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Zwischen Buchkultur, Marketing und Hype


  - Zur Dieter-Bohlenisierung des Buchmarkts -


von Michal Hvorecký 

 

 

Die zeitgenössische deutsche Literatur lese ich, seit ich im Jahre 1991 die Bibliothek im Bratislavaer Goethe-Institut entdeckt habe. Die riesige Ansammlung von alten und neuen Werken hat mir den Atem geraubt. Schon auf den ersten Blick war alles anders: die Gestaltung, die Umschläge, die Klappentexte, aber auch die Typographie und der Satz. Ich habe mir in der Bibliothek immer einen Stapel Bücher ausgeliehen und gleich in der Straßenbahn angefangen zu lesen.

Damals war ich fünfzehn. Jetzt bin ich zwanzig Jahre älter und bis heute ein begeisterter Leser. Die deutsche Buchkultur fasziniert mich umso mehr, je besser ich sie kenne, auch wenn man heute, typisch, eher von einem Buchmarkt spricht. Es hat gedauert, bis ich die Basis des deutschen Kanons durchgelesen hatte: Die Wahlverwandtschaften, Effi Briest, Buddenbrooks, Unterm Rad, Professor Unrat, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Der Prozess, Die Schlafwandler, Der
Vorleser, Die Wand, Die letzten Tage der Menschheit, Die Blechtrommel, Homo Faber, Malina. Aber auch Die Entdeckung der Langsamkeit, Schlafes Bruder, Die letzte Welt, Austerlitz, Das Parfüm, Faserland, Die Vermessung der Welt, Agnes, Der Turm oder Sommerhaus, später – aber es bleibt noch viel mehr zu entdecken. Mal eine grandiose Parabel von Schuld und Sühne, mal der Untergang der westlichen Welt, die Krise der europäischen Zivilisation, dann fantastische Studien oder postmoderne Ironie, aber immer glaubhaftes, suggestives, mitreißendes Erzählen und komplexes Leseerlebnis. Jeder Roman, jeder Erzählband oder jedes Gedicht verstärkte meine Überzeugung, dass die Literatur die wichtigste Sache auf der Welt ist. Die Texte spielten zwar in verschiedenen Ländern und Epochen, aber sie ließen sich allesamt als Bruchstücke einer einzigen deutschen Geschichte lesen – und diese konnte mich wahrlich nicht gleichgültig lassen, denn es war auch die Geschichte meines Landes und meiner Stadt und meiner aus verschiedenen Kulturen zusammengesetzten Identität. Die Bücher haben nicht nur meine Deutschkenntnisse deutlich verbessert, sondern auch meine Vorstellungskraft gestärkt, neue Welten gezeigt, mir unvergessliche Menschen vorgestellt, mein ganzes Leben grundsätzlich verändert – es waren die Geschichten, die ich gelesen habe, um weiter leben zu können. Der einzige Weg für einen Schriftsteller, wie ich diesen Beruf verstehe, hat sich seit der Aufklärung nicht geändert, und zwar – vollkommen rücksichtslos gegen sich selbst zu sein und sich der Geschichte, die man erzählen will, auszusetzen.
In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die deutsche Literatur, die Verlage und der ganze Buchmarkt radikal geändert. Die Literaturlandschaft wird für mich immer unüberschaubarer. Auf der einen Seite freue ich mich, dass der Siegeszug der gedruckten Literatur auch im Zeitalter des Internets und der sozialen Netzwerke kein Ende genommen hat. Auf der anderen Seite nervt mich die unglaubliche Menge von Neuerscheinungen, die Massenware in sagenhaft großen Auflagen, bei denen es überhaupt nicht um authentische Inhalte geht, sondern nur um Ratgeber, Erbauungs- oder Trivialliteratur, um Marketing, gute PR und viel Werbung, um immer exzessivere Darstellungen sensationeller Inhalte –
die Dieter-Bohlenisierung¹ des Buchmarkts.
Die moderne Schema-Literatur erinnert mich sehr an den
sozialistischen Realismus, den ich als Kind im Propagandaunterricht zur Genüge gelesen habe – heute verbreitet sich wieder die Vermittlung eindeutiger moralischer Ansichten und die Vortäuschung eines scheinbar klaren Weltbildes, nur um die Erwartungshaltung des Lesers sicher zu erfüllen. Mich stört nicht allzu sehr, dass so viel Schrott produziert wird, mich ärgert, dass sich die anspruchsvolle deutsche Literatur in ihrer ganzen Breite immer schwieriger durchsetzen kann und seltener die breitere Leserschaft erreicht.
Zum Beispiel gilt der erste Roman 
Söhne und Planeten von Clemens Setz aus dem Jahr 2007 schon als sehr alt und ist kaum in den Buchläden zu finden. Nur dank mehrerer bedeutender Literaturpreise werden das Buch und der Autor und seine radikale wie sprachlich kühne Prosa noch ab und zu erwähnt, doch eigentlich ist das Verlangen der Medien nach Neuigkeiten viel zu stark.
Noch viel schlimmer steht es um eines der wichtigsten politischen Sachbücher der letzten Jahre aus meiner Region: 
Aufmarsch – die rechte Gefahr aus Osteuropa von Gregor Mayer und Bernhard Odehnal. Der Verlag hat dem Buch eine Chance für die üblichen drei Monate gegeben und danach war Schluss. Selbst der Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch konnte kaum helfen.
Das Buch aus dem Jahr 2010 ist schon im Jahre 2012 vergriffen, als wäre es von 1981.
Oder
Peggy Mädler – ihr Debüt Legende vom Glück des Menschen, glänzende Prosa inspiriert von einem Bildband zum 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, wurde zwar von der Literaturkritik hoch gelobt, hat sich aber nicht besonders gut verkauft und wird wahrscheinlich nie als Taschenbuch erscheinen und bald kaum mehr zugänglich sein. Selten habe ich einen Text gelesen, in dem so viel Leben auch aus meiner Kindheit in der ČSSR präsent ist.
In einem Internet-Forum habe ich vor kurzem gelesen: „Mein größtes Problem bei zeitgenössischer Literatur ist, dass es kaum Torrents für deutschsprachige Bücher gibt.“ Könnte kollektives File-Sharing den AutorInnen wie Setz, Mayer und Bernhard Odehnal oder Mädler helfen? Egal ob in Deutschland oder in der Slowakei, das Hauptproblem vieler AutorInnen heutzutage ist, in der Masse der Neuerscheinungen aufzufallen. Man spricht von einer Ökonomie der Aufmerksamkeit und von der Akkumulation von Reputationskapital.
Vor ein paar Monaten habe ich herausgefunden, dass zwei meiner Hörbücher als mp3 und drei Romane im E-Book-Format bereits illegal im Netz zum Herunterladen stehen. Statt wütend meine „Rechte“ zu verteidigen, stellte ich einige meiner Werke kostenlos im Internet zur Verfügung. Ich wünsche mir, dass das
File-Sharing mit den Texten stattfindet. Die meisten Leser haben meine elektronischen Bücher als Lockmittel, nicht als Ersatz für die gedruckten betrachtet. Ich glaube nicht, dass das E-Book meine Arbeit im copyright-versessenen Literaturbetrieb ernsthaft gefährden oder meine gedruckten Bücher vom Buchmarkt komplett verdrängen könnte, und falls es doch so weit kommt, bin ich dann hoffentlich in einer besseren Ausgangsposition.
Ich schreibe in einem Land, in dem es kein einziges Literaturhaus gibt und wo die Lesungen nicht bezahlt werden – eine Arbeitssituation, die sich ein publizierter freier deutscher Schriftsteller, gewöhnt an den subventionierten Literaturbetrieb, kaum noch vorstellen kann. Aber das Schreiben ist nirgendwo auf der Welt leicht, und es gibt sehr viele Orte, wo es viel sc
hwieriger ist als in Bratislava.
Ich bleibe, leider, ein Einzelgänger aus meinem Land auf dem deutschen Buchmarkt. Ich schreibe Gutachten, schicke Links zu slowakischen AutorInnen, Verlagen, übersetze Besprechungen – ohne Erfolg. Man antwortet mir, so eine kleine Literatur kann man in Deutschland nur sehr schwer vermarkten, die Kosten sind zu hoch und der Erfolg ist in der Krisenzeit unsicher.
Das alles hat man mir auch über die Memoiren von
Žo Langerová, oder Jo Langer, gesagt. Langer erzählt in ihrem Buch Damals in Bratislava. Mein Leben mit Oskar L. die Lebensgeschichte einer in Budapest 1912 geborenen Jüdin aus einer bürgerlichen Unternehmerfamilie, die einen armen Juden aus Bratislava geheiratet hat. Oskar Langer, einer der Gründer der Slowakischen Kommunistischen Partei, organisierte den Widerstand gegen den Faschismus und musste mit seiner Frau vor den Nazis fliehen. Nach dem Krieg wollte er unbedingt aus den USA zurückkehren, um in der Tschechoslowakei die linke Utopie zu verwirklichen. 1951 wurde er von Stalinisten verhaftet und in einem Monsterprozess gegen „Landesverräter“ verurteilt. Es folgten zehn Jahre in Lagern, Knästen, Schikane, Folter und kurz nach der Freilassung der Tod. Es ist eine unvergessliche Geschichte des Untergangs der bürgerlichen mitteleuropäischen Welt, ein Buch über die Entfremdung des Intellektuellen in seiner Epoche. Langer war eine Dichterin der großen Vergeblichkeit, des Scheiterns und des Abschieds.
Kein deutscher Verlag wollte das Buch. Vor kurzem ist es unter dem Titel 
Convictions. My Life with a Good Communist auf Englisch bei Granta erschienen und wurde begeistert besprochen. Tom Stoppard bezeichnete es inzwischen als „classic“. Um dieses Buch doch noch auf dem deutschen Buchmarkt durchsetzen zu können, muss ich wahrscheinlich bei Dieter Bohlen anrufen
.

