nie da ist, wenn sie sie braucht; ihre vermeintlich nur pragmatische Schwester Svenja und die kaum präsente Mutter, die sich um die banale organisatorische und bürokratische Abwicklung des Todesfalls kümmern; den Exfreund Arndt, der in Liebesdingen schon längst anderweitig unterwegs ist, und sich in seinem neuen Glück nicht stören lassen will; den Geliebten Leander, der, mit ihren unkontrollierten Gefühlsaufwallungen konfrontiert, zunehmend genervt reagiert und sich abwendet. Sie findet keinen Halt mehr, nicht in Gesprächen, Alltagsverrichtungen oder im Sex.

In ihrem Schmerz, mit ihren Ängsten ist sie allein, wie jeder andere Mensch auch. Der Spagat zwischen der Forderung, sich vernünftig und konform zu verhalten wie alle anderen und der Ahnung, sich durch ihre widerstreitenden Gefühle durchschlagen, sie zunächst allerdings erst einmal zulassen zu müssen, gelingt ihr immer weniger. Eine unbekannte Region entdeckt man aber erst, wenn man durch sie hindurchgeht, wenn man sich auf ihre Unwägbarkeiten, ihre Unwirtlichkeit, auf mögliche Durststrecken und Desaster eingelassen hat.

Mit den gesellschaftlich akzeptierten Trauerritualen kann Ariane nichts anfangen. Über Tote nur Gutes. Nach dem Ableben eines Menschen soll alles schnell und effektiv über die Bühne gehen. Die Koordinaten stehen fest. Raum, Zeit, Ordnung der Trauer. Weil man sich negativen Gefühlen nicht stellen will, wird Anteilnahme gerne inszeniert. Dabei hat sich da eine Person einfach enzogen, Andere im Stich gelassen, sie verlassen. Der emotionale Ausnahmezustand, die Überwältigung kommt meist nicht zur Sprache. Ariane muss sich selbst aber in jedem Augenblick fragen, was jetzt ist, was geblieben ist von all ihren Plänen und Möglichkeiten, von ihrem bisherigen Leben. Der Adressat ihrer wirren Gedanken, ihrer Liebe und Wut wird jedoch nie wieder antworten. Plötzlich ist sie in einem dunklen schwarzen Loch gelandet und findet nicht wieder heraus. Muss sich schlaflos wälzen und weinen und schreien. Wie unter Zwang. Wie im Rausch. Eine gierige Sucht nach Leben und Sensation mündet in Stunden der Katatonie. Gedanken überwältigen und besetzen sie, zur Abwehr fehlt ihr jede Kraft. Sie fühlt sich fremd, so als gehöre ihr Schmerz gar nicht zu ihr, als könne nur der gestorbene Vater sie verstehen. Der Tote ist auf quälende und gleichzeitig verheißungsvolle Weise präsent: sein Geruch hängt immer noch in den Kleidern, seine Stimme spricht aus dem Anrufbeantworter, Erinnerungen an gemeinsame, manchmal schon vergessen geglaubte Erlebnisse tauchen überfallartig auf. Sie will sie nicht verdrängen, sondern in diese Bilder kriechen, in ihnen bleiben. Sie zieht Kleidungstücke des Vaters an, um sie nicht ansehen zu müssen. Sie möchte keine körperliche Distanz schaffen, sondern seine Nähe spüren, sich in sie – wie in eine zweite Haut - einhüllen. Sie konfrontiert sich endlich mit dem Unglücksort, um sich zu verabschieden und mit dem Toten verbunden zu bleiben.

Die poetischen und scharf konturierten Großstadt- und Landschaftsbilder, die Ulla Lenze entwirft, zeigen die Verlorenheit ihrer Protagonistin, aber auch deren Suche nach einem neuen, anderen Lebensgefühl, ein Dazwischen: „nicht mehr Ankunft, noch nicht Aufbruch.“

Der kleine Rest des Todes ist kein Therapiebuch für Hinterbliebene, sondern ein Roman über Grenzerfahrungen auf dem unbekannten Terrain zwischen Leben und Tod. Gekonnt entgeht die Autorin jedem Anflug von Kitsch oder falschem Pathos. In den Beschreibungen der Protagonisten lakonisch und (selbst-)ironisch erzählt, entfalten vor allem die atmosphärisch dichten Passagen über den Verlust menschlicher Nähe und Zuneigung, die körperlichen und seelischen Reaktionen darauf, die krisenhafte Zuspitzung der Ereignisse, die tiefe Erschütterung einen eigenartigen Sog, dem man sich – trotz des heiklen Stoffs – nicht so leicht entziehen kann. 

25.03.2012

 

 

 

 

 

Ulla Lenze, geb. 1973 in Mönchengladbach, Studium der Schulmusik und Philosophie in Köln, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. 2003 erschien der Debütroman Schwester und Bruder, für den sie mehrere Preise und Stipendien erhielt, 2008 der Roman Archanu. Für Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit, Brigitte und die FAZ schrieb sie Reisereportagen aus Libyen, Syrien, Indien, Iran und den Emiraten, 2009 war sie drei Monate Writer-in-Residence in Istanbul, 2010 neun Monate in Mumbai, finanziert vom Goethe-Institut und der Kunststiftung NRW. 2012: Heinrich-Heine-Stipendium Lüneburg.

 



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