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Michael Krüger

"Ich wollte erzählen ..."

 

 

Warum der Hanser-Verleger mehrere Reden zur Eröffnung der Buchtage am 20.06.2012 geschrieben und immer wieder verworfen hat. Aufklärendes dazu bei seinem hier im Wortlaut dokumentierten Auftritt in Berlin.

 

 

 

 

 

Meine Damen und Herren, 

da ich in dieser Runde höchstwahrscheinlich der Älteste bin – und da unser Präsident mich unter der Zusicherung, dass ich sagen dürfe, was ich wolle, genötigt hat, diese kurze Rede zu halten, möchte ich mir die Freiheit nehmen, ausschließlich über mich selbst zu reden. Und zwar nicht deshalb, weil ich mich besonders wichtig nehmen würde, sondern weil ich hoffe, so der herrschenden Abstraktion der öffentlichen Rede zu entgehen. Ich hatte an einem freien Wochenende im März bereits eine Rede geschrieben, die ganz meiner Empörung über die Art und Weise, wie die sogenannten Piraten und ihre immer zahlreicheren Anhänger mit Werken der Kunst umzugehen gedenken, entsprungen war; über die entsetzliche Sprache, die wir von nicht einmal fünfundzwanzigjährigen Frauen hören mussten, die Kunst als ein Synonym für „Scheiße“ erklärten; über die zunehmende Auslöschung jeder Vorstellung und jeden Nachdenkens über Kunst und ihre zivilisierende Tradition; über den totalen Verlust der Geschichte, wie er sich in solchen aggressiv-dümmlichen Reden ausdrückte; über die Parallelisierung von Piratensprache und üblicher politischer Sprache, über die mangelnde Bereitschaft der Politik, die Sache des „geistigen Eigentums“ zu verteidigen; und so weiter und so fort. Die Rede war zornig, feurig – und zutiefst reaktionär –, ich bin sicher, Sie hätten Ihre Freude daran gehabt. Aber inzwischen haben die Piraten in den Parlamenten ihre Schneidersitze eingenommen, sie schreiben in allen seriösen Zeitungen um die Wette, um ihre unheilige Verachtung des Urheberrechts und der Kunst zu kaschieren oder zu legitimieren, und fast alle, die überhaupt schreiben können, haben inzwischen Verlagsverträge unterzeichnet, in denen genau festgehalten ist, dass sie, wie alle anderen Scheiß-Künstler auch, ordnungsgemäß honoriert werden. Beim Geld hört der Spaß des Piraten bekanntlich auf, denn auch er muss die Semmel bezahlen und die Wurst, die er beim Hören kostenloser Musik verspeisen will.

Vor allem aber haben wir in den letzten drei Monaten eine Fülle von Beiträgen lesen dürfen, die sich klug und besonnen zu der Frage geäußert haben, was mit der Kunst und der Nicht-Kunst im Netz passieren soll und wie die Künstler für ihre Arbeit angemessen bezahlt werden können.

Diese Springflut an Geistesblitzen war insofern überraschend, als das Netz und die in ihm gefangenen und sich unter Angststress in Windeseile vermehrenden Probleme uns ja bereits seit einiger Zeit bedrücken, und wenn man die schneckenhafte Langsamkeit bedenkt, mit der das Justizministerium die offenen Fragen des Urheberrechts behandelt, dann könnte man auf die illusionäre Idee kommen, es gäbe noch netzfreie Räume in unserem Gemeinwesen, die nach herkünftiger Art bestellt werden können. Werch ein Illtum, um mit Ernst Jandl zu sprechen. Es macht aber auch auf brutale Weise deutlich, wie langsam, ja geradezu tölpelhaft schwerfällig wir uns in Verhältnissen bewegen, in denen offenbar andere, auf jeden Fall schnellere Reflexe gefragt sind als die, die wir aufbieten können.