 

¹Dieter Bohlen: Musiker, Produzent, Sänger des Duos Modern Talking und Juror u.a. der Castingshow

Deutschland sucht den Superstar (RTL)


© Text: mit freundlicher Genehmigung von Michal Hvorecký; auch erschienen im Magazin des Goethe-Instituts - Foto: Stefan Laktis

 

Michal Hvorecký, geboren 1976, lebt als freier Autor in Bratislava. Er hat bisher drei Romane und drei Bände mit Erzählungen veröffentlicht. Auf Deutsch erschienen bisher ein Roman und zwei Erzählbände: u.a. City – Der unwahrscheinlichste aller Orte und Eskorta - und gerade sein neuer Roman Tod auf der Donau in der Übersetzung von Michael Stavarič bei Tropen/Klett-Cotta (s. Leseprobe). In zahlreichen deutschen Zeitungen und Magazinen wurden seine Essays und Geschichten veröffentlicht. Er gilt als der erfolgreichste slowakische Autor seiner Generation und wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet.

 

07/2012 

 

Leseprobe: Tod auf der Donau

 


Martin Roy mühte sich im dichten Rauch vorwärts, der von mehreren Nebelmaschinen im Gang verteilt wurde. Er trug einen silbernen Feuerschutzanzug und auf dem Kopf einen gelben Helm. Er sah keinen Schritt weit. Der Mund schien wie verschnürt. Voller Ungeduld und ganz im Sinne der Regeln kniete er nieder, tastete sich mit den Händen vorwärts und robbte sogar ein Stück weit. Diese neue Lage war zwar unbequem, allerdings auch sicherer. Auf Bodenhöhe gab es noch etwas Sauerstoff. Die Klimaanlage rauchte, was das Zeug hielt, und in der Hitze klebte ihm die Kleidung im Nacken. Aus den Boxen drangen Warnsignale und menschliche Stimmen.

