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Ludvik Vaculik

von Katja Schickel 

 

 

 

Ludvik Vaculik, Die Meerschweinchen,

Aus dem Tschechischen von Alexandra und Gerhard Baumrucker

 Diaphanes Verlag, 192. S.

 

 


 

 

 

 

 

 

 

In Die Meerschweinchen stellt Ludvik Vaculik eine vierköpfige Familie vor: Vater Vašek, Mutter Eva und zwei Söhne, Vašek und Pavel, mit einem Drang zu unfertigen Bauten, Ausschachtungen und Gleisen. Der Vater ist Beamter in der Staatsbank. „Das ist ein hochtrabendes Gebäude, außen mit Marmor verkleidet, innen lasse man sich jedoch nicht täuschen.“ Vašek und seine Kollegen, vom kleinen Bankangestellten bis zu den verantwortlichen Bankiers, beklauen die Bank nämlich hemmungslos; es ist – so die Begründung - der gerechte Lohn, der in die eigenen Geldbörsen wandern soll, aber allen regelmäßig am Ausgang von den Wachtposten wieder abgenommen wird. Das beschlagnahmte Geld findet jedoch nie zurück in die Tresore, man sieht es nie wieder: ein Indiz für den korrupten, maroden Zustand der gesamten Volkswirtschaft. Die Mutter Eva ist Lehrerin mit keinerlei Spielraum, die Schulung eigenständigen Lernens und Denkens betreffend, die beiden Söhne sind wegen ihres Hobbys sowieso mehr auf der Straße als in der Schule anzutreffen. Die Familie kommt ursprünglich vom Land, wo man – wie alle wissen – ein deutlicheres Verhältnis zu Natur und den Tieren pflegt, was vermutlich mit dazu beigetragen hat, dass Vater Vašek eines Tages mit einem Meerschweinchen nach Hause kommt. Was zunächst als Weihnachtsgeschenk für die beiden Jungen gedacht war, nimmt den Vater, zunehmend die ganze Familie, immer mehr in Beschlag. Er beobachtet zunächst das eine Meerschweinchen, kauft dann immer weitere hinzu und beginnt mit ihnen als Versuchskaninchen zu experimentieren. Angefangen mit einfacher Verhaltensforschung, dem Beobachten von Reflexen und ihrer Beeinflussung durch äußere Reize, steigert sich die väterliche Forscherlust zu immer grausameren Experimenten. Was Bedrohung und ihre Entlastung ausrichten können, wissen wir seit Milgram. Dass man den real existierenden Sozialismus erst bei Ratten hätte erproben sollen, kursierte als böser Witz seit dessen Bestehen und ständiger Weiterentwicklung. So gesehen sind Vaculiks Meerschweinchen die passende Antwort auf diese Versuchsanordnung. Das Geschehen, vor allem in der Bank, aber auch in der Schule und auf den Straßen, beeinflusst das Private, wie umgekehrt die privat gewonnenen Erkenntnisse Einfluss auf die Wahrnehmung der Außenwelt haben. Das erscheint oft extrem bösartig, aberwitzig und absurd, wie man es auch beispielsweise aus Filmen von Jan Švankmaier kennt, ist aber als Widerstand gegen eine aufgezwungene, gleich geschaltete Normalität zu verstehen. In der inneren Emigration, in der sich Ludvik Vaculik seit dem Ende des Prager Frühlings befand, musste man verdeckt leben und ermitteln, um sich selbst nicht preiszugeben, Gefühle von Niederlage und Bedrohung anders bewältigen lernen. Er wählte eine herrlich schräge, sarkastische Variante. Die Meerschweinchen waren 1970 die erste Nummer der Edice Petlice (Edition Hinter Schloss und Riegel), dem Samizdat-Verlag, in dem Vaculik über vierhundert Bücher herausgab, darunter Seifert, Hrabal und Havel. Erst 1990 konnte das Buch legal veröffentlicht werden. Auch wenn sich das kommunistische System erledigt hat, sind die Meerschweinchen immer noch unheimlich und irritierend – und überraschend zeitgemäß.

 


Ludvik Vaculík, tschechischer Schriftsteller und Publizist, * 23. 7. 1926 Brumov, Mähren wurde zunächst Schuster; Studium von 1946 bis 1951 an der Prager Hochschule für Politik und Sozialwissenschaften, danach Erzieher in Lehrlingsheimen, Redakteur im Tschechoslowakischen Rundfunk und bei der Zeitschrift Literární noviny. Im Prager Frühling trat er durch das Manifest der 2000 Worte hervor. Später war er einer der Mitbegründer der im Anschluss an die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) gebildeten tschechischen Menschenrechtsgruppierung Charta 77. 1970 gründete er den Samizdat-Verlag Edice Petlice (Verlag hinter Schloss und Riegel),immer noch Verfasser unzähliger Feuilletons zu Tagesproblemen.


Ebenfalls sehr lesenswert:

- Das Beil, Vorwort von Peter Kurzeck, Nachwort von Eckhard Thiele; aus dem Tschechischen von Miroslav Svoboda, Erich Bertleff, geb., 304 S., 2006

- Tagträume, Alle Tage eines Jahres; aus dem Tschechischen von Alexandra Baumrucker, geb., 456 S., 1992

 

 

 

 

 

© Foto: Ludvik Vaculik homepage 

 

 

 

 

 



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