Die Ungleichzeitigkeit von antrainierter menschlicher Zeit und Netzzeit ist so überwältigend neu, dass wir ihre langfristige Wirkung auf unser Seelenleben weder begreifen noch einschätzen können. Der Geschwindigkeitsrausch, der unsere Lebens-, Denk-, Arbeits- und Kommunikationsverhältnisse ändert, ist so gewaltig, dass wir die Gegenwart, das Jetzt, unsere ohnehin schon überkomplexe Lebenswelt, nicht mehr zu fassen kriegen. Es kommt einem so vor, als sei immer schon alles vorbei, vorüber, hat sich in tausend Splitter aufgelöst und im Handumdrehen anders zusammengesetzt. Es scheint, als dürfe man sich kein festes Bild mehr machen und keinen Rahmen denken, als würden nur noch die sich aufbauenden und sofort wieder zerfallenden Bilder gelten. Und da diese seltsame, früher hätte man gesagt: unnatürliche Raserei kein Zentrum mehr hat, kein Ziel, keine humanitäre und keine soziale Botschaft, da sie keine noch so vage Utopie formuliert außer der, dass alles verfügbar und gleich-gültig ist und man im seltenen Glücksfall einen Haufen Geld damit verdient, stehen die meisten von uns diesen neuen Verhältnissen ratlos gegenüber. Es ist ein Triumph der Entsinnlichung zu beobachten, der in Konsequenz mit dem aufklärerischen, humanitären Konzept unseres bisherigen Lebens nicht mehr viel gemeinsam hat.

Diese Phänomene machen uns weitgehend sprachlos. Wir kritisieren ein bißchen herum, nehmen uns, was uns zuträglich erscheint und uns billig anmutet, machen uns unsere trüben Gedanken, wie das wohl weitergehen mag oder wundern uns nur. Und wenn uns jemand sagt, ihr Zögernden, ihr Skeptiker, ihr Fortschrittsungläubigen seid ja schon alle Teil dieses ominösen Netzes und könnt nie mehr aussteigen, weil sogar die Passivität des Netz-Resistenten zur Idee des Netz-Systems gehört, dann neigen viele von uns dazu, solche Reden für den Ausdruck einer modernen Geistesgestörtheit zu halten, die hoffentlich bald therapierbar ist. Es ist wohl so, dass die vertrauten menschlichen Geschwindigkeiten in der Bewegung, im Denken und im Handeln für den Nahverkehr noch ausreichen mögen, aber der Große Zug ist längst schon durchgefahren.

Goethe läßt in seinen „Wahlverwandtschaften“ Eduard sagen: „Es ist schlimm genug, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.“

Alle fünf Tage, müsste es heißen.

Etwas passiert. Mit uns? Für uns? Gegen uns?

Da nur die wenigsten von uns es für erstrebenswert erachten, zurück in die Wälder zu gehen und unter den Pilzen Zuflucht zu finden – weil Google Earth ohnehin jeden giftigen und jeden bekömmlichen Pilz erfasst hat und Amazon natürlich auch in die dunkelsten Wälder liefert -, bleibt den meisten von uns gar nichts weiter übrig, als der schleichenden Überwachung und zunehmenden Enteignung zuzusehen – oder aber, was noch schlimmer ist, ihr zuzuarbeiten. Aber nicht die großen elektronischen Konzerne – deren Bewertung demnächst höher sein wird als das Bruttosozialprodukt aller kränkelnden südeuropäischen Länder zusammen – sollen enteignet werden, sondern wir, die stolze Gemeinschaft der „Ichs“, die wir uns Gott weiß was auf unseren freien Willen einbilden.

Wenn man den prophetisch gesinnten, in ökonomischer Hinsicht höchst pragmatisch orientierten neuen Weltenlenkern glauben darf, dann wird uns demnächst, nach erfolgter Einspeisung unseres genetischen Codes in die durch und durch weltliche Datenbank, mit der Geburtsurkunde auch gleich der Totenschein ausgehändigt werden. Mord, Autounfall und andere Nebeneffekte sind einberechnet. Manche hochfliegende Physiker träumen bereits von einer von allem Fleisch entbundenen Unsterblichkeit in einem elektronischen Himmel. Was zwischen Geburt und Tod liegt, das sogenannte selbstbestimmte Leben, ist in den Algorithmen sowieso schon festgelegt. Welchen Beruf wir ausüben, wen wir heiraten, wo wir Urlaub machen, was wir essen und unter welchen Krankheiten wir leiden werden, das sind kollaterale Lächerlichkeiten für die Datenbank der Zukunft. Wer vom Rätsel der Existenz spricht, wird von den neuen Göttern als Spinner angesehen werden, als hoffnungsloser Romantiker, als Kontingenznarr.

