LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

 

Michail Schischkin von Katja Schickel

11. Internationales Literaturfestival Berlin 2011

 

Der russische Erfolgsautor Michail Schischkin, der kürzlich im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (gemeinsam mit seinem kongenialen Übersetzer Andreas Tretner) den 1.Internationalen Literaturpreis für seinen fulminanten Roman Venushaar entgegen nahm, kokettierte nach der Lesung: Er sei Schriftsteller geworden, weil er sonst nichts Gescheites gelernt habe. Immer noch sei er Amateur, denn er könne nicht jedes Jahr ein Buch abliefern wie die Profis, höchstens alle fünf bis sieben Jahre. Der erste Schreibimpuls sei vielleicht von einer toten Katze ausgegangen, die unbeachtet am Wegrand lag. Seine Großmutter habe einen Spaten aus dem Schuppen geholt und sie vergraben. Und der kleine Michail fragte, ob er auch so enden würde. Die Antwort der Großmutter kann den Enkel nicht beruhigt haben, denn früh schon fing er an mit dem Schreiben, das, meinte er, könne gegen den Tod helfen. Er hat noch eine andere – nicht ganz unbekannte - Geschichte parat: Ein zu lebenslanger Einzelhaft Verurteilter schabt mit seinem Löffel ein Boot ins Gemäuer, und eines Tages stellen die Wärter fest, dass die Zelle leer und die Zeichnung ebenfalls verschwunden ist. Als Schriftsteller sei er wie der Häftling und sein Werk das Boot. Im Ozean der Zeit könnten die Worte unsterblich werden, er aber würde sterben wie die Katze aus seiner Kindheit. Gewiss ist nur, dass Schreiben ihn nicht vor dem Tod retten könne. Nur durch ihn erfahren wir aber, was Leben ist. Das gelte es schätzen zu lernen. Als Schriftsteller schaffe er sich seine Zeit, seinen Raum, ein Immer ohne Begrenzung.

Als Schischkin 1995 in die Schweiz kommt, will er zunächst Russisch unterrichten, aber es gibt mehr Russisch-Lehrer als interessierte Schüler. Also wird er „Dolmetsch“ in der Migrationsbehörde und übersetzt die Bitten der vielen so genannten Gesuchsteller (GS) um Asyl. Es geht ums Überleben, um ein anderes, besseres Leben. Ob die Geschichten frei erfunden sind oder selbst erlebt, spielt keine Rolle. Sie enthalten einen wahren Kern, ein Schicksal, das ein anderer Mensch erlitten haben kann. Oft genug geht es um eklatante Verletzungen der Menschenrechte, um Entwürdigung und Gewalt. Es gibt jedoch eine Quote, die nicht überzogen werden darf. In Betracht kommen sowieso nur Gesuchsteller, die das Prädikat „politisch“ erhalten. Das gelingt den wenigsten, selbst wenn sie beispielsweise Folterung glaubhaft versichern und zeigen können. Eine zertrümmerte Hand, ein fehlender Unterschenkel, Narben am Körper oder im Gesicht, ausgeschlagene Zähne oder ein zerstörtes Auge könnten sich die GS schließlich auch nachträglich selber zugefügt haben, die Vergewaltigungen, von denen Frauen stockend berichten, lassen sich im Nachhinein nicht überprüfen. Es ist ein unmenschliches System, ein Paradies-Verweigerungs-Moloch. Den realen wie den fiktiven Dolmetsch treiben diese täglichen Horrorszenarien, seine oktroyierte Hilf- und Tatenlosigkeit in Schlaflosigkeit und Depression. Er beginnt die Geschichten aufzuschreiben, er stellt Verbindungen zwischen Personen und ihren Erzählungen her. Er imaginiert die Orte, in denen sie lebten, erinnert sich an die Geschichte der Regionen, ist Protokollant und Archivar. Schicht um Schicht werden Ursachen und Wurzeln der bestehenden Konflikte, der kriegsähnlichen Zustände frei gelegt, die Profiteure und Verlierer genannt. Er erinnert überhaupt an die Verfolgungen und Gewalttaten des 20. Jahrhunderts, zeigt Menschen auf der Flucht, Redensarten und Sprüche wechseln mit historischen Begebenheiten und Anekdoten aus dem Leben bekannter Persönlichkeiten. Er taucht ein in die immer noch wirksamen Mythen und Legenden, referiert alte biblische Geschichten und klassisch-griechische Sagen, stellt Vergleiche her zwischen längst vergangenen Epochen, schreibt über seine eigene Kindheit und Jugend, über die Ehe mit einer Schweizerin.

Venushaar ist ein vielschichtiger Roman (nicht nur) über russische Verhältnisse, ausufernde und schier unerschöpfliche Assoziationsflut, mit einigem Furor erzählt. Die fiktiven Tagebucheinträge der russischen Chanson-Sängerin Izabella Juréva, die das gesamte 20. Jhdt. umspannen und wohl eine durchgehende weibliche Stimme etablieren sollten, sind allerdings ein wenig redundant geraten.

Wie heikel das Buch für manche wirklich ist, lässt sich an der Reaktion der Behörde ablesen: Kaum war es in Russland erschienen, bekam er keine Übersetzungsaufträge mehr. Schischkin bezeichnet den Vorgang als „stillschweigendes Berufsverbot“. Aber zurück würde er sowieso schon lange nicht mehr wollen. Er pendelt zwischen der Schweiz und Moskau, wo Venushaar erfolgreich für das Theater adaptiert wurde.

Bio-Bibliographisches: *1961 in Moskau. Studium an der romanisch-germanistischen Fakultät der Staatlichen Pädagogischen Hochschule in Moskau, Redakteur der Jugendzeitschrift Rovesnik (Ü: Der Altersgenosse), fünf Jahre Deutsch- und Englischlehrer an einer Moskauer Schule. 1995 Übersiedlung in die Schweiz, neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit Arbeit als Dolmetscher und Lehrer. 2003: literarisch-historischer Reiseführer Die russische Schweiz (dt. 2003).
1993: Erzählung Uroki kalligrafii (Ü: Die Kalligrafiestunde) in der Zeitschrift Znamja (Ü: Banner). Im selben Jahr erschien in Znamja auch sein erster Roman »Vsech ožidaet noč‘« (Ü: Die Nacht erwartet alle), Preis der Zeitschrift für das beste literarische Debüt. 1999: Vzjatie Izmaila(Ü: Die Eroberung von Ismail) und Venerin volos (2005, dt. Venushaar, 2011), das bereits in elf Sprachen üb ersetzt ist.

Venushaar, aus dem Russischen von Andreas Tretner, DVA Verlag, geb., 560 Seite

Seine Sätze: Die Welt ist ein Ganzes, eine Vielzahl kommunizierender Gefäße. Je ärger das Unglück der einen, desto entschiedener müssen die anderen auf ihrem Glück bestehen. Desto stärker müssen sie lieben. Damit die Welt im Gleichgewicht bleibt, damit sie nicht kentert wie ein Boot.




Tweet