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Neue Prosa und Lyrik aus der Slowakei 

von Volker Strebel


 

Daniela Humajová/Monika Banášová (Hg.) Den Spiegel bewegen,

mit einem Nachwort von Walter Koschmal, 358 Seiten,

Verlag Karl Stutz, Passau 2011, ISBN: 978-3-88849-148-1









 


"Wenn man ein bisschen wartet, lösen sich alle Probleme. Warum sich aufregen und beharren. Auf dem eigenen Standpunkt. Es wird ohnehin alles anders. Das half ihr zu überleben. All diese Katastrophen“. Die Mutter im Romanauszug Orte der Nicht-Erinnerung von Alta Vášová war in ihrem Leben einigermaßen passabel über die Runden gekommen.
Nicht von ungefähr wird die vorliegende Sammlung slowakischer Literatur der Gegenwart von der renommierten Kennerin der slowakischen Literatur Alta Vášová, Jahrgang 1939, eingeleitet. Aufsteigend nach den Geburtsjahren – der jüngste Autor, Radoslav Tomáš, ist 1982 geboren – werden Texte von siebzehn Autoren vorgestellt, die allesamt vorzüglich geeignet sind, Einblick in eine weitgehend unbekannte Literaturlandschaft zu gewähren, die geographisch wie kulturell zwischen Ungarn und der Tschechischen Republik eingezwängt ist.
Dabei verblüffen sowohl die thematische Vielfalt wie auch die außerordentliche Komplexität der künstlerischen Verarbeitung. Gilt es doch immerhin, dem Spannungsbogen von einem Jahrzehnte währenden real existierenden Sozialismus bis hin zu einem ungestümen Kapitalismus in einer zunehmend globalisierten Welt gerecht zu werden. In diesen Lebenswelten treffen vollkommen unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Eingespielte Erklärungsmuster bezüglich üblicher Verwerfungen im Umgang der Generationen miteinander greifen nur auf den ersten Blick. Land und Leute sind den vielfältigsten Herausforderungen ausgesetzt und wie in einem Brennstrahl verdichtet finden sich die Widersprüche im einzelnen Menschenschicksal wieder.
Peter Krištúfek betreibt in seinem Beitrag Blackout ein raffiniertes Spiel. Inspiriert von intensiver Lektüre wird eine Art Wettlauf zwischen Fiktion und Wirklichkeit beschrieben. Das geschilderte Leben eines Mannes verirrt sich bis zur Austauschbarkeit und endet in höchster existentieller Bedrohung.
Vollkommen überraschende und unverhoffte Pointen kennzeichnen auch Eine alkoholische Erzählung von Stanislav Rakús oder Daniela Kapitánovás psychologisch-subtilen Text M. Koenig, Podjavorinská Straße 18, Hlohovec, in welchem zwei Schwestern darüber streiten, ob die eine von ihnen tatsächlich jemals einen Briefkontakt mit dem geheimnisvollen M. Koenig unterhalten hatte.
Bei allen fantastischen Überhöhungen sind die Texte durchgehend in einer illusionslosen Wirklichkeit angesiedelt. Und es sind völlig durchschnittliche Protagonisten, die mit außergewöhnlichen Situationen konfrontiert sind. Ob es die junge Lisa in Ivana Dobrakovovás Erzählung Der erste Todesfall in der Familie Bellevue, Marseille ist, die in einer Anstalt für Behinderte mit Bettflaschen umzugehen lernt und Gespräche über den französischen Extremisten Le Pen führt, oder Jarka im Romanauszug Das fünfte Schiff von Monika Kompaníková, die hilfsbereit auf den Kinderwagen einer Passantin aufpasst und sich in der absurden Situation wiederfindet, dass die Mutter dieses Kinderwagens nicht mehr zurückkommt.
Márius Kopcsay konfrontiert in seiner Erzählung Der Mann und der Tod die sensible Selbstwahrnehmung eines in die Jahre gekommenen Mannes mit Sitten und Umgangsformen heranwachsender Jugendlicher. Er fühlt sich wie ein Fremder, wenn er ihnen auf der Straße begegnet: „Sie stellen ihre Muskeln, ihre tätowierten Arme, Beine und Rücken, ihre blauen Schädel und ihre rauen, kantigen Gesichter zur Schau“. Übliches Strandgut im Windschatten der Postmoderne!
Die stärksten Texte beeindrucken neben der Story durch ihre Sprachkraft. Als in Jana Beňovás Romanauszug Kalisto Tanzi die junge Elsa in einem Café mittags Wein trinkt, geraten die Dinge in Bewegung: „Der Coca-Cola-Schriftzug auf der Tischdecke beginnt mir direkt ins Gesicht zu springen. Ich beschwere ihn mit einem Teller. Ich habe es gerne, wenn alles auf seinem Platz bleibt“. Von den verzehrten Weintrauben bleibt ihr am nächsten Tag in der Tasche ein Weintraubenstängel: „Er ähnelte einem abgeräumten Weihnachtsbäumchen“.
Neben Erzählungen und Romanauszügen von dreizehn SchriftstellerInnen werden auch Gedichte von vier LyrikerInnen vorgestellt, von denen vor allem die Verse Nóra Ružičkovás hervorzuheben sind. Ihr Nachdenken über alltägliche Befindlichkeiten gerät zur Meditation über die Verlorenheit des Menschen: „Diskrete Nahtstellen // nach einem Winter mit kompliziertem Grundriss / voll verwinkelter spärlich beleuchteter Gänge / treten endlich auch wir zutage / tappend als habe uns jemand gerade / aus einem verrauchten Ärmel geschüttelt / mit ausgeblutetem Blick parieren wir / die gnadenlose Helle (...)“
Dass die vorliegende Sammlung konsequent zweisprachig ist, muss lobend hervorgehoben werden. Der sorgsam betreute Band ist zudem mit bio-bibliographischen Angaben zu den Herausgeberinnen, den Autoren sowie den Übersetzern versehen. Ein ausführliches Nachwort des Regensburger Slavisten Walter Koschmal vermittelt einen kundigen Überblick über die Entwicklung der neueren slowakischen Literatur. Der vorliegende Band belegt eindrucksvoll die ungebrochene erzählerische Kraft der modernen slowakischen Literatur.


© mit freundlicher Genehmigung des Autors, Erstveröffentlichung: Prager Zeitung


Nachtrag
Neben zwei von Manfred Jähnichen und Peter Zajac herausgegebenen Sammelbänden in den 1990er Jahren wurde deutschen LeserInnen die slowakische Literatur bereits in zwei Sonderheften vorgestellt:

In der Literaturreihe Die Horen - Nr. 208 Im Garten der Wörter: Orte & Gegenstände slowakischer Literatur (www.die-horen.de bzw. www.wallstein-verlag.de ) sowie in der Literaturzeitschrift Passauer Pegasus - Heft 36 Literatur aus der Slowakei (passauer.pegasus@gmx.de).

 

 



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