An schleichende Prozesse kann der Mensch sich anpassen, das haben uns die großen Mentalitätsforscher wie Norbert Elias erzählt. Also wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt mit Messer und Gabel gegessen und nicht mehr mit den Fingern. Menschen, so haben wir früher gelernt, „sind Wesen, die wissen, einsehen, verstehen und begreifen können“ (Jochen Hörisch) – und jetzt sollen wir nur noch zur Kenntnis nehmen, dass alles schon im Großen Plan der Datenbank vermerkt ist. Schluss der Tragödie, basta mit Schicksal. Unter solchen Voraussetzungen wäre Kunst dann vielleicht nicht gerade „Scheiße“, wie die jungen Piraten meinen, sondern eine Art Spielzeug, mit dem man machen kann, was einem so vor dem Bildschirm einfällt.

An „Form“ ist in solchen Netz-Zusammenhängen ohnehin nicht mehr zu denken, von „Sinn“ soll dann keine Rede mehr sein, über „Bedeutung“ wird jetzt schon gelacht. Kürzlich hat ein amerikanischer Germanist bekanntgegeben, seine Studenten hätten den „Werther“ durch einen Klick am Computer von allen Adjektiven befreit, durch einen zweiten Klick die Plausibilität des Ganzen in Frage gestellt und durch eine weitere Operation einen neuen Schluss „generiert“. – Keine Ahnung, was das soll – oder: Es soll gezeigt werden, was man mit dem Computer alles machen kann. Unter solchen  Voraussetzungen kann man im Handumdrehen aus der Passion einen Fantasy-Roman machen, und sogar der arme Hölderlin kann zu einem glücklichen Frührentner umfunktioniert werden, der nicht im Turm zu Tübingen, sondern auf Mallorca seinem Ende entgegensieht.

Wie gesagt: In diesem Ton, gespickt mit Beispielen, hatte ich im März meine Rede entworfen, in der ich von der „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ (Christoph Türcke) sprechen wollte, vom traurigen Abschied von der „Idee des autonomen Autors, der Gedanken und Handlungen aus sich heraus hervorbringt“ (Wolfgang Prinz), von der durch das Netz in Verruf gekommenen „Autorenschaft für das eigene Leben“, wie es der hier in Berlin lebende Philosoph Peter Bieri formuliert hat. Und ich wollte enden mit einem Plädoyer für Demut, für Langsamkeit, für genaues Lesen von Texten, für ein halbwegs „geglücktes Leben“. Die emotionale Bewegung meines Textes sollte vom Zorn über die blöden Piraten über die Trauer des Verlusts über den Begriff der Schönheit, wie wir ihn in unserem Beruf kultiviert haben oder haben sollten, bis zu einem flammenden Plädoyer zur Rettung der Literatur in der Netzzeit gehen. Alles war wunderbar polemisch, nachdenklich und schließlich pathetisch formuliert, eine herrliche Sonntagspredigt, die, nicht zu sehr ins Detail verliebt, sondern eher mit breitem Pinsel auf die große Leinwand geworfen, unsere heillose Gegenwart aufhellen sollte.