Das Stroboskop simulierte eine Feuersbrunst. Der enge Raum wirkte noch kleiner, klaustrophobisch geradezu. Martin versuchte sich daran zu erinnern, wo sich die nächste Tür befand. Das Schiff schien nun viel größer zu sein, als er es in Erinnerung hatte. Der Gang nahm kein Ende. Er hatte Angst, er würde es nicht schaffen. In diesem unmöglichen Aufzug schwitze er wie ein Schwein. Er hatte längst zehn Kajüten passiert, eine ganze Menge Zeit verloren und die betreffende Person noch immer nicht entdeckt. Links, rechts, links, er legte alle Energie in die Bewegungen, und seine Lunge drohte dabei zu bersten. Die Haut brannte, er war verwirrt, nervös, und in seinem Kopf drehte sich alles. In seinem schmerzenden Fuß verspürte er einen Krampf, Schauer liefen seinen Rücken entlang.
Er musste ständig daran denken, dass eine unerbittliche Schiedsrichterin mit einer Stoppuhr an der Rezeption saß. Die Amerikaner werteten ständig die Reaktionen von alten und neuen Angestellten aus. Irgendwo hinter ihm stand einer der Laufburschen, jede seiner Bewegungen versuchte er mit der Kamera einzufangen und übertrug bestimmt alles live na
ch Chicago. All seine Bemühungen schienen erfolglos – für diese Arbeit war er einfach nicht geeignet! Er kam sich unbeholfen vor, eine typische Landratte eben.
Martin durchlebte seinen ersten »fire drill« in Lobith, inmitten der holländischen Docks: eine Übung, um die Reaktionen bei Schiffskatastrophen zu trainieren, bei Feuer, Wassereinbruch und Piratenangriff. Eine komplette Feuer- und Sicherheitsschulung sowie der Umgang mit Terrorangriffen, dies wurde nicht nur in der Nähe der somalischen Küste oder in ostasiatischen Gewässern eingefordert, nein, es galt in der gesamten Europäischen Union. Eine Gruppe Angestellter trainierte soeben gemeinsam die Verhaltensregeln für ein großflächiges Feuer. Das GPS hatte schon vor einer halben Stunde ein Warnsignal abgesetzt, das automatisch die Position des Schiffes übermittelte und Hilfe herbeirief. Die gespielte Rettungsaktion lief auf Hochtouren. Wertvolle Sekunden verstrichen, und Martin stand unter Zeitdruck. Die meisten seiner Schritte erfolgten gemäß dem Plan. Doch irgendwo steckte noch eine Person, ohne die man die Evakuierung nicht abschließen konnte. Die Verantwortung oblag ihm. Es stand zu befürchten, dass sich, sofern er die Übung nicht in den nächsten beiden Minuten abschließen konnte, der gesamte Raum hermetisch verschließen und kein Hahn mehr nach ihm krähen würde. Er würde nicht mehr nach draußen gelangen können und auch kein anderer, der hier mit ihm – und ohne es verschuldet zu haben – hinter der Barriere zurückbleiben müsste.
Schnell aufzugeben würde allemal Schande bedeuten. Es hatte ihn beträchtliche Mühen und Geld gekostet, bis zu dieser abschließenden Prüfung zu gelangen. Und eigentlich hatte er gar keine Lust, jetzt schon abzureisen – in diesem Fall würde man ihm nicht einmal Flugticket und Spesen erstatten. Er wollte um jeden Preis das Ziel erreichen. Er tastete sich mit den Fingern die Tapeten entlang, fand einen Metallrahmen und eine Klinke. Er drückte sie und stolperte in die Kajüte. Mit Hilfe der Taschenlampe konnte er in der Dunkelheit einige Gegenstände ausmachen. Der winzige Raum hatte eine weiß gestrichene Decke, und an der Wand befand sich ein Klappbett. Er richtete sich auf und eilte zum Bett, enttäuscht musste er feststellen, dass es leer war. Eigentlich legte man die Puppen
und Büsten sonst hier ab. Er musste husten, all der beißende Rauch, der bis zum Boden reichte. Auf einem Tischchen befanden sich eine Tastatur und darüber ein Monitor.
Eine winzige Tür führte ins Bad. Er öffnete diese, und auf einer Miniaturanrichte unter dem Spiegel erkannte er eine Seife, Duschgel und ein verpacktes Shampoo. Keiner da. Er schob den Duschvorhang zur Seite. Ein entscheidender Moment. Endlich! Martin leuchtete tatsächlich einem jungen Mädchen direkt ins Gesicht – eigentlich sollte sie eine Ohnmacht vortäuschen, doch stattdessen grinste sie breit.
»Autsch, schalt das ab, du machst mich ja blind!«, rief sie. »Bist du o.k.? Kannst du atmen? Ich nehm dich auf meine Schultern und dann los. Ich muss dich evakuieren! Brauchst du Erste Hilfe?«, sprach Martin die eingeübten Sätze.
Er erinnerte sich an einige Fakten, die sie ihm in den letzten sieben Tagen eingetrichtert hatten. Von morgens bis abends lief er die drei Decks auf und ab, er hörte zu, er antwortete, keinen Moment lang konnte er ausruhen. Er übte, blitzschnell die Rettungsweste anzuziehen, die Signalpistole zu bedienen, mit dem Rettungsboot herumzupaddeln und um jede Sekunde zu kämpfen. Sie trichterten ihm die Firmenphilosophie ein: Verlier niemals die Selbstbeherrschung. Höflich bleiben unter allen Umständen. Ein Problem ist eine Herausforderung. Das Leben ist ein Schiff und eine Karriere das Ziel. Die ADC ist unser ABC. Die anderen Anwärter blickten so aufmerksam drein, als ob sie vorhätten, jedes Wort auswendig zu lernen. Er musste so lange vor einem Spiegel sein »kommerzielles Lächeln« üben, bis ihm das ganze Gesicht wehtat. Zwei Vormittage lang wurde er sogar im Selbstverteidigungstraining auseinander genommen, mit der »Krav Maga«-Kampftechnik sollte er künftig für alle Krisensituationen gewappnet sein. Beim Firmenseminar konnte er sich der Macht der Gruppe kaum entziehen, für Martin war es allerdings noch wesentlich anstrengender, dass ein jeder dieser Abende mit einem Besäufnis endete.
Im Jahre 1991 war bei Hainburg ein Motorboot der österreichischen Zollbehörde mit einem russischen Schiff havariert – drei Tote. Im Jahre 1996 sank in der Nähe des Hochspannungswerks Freudenau der slowakische Schlepper Dumbier – acht der neun Besatzungsmitglieder starben. Im Sommer 2004 prallte ein deutsches Ausflugsschiff gegen den Pfeiler der Wiener Reichsbrücke, 19
Personen wurden dabei verletzt. Im Dezember 2005 sank nach einem Feuer in der Nähe der rumänischen Stadt Braile ein Schubschlepper. Alle elf Besatzungsmitglieder ertranken. Am 21. August 2009 brannte ein deutsches Schiff mit einhundertfünfzig Passagieren an Bord vollends nieder, zum Glück starb nur eine Person. Diese und weitere Katastrophen, die entlang der Donau passiert waren, musste er auswendig kennen, wo und wann und vor allem warum sie passiert waren und wie man sie künftig vermeiden könnte. Abschließend war Martin einer strengen Prüfung all dessen unterzogen worden. Bei der theoretischen Prüfung war er erfolgreich gewesen. Nunmehr musste er die praktische abschließen.
»Jetzt übertreib mal nicht! Wo warst du so lange? Mir war schon langweilig …«, lachte das Mädchen.
»Was? Red nicht blöd rum und komm! Wir müssen uns beeilen«, sagte er.
»Also bitte, ich mache das schon zum dritten Mal. Es reicht, das Ergebnis bekanntzugeben und fertig. Sie werben uns bei der Schauspielschule in Amsterdam an. Zahlen recht gut, nur schade, dass der Dollar so gesunken ist …«, antwortete sie und schaltete ihr Funkgerät an: »Er hat mich gefunden. Macht den Lärm aus. Ich bin schon völlig fertig davon, und dieser Gestank bringt mich noch um. Der Neue ist ziemlich geschickt. Ein bisschen gedauert hat es zwar, doch er hat auf jeden Fall Talent.«
»Das ist alles? Muss ich dich nicht tragen? Bist du sicher?«, wollte Martin wissen. Er fühlte, das Ziel war zum Greifen nahe.
»Hey. Du kannst meine Hand nehmen, mich zum Bett führen und mir bisschen Mund-zu-Mund-Beatmung beibringen«, antwortete sie und streckte ihre Hand aus. »Aber hör vor allem auf, mir in die Augen zu leuchten!«
Martin rang nach Luft. Er machte die Taschenlampe aus und betrachtete sie genauer: eine junge Schauspielerin mit auffällig schwarzen Augen, roten Wangen und spitzen Lippen. Die Haare klebten an ihrer Stirn. Sie streckte sich ein wenig in ihrer überaus unbequemen Position. Unter ihrem T-Shirt zeichneten sich volle Brüste ab. Ein bisschen zögerte er, er half ihr auf und küsste sie kurz auf die Wange.