Und dann habe ich alles weggeworfen, zerrissen und zerfetzt dem Papierkorb anvertraut, meinem liebsten Begleiter, der Tag für Tag stumm und widerspruchslos all das aufnimmt und verdaut, was ich ihm in schlaflosen Nächten anvertraue. Warum? Weil ich plötzlich den Eindruck hatte, dass angesichts der eskalierenden Krisendynamik diese eleganten Sonntagsreden nicht mehr angemessen sind. All dieses „Möge es uns erspart bleiben“ und „Wir müssen mit Optimismus den Herausforderungen ins Auge blicken“ und „Der Mensch wird auch in hundert Jahren noch Bücher lesen“ und dieses als Unterstimme immer mitlaufende Band „Also packen wir’s an“. Aber irgendwie musste ich doch die meinem Freund Gottfried Honnefelder versprochenen fünfzehn Minuten, die sich unter der Hand im Prospekt zu einer dreiviertel Stunde ausgewachsen hatten, doch voll kriegen, ich konnte doch nicht, wie ich es mir plötzlich vorgestellt hatte, einfach nichts sagen, schweigen, die wohltuende Leere mit Schweigen füllen! Einfach die Klappe halten, wie ich es mir wünsche, wenn ich wider besseres Wissen eine Talk-Show sehe oder eine dieser traurigen Comedy-Sendungen, die auch von meinen Beitragszahlungen produziert und gegen meinen Willen zur besten Sendezeit sogar ausgestrahlt werden.

Also entschloss ich mich, wie angekündigt, über mich zu sprechen. Wie ich vor fünfzig Jahren hier in Berlin nach dem Abitur eine Buchhändler- und Schriftsetzerlehre absolviert habe. Der Verlag, Herbig, eine Gründung aus dem frühen 19. Jahrhundert, wurde nach den Tod meines Lehrherren Walter Kahnert, der sein Handwerk bei Ernst Rowohlt erlernt hatte, an einen süddeutsch-österreichischen Verlag verkauft – ich weiß gar nicht, ob er noch existiert. Die Taschenbuch-Reihe „Non-Stop“ jedenfalls, in der neben so verheißungsvoll-schwülen Titeln wie „Frau Abt und ihr Reich“ und „Der kleine Balkon-Gärtner“ auch die Romane von Wolfgang Koeppen und Norman Mailer erschienen, wurde eingestellt. Herbig gehörte zu meinen Zeiten zur Gruppe „Die Bücher der 19“, einem anspruchsvollen Projekt, literarische und philosophische Bücher zu moderaten Preisen anzubieten.

Der erste Band hieß „Leib und Seele“ und stammte von Maxence van der Marsch, erschienen bei Kiepenheuer und Witsch. Einige Verlage – wie der buchkünstlerisch und programmatisch großartige Jakob Hegner, bei dem die katholischen Autoren wie Paul Claudel, Bruce Marshall und Francis Jammes oder auch die ersten zehn Romane von Hermann Lenz erschienen, aber auch Paul List oder Christian Wegner - gibt es nicht mehr, der große Rest, mit den Ausnahmen von C.H. Beck, Hanser und Suhrkamp, hat sich unter die Fittiche der drei Konzerne gerettet, Bertelsmann, Holtzbrinck und Bonnier, die heute das Verlagswesen weitgehend bestimmen. Die literarische Avantgarde – von Auden bis Benn und von Bense bis Harig – erschien bei Limes, die aufklärerische Theorie bei Luchterhand und Wagenbach, und über allem stand der geniale Suhrkamp, der für mich, der ich die Universität nur nach der Arbeitszeit aufsuchen konnte, zur Ersatz-Universität wurde.

Ich wollte Ihnen erzählen, nahm ich mir vor, wie ich, noch mit der Druckerschwärze an den Händen, zur Freien Universität geeilt bin, um die nach 18.00 Uhr beginnende Vorlesung von Peter Szondi über die späten Hymnen Hölderlins zur hören oder Walter Emrich über Kafka, und dass die Druckmaschine, an der ich gelernt habe, wie man mit Seidenpapier das Blei unterlegt, um einen regelmäßigen Druck zu ermöglichen, heute im Museum steht. Ich wollte Ihnen von dem berauschenden Geruch der Druckereien erzählen statt von Kontingenzbewältigung; ich wollte schildern, wie das Durchschlagpapier in der DDR aussah und unter welchen Qualen damals fünf Kopien des tausendseitigen „Stillen Don“ hergestellt wurden; von meinem Freund Jürgen Gruner von Volk und Welt hätte ich gerne erzählt, einem milden Ironiker, der das Honorar für die Gutachten für die Zensurbehörde der DDR zu seiner Empörung aus der Verlagskasse zahlen musste und der mir, bei abschlägigem Bescheid, augenzwinkernd mitteilte, die Arbeiter und Bauern der DDR seien nach Ansicht des Zentralkomitees noch nicht so weit, Bücher von Beckett genießen zu dürfen; ich wollte erzählen, wie ich mit einem Kollegen nach Weimar gefahren bin, um ein Fotokopiergerät gegen Kopien der in der Gedenkstätte verwahrten Fotos von Nietzsche zu tauschen, und wie wir den sächsischen Volkspolizisten an der Grenze zu erklären versuchten, wie so ein Gerät funktionierte; nur um nicht über Netzstrukturen reden zu müssen, wollte ich über meinen Freund Klaus Wagenbach und unsere Arbeit an den „Tintenfischen“ erzählen und wie Mitglieder der radikalen Fraktion uns daran hindern wollten, so hermetisch-bourgeoise Produkte wie die Gedichte von Ilse Aichinger zu drucken. Die unendlichen Listen von Texten, die wir uns damals gegenseitig mit der Post schickten, tauchten kürzlich wieder aus alten Papierhaufen auf und lösten in mir ein so euphorisches Glücksgefühl aus, dass ich mir sofort vierzig Jahre jünger vorkam.

Zur Geschichte der Buchmesse hätte ich einiges beisteuern wollen, und dabei wäre auch zur Sprache gekommen, wie der österreichische Schriftsteller Oswald Wiener alle Anstalten machte, am Schwanz des Dinosauriers im Senckenberg-Museum einen Überschlag zu trainieren, oder, auf der Leipziger Messe, wie der damals ganz unbekannte Dichter Wolfgang Hilbig von morgens bis abends in unserem übelriechenden Messekabuff im Messehaus am Markt saß und ganze Gedichtbände abschrieb, die wir ihm, dem in den Augen der DDR unsicheren Kantonisten, nicht schenken durften. Und statt  über „liquid democracy“ hatte ich mir Notizen gemacht über meine Begegnungen mit Buchhändlern aus der Zeit vor der Warenwirtschaft, eigentümliche und eigensinnige Männer und Frauen, die ich plötzlich alle wieder vor mir sah, hochgebildete Käuze und Käuzinnen, die es einem übel nahmen, wenn man noch nicht den letzten Roman von Max Frisch oder die neuesten Gedichte von Peter Rühmkorf gelesen hatte.

Und so weiter und so fort. Ich wollte erzählen, wie sich unser Beruf in meiner Lebenszeit verändert hat. Mit andern Worten, statt über shitstorm und total transparency wollte ich über die geheimnisvollen, beglückenden und in der Rückschau oft komischen Seiten unseres nicht einmal zweihundertsechzig Jahre alten Berufs sprechen, ohne natürlich die rasante Entwicklung von so nützlichen Geräten wie Fotokopierer, Fax, Internet, schnurlosem Telefon oder iPad und wie alle diese Zerstreuungen des Netz-Teufels sonst noch heißen, auszulassen. Aber ich war mir plötzlich sicher – auch das geht nicht. Das ist in den Augen der jüngeren Kollegen Schnee von gestern, Nostalgiekram, sentimentales Geschwätz eines alten Mannes. Man kann über die gloriose Periode der Literatur der Nachkriegszeit, dieser sechzigjährigen Friedenszeit, in der wie selten zuvor in Schulen, Gruppen, Vereinigungen, Zeitungen und Zeitschriften über Literatur gestritten wurde, man kann über die Zeit von Celan und Bob Dylan, Heißenbüttel und Bachmann, Lukács, Adorno und Jim Morrison öffentlich nicht mehr reden, ohne sich lächerlich zu machen. Das ist etwas für private Kreise, klandestine Zirkel. Statt dessen müssen wir uns die Frage stellen, „ob wir als Gesellschaft das Netz weiterhin behandeln wollen wie ein hochgefährliches Gerät oder uns endlich dazu durchringen können, es als zentralen Lebensraum zu betrachten, den ein moderner Mensch zum Leben braucht wie ein Fisch im Wasser.“ (Max Winde, FAZ, 7. Mai 2012)