»Du spielst recht gut«, antwortete er. »Du solltest dich lieber im Theater engagieren lassen. Ciao!«
Um zwei Uhr fand im Salon das Abschlussmeeting statt, die feierliche Beendigung des Trainings gewissermaßen. Martin wurde kurz vom Teamleiter vorgestellt und danach gefragt, ob er Herausforderungen liebe. Ganz klar, dass er dies nicht wahrheitsgemäß beantworten durfte.
»Jawohl, sehr«, sagte er.
Die ersten zwei eigenständigen Worte, die er in seiner neuen Berufung von sich gab. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nur genickt und wiederholt, was ihm aufgetragen wurde.
»Dann erlaube mir, dich hiermit feierlich zum Direktor zu ernennen. Ich wünsche dir in deiner neuen Funktion viel Erfolg, zum Wohle der gesamten Firma American Danube Cruises!«, rief der Teamleiter.
Martin stierte ihn ungläubig an und bekam ein Dokument mit vielen goldenen Lettern überreicht. In diesem Moment war aus ihm ganz offiziell ein Cruise Director geworden, ein Schiffsleiter. Er bildete sich darauf nicht sonderlich viel ein, denn er erfuhr schon bald, dass es zahlreiche Titulierungen und Auszeichnungen bei untergeordneten Posten gab, damit ging man durchaus inflationär um. Die Direktoren waren bei der ADC so zahlreich wie das Unkraut am Zaun. In der Firma hieß sogar ein Zimmermädchen »Chairwoman of Housekeeping«, ein Matrose wiederum »Chief Nautical Officer« und der allerletzte Maschinist »General Engineer Commander«.
Auf der Abschlussparty floss der Whisky in Strömen, alles auf Kosten von Chicago. Martin lernte seine Kollegen kennen: die drei Offiziere, die Rezeptionistin, die Köche, Matrosen und das Reinigungspersonal. Die Besatzung der MS America flanierte vor seinen Augen auf und ab. Er hielt sich mit dem Alkohol zurück, doch die anderen verhielten sich ganz anders, sie taumelten heiter und trunken herum – oder spielten sie das nur? Irgendwas schien nicht zu stimmen.
Abgesehen davon irritierte ihn ein kleiner Altar, der sich an der Wand befand – dem jüngsten O’Connor war dieser gewidmet, dem Erben der ADC. Am Mittwoch hatte sich der junge Mann sogar mittels Videoübertragung aus Chicago zugeschaltet, im Rahmen einer Marketingschulung. Seine Ansprache lobte alle in höchsten Tönen, doch Martin stach vielmehr der Maßanzug ins Auge. Einen noch viel größeren Wert musste jedoch das breite goldene Armband haben, das Martin an dem Mann erkennen konnte, er trug es an seinem linken Handgelenk. Nach jeder dummen Bemerkung des Eigentümers waren im Raum ein beipflichtendes Raunen und Applaus zu
vernehmen. Selbst auf dem Gang, wo die Angestellten an seinem Foto vorbeigingen, schienen alle noch von ihm eingenommen zu sein. Irgendwer erwähnte, dass er O’Connor letztes Jahr in Brasilien die Hand reichen durfte, und alle anderen gratulierten ihm daraufhin. Kurz vor Mitternacht wurde Martin Roy schließlich dem Kapitän vorgestellt – dieser hieß Atanasiu Prunea.
»Was würde denn passieren, wenn das alles wirklich passiert?«, wollte er wissen.
»Ich verstehe nicht. Was meinst du?«, antwortete der Kapitän mit schwerer Zunge.
Martin war noch nie einem seltsameren Menschen begegnet. Vom ersten Tag an hatte er das Gefühl, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte. Kein Besatzungsmitglied vermochte es, eine solch vollkommene Illusion von langen und erfolgreichen Schiffsreisen zu erwecken wie Atanasiu. Er arbeitete schon seit fünfundzwanzig Jahren auf Schiffen, sowohl im Mittelmeer als auch auf allen Ozeanen. Er erweckte den Eindruck eines melancholischen Riesen, um seine Augen zogen sich viele Fältchen, und die Wangen waren von Wind und Sonne, von allen geographischen Breiten und der unerbittlichen Zeit gezeichnet. Er verfügte über keinerlei Bildung, auch über keine außerordentliche Intelligenz – wie hatte er diese Position dann erlangen können? Vielleicht lag es an seiner Geduld und seiner Gesundheit. Er hatte zwei Jahre lang, ohne auch nur einmal Urlaub oder Krankenstand zu nehmen, seinen Dienst versehen. Eine solche Einstellung schätzte die ADC natürlich. Die Firmenvorschriften hielt er penibelst ein, als wären sie die einer Sekte. Was seine Dienstauffassung anlangte, so konnte sich keiner mit ihm messen. Er hatte als Matrose begonnen und sich bis zum allerhöchsten Rang gedient. Mit dieser Verbissenheit gelangte er im Laufe seines Lebens von kleinerem zu immer größerem Reichtum.
»Irgendein Unglück … Feuer … Wasser … was weiß ich – all das, was wir trainiert haben«, erklärte Martin.
Kaum hatte er dies ausgesprochen, musterte ihn der Kapitän misstrauisch.

»Jetzt pass mal auf, daran solltest du gar nicht denken und schon gar nicht an einem solchen Ort. Menschen sind vertrauensselig auf Schiffen, und über manche Dinge spricht man einfach nicht … Das solltest du gleich mal verinnerlichen, sonst wird dich die Crew nicht akzeptieren. Alles klar, Junge? Verstehst du mich? Wie heißt du überhaupt?«
Martin stellte sich noch einmal vor.
»Für einen Kapitän ist es eine Sünde, wenn auch nur die Unterseite des Schiffes, das er befehligt, irgendwo leicht am Grund schrammt. Die Firma würde es wohl nie erfahren, doch der Mensch wird das nicht mehr los, er trägt es für immer mit sich, es ist wie ein Stich mitten ins Herz. Es reicht eine Berührung mit dem Boden oder auch nur ein leichtes Kratzen am Blech, und das gesamte Schiff wird bis ins Mark erschüttert. Ich weiß, wovon ich spreche, ich habe das schon erlebt und erinnere mich daran, manchmal träume ich sogar davon, werde wach und denke darüber nach, ich gehe noch mal alles durch. Du weißt also gar nichts von Schiffen?«
»Nein, bislang nicht, aber ich will es lernen. Ich habe eigentlich schon damit begonnen. Über die Donau habe ich alles gelesen, was man auftreiben kann.«
»Das glaubst du nur. Trau den Büchern nicht! Bestimmt denkst du dir, wie belesen du bist. Das kannst du aber alles vergessen. Du wirst von neuem anfangen müssen. Doch ich würde zu gerne wissen, warum so einer wie du auf ein Schiff will? Du wirkst nicht wie die üblichen Kandidaten. Es ist alles ein wenig verdächtig, dein Interesse – nicht? Ich hoffe nicht, dass du von der Polizei gesucht wirst. Hast du was gestohlen? Mit Drogen gedealt? Bist du süchtig? Rück nur raus damit!«
Martin protestierte.
»Verzeih, dass ich so hartnäckig bin. Doch wenn ich mich irre, könnte dies schwerwiegende Folgen haben. Nicht nur für dich, sondern für das gesamte Schiff.«
»Ich sage die Wahrheit«, antwortete Martin.
Die Festigkeit und Stärke in Atanasius Stimme schüchterte ihn ein, wo er doch noch vor wenigen Augenblicken der Meinung gewesen war, dieser könne sich kaum artikulieren.
»Und Sie …? Haben Sie eine Ehefrau? Oder Familie?«
»Seeleute haben keine Ehefrauen, eher noch Witwen. Kinder habe ich, zum Glück, nicht, zumindest weiß ich nichts davon. Und Frauen findest du in jedem Hafen, wenn dich das interessiert.«
»Warum sind Sie auf der Donau unterwegs?«
»Um Geld zu verdienen, das ist doch klar. Was denkst du denn? Bist du dir wirklich sicher, dass du auf das Schiff willst?«
»Ganz sicher!«