Oder um es mit den kurzen Worten des Richters für Urheberrecht am Landgericht Hamburg zu sagen: „Die Vorstellung, dass Kunst was wert ist, die ist weg.“ Peter Sloterdijk hat es mit der Feststellung auf den Punkt gebracht: „Das 21. Jahrhundert wird ein Nebeneffekt des Internet sein.“

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen – ich habe mich ja von Gottfried Honnefelder nicht zwingen lassen, hier zu stehen, um Pessimismus zu verbreiten – obgleich eben auch gilt, was der rumänische Aphoristiker Emile Cioran gesagt hat: Auch Pessimismus ist ein Stadium der Reife. Aber wir sind alle Teil einer brutal voranschreitenden, rücksichtslos operierenden digitalen Gesellschaft geworden, ob uns das passt oder nicht. Wir werden uns verändern – verändern müssen, um nicht verändert zu werden. Vielleicht hilft uns als Trost ein Satz des für seine Zeit uralten, für unsere Verhältnisse bestenfalls alten Geheimrat Goethe: „Bin ich darum achtzig Jahre alt geworden, dass ich immer dasselbe denken soll? Ich strebe vielmehr täglich etwas anderes, Neues zu denken, um nicht langweilig zu werden. Man muss sich immerfort verändern, erneuern, verjüngen...“ (Mutius.)

Aber - und auch das hätte von Goethe sein können, stammt aber von dem deutschen Philosophen Odo Marquard – Zukunft, auch digitale Zukunft, braucht Herkunft. Und da sind wir doch gefragt. Wir sind doch – neben dem Museum und der Bibliothek – diejenigen, die Herkunft vermitteln, die das Band, das die Zivilisation zusammenhält, in der Hand halten und weitergeben. Es gibt keinen Beruf – vom rasch wechselnden Bundespräsidenten bis hin zum Lehrer -, der so viel kulturelle Verantwortung trägt wie wir. Und Sie, die Buchhändler unter uns, tragen noch schwerer daran, weil sie das Ganze im Blick haben müssen, den gesamten Schatz überblicken müssen, während wir Verleger immer nur auffüllen, vermehren, nachlegen. Ich weiß, das klingt etwas plattfüßig, populistisch. Wie das Pfeifen im Wald. Aber ich meine es ganz ernst: Wenn wir nicht unseren berechtigten Stolz auf das, was wir tun, kultivieren, wird es uns noch schlechter gehen.

Natürlich weiß ich, dass Sie eine Menge schrecklicher Bücher verkaufen müssen, um für die guten etwas zu tun. „Ein Roman“,  hat Lord Chesterfield gesagt, „muss schon verdammt gut sein, um länger zu leben als eine Katze“, aber es gibt eben doch Romane, die eine Katze sogar dann überleben, wenn sie sieben Leben hat. Natürlich weiß ich, dass Sie das, was man heute deutschen Humor oder Comedy nennt und was man daran erkennt, dass man beim Lesen garantiert nie lachen muss, dass Sie diesen Humbug verkaufen müssen, um sich das kleine Regal „Poesie“ oder „Dichtung“ leisten zu können.

Natürlich weiß ich, dass Hebammen, Leichenwäscherinnen und Wanderhuren in der Literatur heute ungleich attraktiver sind als Lotte und Käthchen, wobei ich nichts gesagt haben will gegen die ehrbaren Berufe von Hebamme, Leichenwäscherin und Wanderhure und ihre sprachmächtige Beschwörung in der deutschen Literatur.

Natürlich weiß ich, dass auch im 21. Jahrhundert der entsetzlichste Kitsch, der dümmste Horror und der brutalste Krimi mehr Interessenten finden als ein herrliches Gedicht von Durs Grünbein oder Tomas Tranströmer. Aber wir alle hier haben unseren Beruf ja nicht gewählt, um Handbücher über die beste Methode des Vergewaltigens und Nägelausreißens und die richtige Art des Tötens zu verlegen und zu verkaufen. Wir sind doch nicht Buchhändler geworden, um der deutschen Comedy Weltgeltung zu verschaffen! Dem Heimatkrimi! Dem Erotik-Ratgeber! Ich weiß schon: Aber der Markt! Und ich weiß auch, dass besonders das Internet die niederen Instinkte fördert, weil man sich jeden noch so gemeinen Quatsch, jeden noch so blöden Porno anonym herunterholen kann.