»Also gut, es gilt. Hier hast du, trink aus. Prost! Und von jetzt an per Du!«, schlug der Kapitän vor und reichte ihm ein bis zum Rand gefülltes Glas. Martin trank es auf ex und hatte dabei das Gefühl, dass er alles, was er in dieser Woche an Sicherheitsvorkehrungen gelernt hatte, eben jetzt wieder vergaß.

1. Teil 
»Ab und zu scheint es mir so, dass auf der Donau die Schiffe voller Wahnsinniger ins Unbekannte fahren.« Umberto Eco: Der Name der Rose

»Als ich ins Donauwasser tauchte, spürte ich die Kraft des Stroms und hörte ganz auf dem Grund ein ganz stilles Zischen: die Steinchen und umgeschütteter Sand haben gesungen. Der Klang schwamm zusammen mit mir, immer schneller und rauschhafter, und ich wusste, dass, wenn ich wieder aus dem Fluss rauskomme, ich auf dem anderen Ufer die Stadt sehen werde, weit und strahlend im Sonnenschein.« Pavel Vilikovský: Mein Bratislava

»Die Stadt Pressburg gehörte nicht uns und gehörte genauso wenig den Ungarn. Es ist eine deutsche Stadt. Aber wir haben das Recht drauf, weil der Boden slowakisch ist. Wir brauchen unbedingt die Donau.« Tomáš Garrigue Masaryk, Präsident der Tschechoslowakei, im Dezember 1918

1. QUELLEN
     

Schon in der allerersten Nacht auf Reisen hatte er von der Donau geträumt. Das deutsche Städtchen Donaueschingen hatte er einmal besucht. Der Strom entspringt dort als dünnes Rinnsal im Schlosspark der Fürstenbergs, in einem Behältnis aus weißem Marmor, das einer Wiege ähnelt, umsäumt von allerlei Statuen. Das Wasser sprudelt aus einem der Westhänge des Schwarzwalds, stammt zugleich jedoch auch aus den Tiefen der europäischen Geschichte. Der Strom setzt sich aus den Zuflüssen der Bäche Brigach und Breg zusammen und ist an dieser Stelle tatsächlich blau. 

Der Legende nach hatten die erschöpften römischen Soldaten keine Lust mehr gehabt, sich durch finstere Wälder bis zur echten Quelle vorzuarbeiten, die in der Antike ein ähnliches Geheimnis umgeben hatte wie den Ursprung des Nil; kurzum, sie entschieden schließlich, besagten Ort als Quelle festzulegen.Die Donau begibt sich von da an in Richtung Osten, durch die Schwäbische Alb, durch allerlei poröses Gestein in den Hügeln, um dann plötzlich in Immendingen im Untergrund zu verschwinden und erst zwölf Kilometer weiter entfernt wieder aufzutauchen.
In seinem Traum goss Martin Unmengen von Beton in die Quelle und drängte das Wasser in sein unterirdisches Becken zurück. Doch die Donau gab nicht auf, immer wieder durchstieß sie die Ummantelung. Er schüttete noch mehr Beton nach. Doch das Wasser fand immer wieder einen Fluchtweg, es blubberte in wiederkehrenden Geysiren auf, warf Steine hoch und zog Furchen und Gräben, bis es ihn selbst wegschwemmte. Er wälzte sich im Bett herum, verbarg sich unter der Decke und erwachte.
Entschlossen öffnete er die Augen, stand auf und beeilte sich. Eine schnelle Dusche, anziehen und ohne Frühstück zum Taxi. Er holte die Passagiere am Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München ab. In der Ankunftshalle sperrte er das angemietete Sicherheitsfach der Firma auf. Er zog ein paar Plakate aus festem Karton und einige Holzplatten hervor und baute sich an dem ihm zugewiesenen Platz ein kleines Empfangspult mit dem Logo des Reiseveranstalters American Danube Cruises a
uf, der lokalen Tochter der »American Global Cruises«. Auf den Bildern waren digital verjüngte Pensionisten zu sehen, und die Donau floss majestätisch durch Budapest, das voller glücklicher alter Menschen war. Die Gesichter auf den Plakaten wirkten ungefähr so natürlich und ungarisch wie ein Bison inmitten des Café Gerbeaud.
Von der Firma ADC war hier so manches bekannt, Gutes und recht Schlimmes. Fest stand, dass sie auf der Donau neun Schiffe besaß und während des gesamten Flussverlaufs die Luxusklasse dominierte. Die Muttergesellschaft operierte auf fünf Kontinenten, ihre Zielgruppe waren Pensionisten, und sie beförderte jährlich mehr als zweihunderttausend Passagiere. Sie gehörte einer bekannten Kaufmannsdynastie aus Chicago, der Familie O’Connor, und war zu einer globalen Aktiengesellschaft angewachsen, sie erwirtschaftete aus den Flüssen ein niemals versiegendes Meer an Geld. Die Verwaltung füllte einen ganzen Wolkenkratzer, doch lehnte die Führung alljährlich kategorisch ab, auch nur eine zusätzliche Arbeitskraft aufs Schiff zu holen. Die Familie O’Connor kannten in Europa alle Mitarbeiter von Schifffahrtsbetrieben und natürlich auch alle Kapitäne, doch noch weitaus massiver war die Firma in China, Australien, Ägypten und in den USA präsent.
Anfang August, um sieben Uhr morgens, lag noch ein ziemlich langer Arbeitstag vor Martin Roy. Zum Gästeempfang trug er eine helle Leinenhose und ein dezentes, kurzärmliges Hemd. Das Namensschild, versehen mit dem Logo des ADC, alles golden umrahmt, konnte er nicht ausstehen, doch es war Pflicht, dieses anzustecken. Die Firmenvorschriften legten ganz genau fest, welche Kleidung in welcher Arbeitssituation zu tragen war, die jeweiligen Stücke mussten sich die Mitarbeiter allerdings selbst besorgen.
Um Kosten zu sparen, orderte die Firma die billigsten Flugtickets, und so kam es regelmäßig zu Verspätungen und Gepäckstückverlusten. Die Touristen stammten zumeist aus den USA. Manche von ihnen mussten bei ihrer Anreise drei bis viermal umsteigen.
Am Flughafen war es laut. In der Nacht waren plötzlich die Rechner ausgefallen, was die Arbeit des Towers wesentlich verlangsamte, das verursachte Verspätungen bei vielen nachfolgenden Verbindungen. Sogar jene Reisenden, die unter normalen Umständen nicht zu nervösen Reaktionen neigten, verloren allmählich ihre Fassung. Sie fächerten sich mit Tickets und Zeitungen etwas Luft zu. Martin versuchte zu lesen, um die Zeit irgendwie zu nützen, doch er konnte sich in dem Chaos
schlecht konzentrieren. Zudem musste er die automatische Tür im Auge behalten, ob nicht irgendwo hinten bei der Gepäckausgabe schon seine Leute zu erkennen waren. Regelmäßig sah er auf die digitale Anzeigetafel. Ihr zu Folge sollten diejenigen, die am Flughafen Heathrow in London umgestiegen waren, jeden Augenblick eintreffen.
Den ersten Tag mit neuen Reisenden erachtete er als einen »Schlüsselmoment«. Martin wurde an einem solchen Morgen als sein eigener Zwilling wiedergeboren. Diesen »schauspielerischen Kunstgriff«, hatte er in den letzten drei Jahren – mit Hilfe der Firma – nahezu perfektioniert.
Das Ganze begann damit, dass er sein kommerzielles Lächeln aufsetzte. Danach veränderte sich seine Stimmlage, der nervöse Gesichtsausdruck wich vollkommener Gelassenheit, selbst seine fahrigen Gesten verschwanden, alles wurde von Klarheit und Genauigkeit überschrieben, er hatte das in diversen Kursen erlernt. Er wurde zu einem anderen Menschen, liebte nunmehr Sport und Melodic Rock. Und er schwärmte in breitem Amerikanisch von seiner fiktiven Verlobten und seinen Eltern. Er verwendete plötzlich nur noch die Maßeinheiten Fuß und Meile, das Erdöl wurde in Barrel bemessen, das Gewicht in Pfund und die Temperatur in Fahrenheit.
In den großen Schiebetüren tauchten die ersten Touristen auf. Er hätte sie sofort erkannt, auch wenn sie nicht – wie man es ihnen bereits zu Hause empfohlen hatte – Namenskärtchen mit dem Logo des Reiseveranstalters um den Hals getragen hätten. Die Pensionisten in Zweierreihen konnten ihre amerikanische Herkunft nicht verbergen, manche bemühten sich darum, europäischer zu wirken oder zumindest so, wie sie sich »Europäertum« vorstellten. Die Greise und Greisinnen hielten sich verkrampft an den bis obenhin mit Gepäckstücken beladenen Wägelchen fest.
Das erste Männlein, das bei Martin vorstellig wurde, ein New Yorker namens Erwin Goldstucker, hatte ein zerfurchtes Gesicht und am Kopf einige verbliebene Haarbüschel. Er war so gealtert, dass er beinahe verschwunden wäre, doch irgendetwas ließ ihn weiterhin existieren. Beim Gehen stützte er sich auf einem weißen Blindenstock ab.