Und da das Internet ein längeres Gedächtnis hat als wir alle zusammen, empfiehlt es mir ungefragt gleich die nächste Gemeinheit. Bis an mein Lebensende brauche ich nur zu klicken, damit mir die Wanderhuren nicht ausgehen. Das eskapistische Bedürfnis nach dem, was meines Erachtens zu Unrecht als Unterhaltungsliteratur gilt, wächst fast schneller noch als die digitalen Netze selber – und es würde mich nicht wundern, wenn beides ursächlich zusammenhängen würde. Obwohl wir wissen, dass „die Leistung der Computer merkwürdigerweise in geringerem Maße wächst als die Komplexität unseres Alltags“ (Dirk Baecker), scheint die Unheimlichkeit der digitalen Welt nach einer unterkomplexen Literatur zu rufen. Stimmt es, was der wunderbare Philosoph Hans Blumenberg in seiner Anthropologie gesagt hat: „Unsere ganze literarische Tradition beruht auf der Voraussetzung, dass der Mensch zeitweise auf seinen soliden Wirklichkeitsbezug verzichten, aus dem Ernst der Selbsterhaltungsanforderungen heraustreten kann“? Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann müssten doch goldene Zeiten für die Literatur anbrechen – denn das große Versprechen des Netzes lautet doch: Entlastung!

Je weniger wir uns mit Selbsterhaltung beschäftigen müssen, desto mehr haben wir Zeit für die wahrhaft schöne Literatur. Aber muss es nicht vielmehr heißen: Auch Literatur gehört zur Selbsterhaltung? Für mich ist sie ein Lebensmittel, ein Grundnahrungsmittel, und schlechte Literatur ist wie schlechtes Essen, also zu meiden. Da wir bislang bedauerlicherweise nur kurz auf der Welt sind, sollten wir also mit allen Mitteln darauf achten, nur gutes Essen und gute Literatur zu uns zu nehmen, das ist das oberste Gebot in einer Zeit, „die immer unübersichtlicher in Fahrt gerät und dabei althergebrachte Sitten und Unsitten gleichermaßen über den Haufen wirft.“ (Jordan Mejias, FAZ 12.3.2012)

Die großen Geister der europäischen Aufklärung, vor allem Kant und Fichte, haben vor zweihundertfünfzig Jahren den Begriff des geistigen Eigentums geprägt. Dieser Begriff ist in allen Verträgen – und Europa ist der Kontinent der Verträge – festgeschrieben, auf ihm beruht unsere Arbeit. In einer der letzten SPIEGEL-Ausgaben schreibt der Medien-Redakteur Stefan Niggemeier: „Die Rechteindustrie“ – und er nennt ausdrücklich neben der Filmverleihern und den Plattenfirmen auch die Verlage – „die Rechteindustrie tut so, als hätte sie ein gottgegebenes Recht, den Umgang mit ihren Werken vollständig zu kontrollieren .... Sie tut so, als wären ihre geschäftlichen Interessen identisch mit denen der Allgemeinheit. Und sie fordert, dass bei deren Durchsetzung keine Rücksicht auf andere genommen wird.“ Ich war sprachlos, als ich das las. Hatte nicht Kant dafür gesorgt, dass das Recht aus den Händen der Götter in die Hände der Menschen gelangt? Und welcher Autor, welcher Verlag und welcher Buchhändler tut nur so, als wären seine geschäftlichen Interessen identisch mit denen der Allgemeinheit? Sie waren es doch bis gestern! Wurden die deutschen Verlage nicht eben noch dafür gelobt, dass sie vom Gilgamesch-Epos bis zur zeitgenössischen Lyrik, von der Bibelexegese bis zum Diät-Ratgeber alles, aber auch wirklich alles vorrätig haben? Und alles zum halben Preis von einem Mittagessen? Ist der SPIEGEL der Ansicht, man solle für sein Abendessen im Restaurant nicht mehr bezahlen und auch den dort ausliegenden SPIEGEL gleich mitnehmen? Und im Auto des Restaurantbesitzers nach Hause fahren, weil es meinen geschäftlichen Interessen widerspricht, ein eigenes Auto zu kaufen? Stehen die geschäftlichen Interessen des Diebes über denen des Eigentümers? Warum, fragt der SPIEGEL, gibt es einen Preis für das, was wir machen? Und mit der ihm eigenen Naivität konstatiert der Autor: „Apple beweist, dass es sich auch lohnen kann, einen Kontrollverlust hinzunehmen.“ Ja, gewiss, ein monopolistisch auftretender Milliardär kann darüber hinwegsehen, wenn ihm Pfennige gestohlen werden. - Peanuts!

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich will Ihrer Diskussion während dieser Tagung nichts vorwegnehmen. Aber wahr ist, dass wir mitten in einem Prozess der Verflüssigung stehen, der die Grundlagen unserer Arbeit und unserer Existenz wegspülen wird, wenn wir nicht aufpassen. Wer der Ansicht ist, dass unser Beruf eine Bedeutung hat, muss jetzt dafür kämpfen. Glauben Sie mir, ich hätte die mir zugestandene Redezeit gerne darauf verwendet, mit Ihnen über die Frage, was Literatur kann, nachzudenken, warum sie immer noch mehr kann als alle Maschinen zusammen. Deshalb ein Zitat meines Freunds Durs Grünbein am Ende, mit Emphase vorgetragen: Die poetische Wirklichkeit ist eine andere als jene, die uns unterm Namen Realität immer neu verkauft werden soll. Sie ist zugleich flüchtiger und dauerhafter als diese. Sie legt sich nicht mit ihr an, warum auch? Sie sieht das Fadenscheinige jeder Realität, die menschlichen Konstruktionen dahinter und überwindet sie spielend mit Hilfe der Imagination. Sie erzieht den, in dem sie erwacht, zum permanenten Widerstand gegen den Fatalismus der Fakten und ist damit politischer als jede Politik. So ist die Unabhängigkeitserklärung der Poesie auch mehr als ein bloßer ästhetischer Akt. Sie verdeutlicht das Lebensprinzip, dem jeder Mensch, wie verstrickt und von den Umständen korrumpiert er auch immer sich durchwindet, in der Sehnsucht doch folgt, ob er nun schreibt oder nicht. Das Wagnis der Dichtung besteht nur darin, dass sie dies demonstrativ tut, für jeden nachprüfbar, der an der unvergesslichen Wendung, der Aussagekraft von Metapher und Gleichnis einen Halt zu finden sucht, während Zeit ihn davon reißt. Dichtung ist die Garantie dafür, dass es sich gelohnt hat, die Muttersprache zu erlernen. Wenn es ihr gelingt, findet sie hin und wieder das schlagende Bild, das auf der inneren Retina bleibt und einen lebenslang schützt und begleitet.“ (FAZ, 26. Mai 2012) - Diese Sätze sollten das Motto der Buchhändlertage sein. Ich jedenfalls habe ihnen nichts hinzuzufügen.

 

© mit freundlicher Genehmigung von Michael Krüger 

 

Michael Krüger (*1943), in Berlin aufgewachsen, absolvierte nach dem Abitur eine Lehre als Verlagsbuchhändler, nebenher war er Gasthörer in Philosophie an der Freien Universität Berlin, von 1962 bis 1965 Buchhändler in London, ab 1968 Verlagslektor beim Carl Hanser Verlag. 1986 wurde er literarischer Leiter des Verlages und ist seit 1995 dessen Geschäftsführer. 1976 erschien sein Erstling, der Gedichtband Reginapoly. Weitere Gedichtbände (Diderots Katze, Die Dronte u.a.) folgten. Seine erste Erzählung Was tun? erschien 1984, 1991 – ein Jahr nach seiner Novelle Das Ende des Romans – sein erster von bisher drei Romanen, Der Mann im Turm. Michael Krüger lebt in München und Berlin.

 

s. auch hier: Geistiges Eigentum; Spots 

 



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