»Guten Tag! Ich darf Sie im Namen des Reiseveranstalters American Danube Cruises sehr herzlich in Ihrem Urlaub willkommen heißen, der, davon bin ich überzeugt, der schönste Ihres Lebens sein wird. Mein Namen ist Martin Roy, und ich bin für Ihre Reiseorganisation verantwortlich. Wir danken Ihnen, dass sie sich für uns als Reiseveranstalter entschieden haben. Ich bitte Sie auch gleich um etwas Geduld, bis genug Leute beisammen sind, um im Autobus Platz zu nehmen, Ihr
e ganze Gruppe wird dann unverzüglich an Bord gebracht!«
Ein weiterer Mann, Jeffrey Rose, kam aus Michigan, und abgesehen von einem Kranz aus festem, mausgrauem Haar war er in der Mitte seines Schädels völlig kahl. Seine Augen tränten, und sein Gesicht hatte im Flughafenlicht die Schattierung eines Leichnams angenommen. Die lethargischen Bewegungen ließen jedwede Kraft vermissen.
»Sind wir schon in Europa?«, wollte Jeffrey wissen. »Ganz genau, Mister Rose, Sie sind in München, in Bayern gelandet«, antwortete Martin.
»Gott sei Dank«, entgegnete Jeffrey. »Und nenn mich Jeff. So wie bei den anonymen Alkoholikern.«
»Klar, Jeff.«
Jeffs Ehefrau Ashley musste einst eine Schönheit gewesen sein, doch heute war sie verschrumpelt und voller Falten.
»Darf ich was fragen, wird auf diesem Schiff getrunken?«, fragte Ashley.
»Meinen Sie Alkohol? Ja, der wird serviert«, antwortete Martin.
»Das dachte ich mir schon. Wir werden auf unsere Männer achtgeben müssen.«
»Wir werden Ihnen gern dabei helfen. Mit Alkoholikern haben wir an Bord reichlich Erfahrung«, flüsterte er zurück.
Martin wiederholte seine Begrüßungsformel, und weitere Touristen stürmten ihm entgegen. Diese anstrengende und ermüdende Arbeit erwartete ihn den ganzen Tag. Die Passagiere kamen todmüde an, sie waren hungrig, durstig, sie mussten dringend auf Toiletten, Medikamente einnehmen … Vor allem jedoch hatten sie panische Angst vor fast allem: dem Wetter, dem Euro, Taschendieben, den Unannehmlichkeiten der Zeitverschiebung …
Im Alter lässt alles langsam nach. Die Haut bekennt sich zu ihren Unregelmäßigkeiten, die Knorpel verlieren an Kraft, und die Knochen reiben gefährlich aneinander. Zudem waren diese Menschen gern auf längeren Urlauben, viele Jahre lang, Aufenthalte auf Schiffen, Autobusfahrten,
Stadtbesichtigungen und längere Märsche, all das hätte selbst bei Jüngeren Spuren hinterlassen. Als ob der nahende Tod die Amerikaner dazu verleiten würde, sich in Mitteleuropa all das anzuschauen, was sie bislang noch nicht gesehen hatten. Auf dem Schiff hatten sich 120 einquartiert, wobei ein jeder von ihnen für die zweiundzwanzigtägige Reise von Regensburg bis zum Donaudelta in Rumänien mehr als 8000 Dollar zu berappen hatte.
Wer sich danach sehnt, europäische Flüsse in der Luxusklasse zu bereisen, benötigt eine Menge Geld und erwartet dafür auch entsprechende Dienstleistungen. Diese Menschen haben schon alles auf ihren Urlauben erlebt: Strände auf künstlichen Inseln im Stillen Ozean, Schlafstätten in Hotelanlagen am Meeresgrund oder Skiabenteuer auf verborgenen Pisten inmitten der arabischen Wüste. Die Amerikaner gönnen sich erst im hohen Alter so richtig Urlaub, bis dahin arbeiten sie sehr hart. Während die Europäer nur noch apathisch auf den Tod warten, umringt von Pflegekräften und bei den eigenen Kindern und Nachbarn verhasst.
Das Durchschnittsalter der Passagiere hat die Firma mit 73 berechnet. Es tauchen allerdings auch regelmäßig Neunzigjährige auf. Auf seiner ersten Fahrt hatte Martin eine hundertjährige Greisin aus New Jersey in seiner Gruppe, die während der Reise verstarb … sie hatte noch versucht, irgendwie den Hauptplatz von Linz zu erreichen.
Die Gesellschaft ADC war versucht, jeden aufs Schiff zu bekommen, der Geld übrig hatte, um die Konkurrenten auszubremsen. Sie hatten es dabei auf einen genau definierten Kunden abgesehen, sowohl was die Nationalität als auch dessen Geschmack betraf: Es sollte ein Mensch sein, der an Bord lieber romantische Bücher von Rosamund Pilcher oder Thriller von Tom Clancy oder Robert Ludlum las, als zu saufen und zu feiern. Er folgte dem Reiseführer, buchte die meisten zusätzlichen Ausflüge und kaufte selig all die überteuerten Souvenirs ein, ein Bildchen von Mozart oder zumindest eines von Josip Tito.
Vor der Wirtschaftskrise waren die Donauschiffe von ADC stets ausverkauft gewesen, besonders im Sommer, und ein jeder Ausfall konnte mit dutzenden Nachrückern kompensiert werden, die auf ein günstigeres Angebot in letzter Minute hofften. Die Firma fand alles über ihre Kundschaft heraus. Der durchschnittliche Reisende männlichen Geschlechts wog 130 Kilogramm, die Frau circa zehn weniger. Sobald sie eine Kreditkarte benutzten, verteuerte sich ihre Reise um ein Drittel.
Sobald sie einen Enkel mitnahmen um die Hälfte. Man wusste, was sie zwei Tage vor der Abfahrt im Supermarkt eingekauft hatten und wie viel das gekostet hatte, wie es um ihre familiären Bindungen stand, ob der Sohn ein Falschspieler und seine Braut arbeitslos war, welche Webseiten sie aufsuchen, wie viele Kartoffelchips sie beim Fernsehen zu sich nahmen und so weiter.
»Hey, du, bring uns zum Schiff! Worauf warten wir noch? Wir werden uns beschweren! Ich verbitte mir das!« Peggy, eine der Mitreisenden, bekam einen Wutanfall, ein neurotisches Monstrum, das die Augen weit aufriss, die so eine furchteinflößende Größe anzunehmen schienen.
»Ja doch, wir wollten was zu essen! Was soll das bedeuten? Wofür haben wir bezahlt? Dass wir hier auf dem Flughafen herumhängen?« Andere schlossen sich an.
»Ich bitte Sie noch um ein wenig Geduld, meine sehr verehrten Reisenden. Sobald sich vierzig von Ihnen eingefunden haben, geht es sofort los!«, antwortete Martin.
Er begrüßte weitere Neuankömmlinge, navigierte sie zu Toiletten oder Wechselstuben, verteilte Halbliterflaschen mit Mineralwasser und beschwichtigte die größten Unruhestifter. Auf den Bänken gab es bereits keine Sitzplätze mehr.
Minuten des Wartens verronnen, bald war eine erste Stunde um. Das war der größte Trost, an den Martin während der gesamten Reise dachte. Die Zeit bleibt nicht stehen. Er zählte gerade den vierzigsten Passagier ab und nahm sich nunmehr der nächsten, nicht gerade leichten Aufgabe an:
»Unweit von hier erwartet Sie der Autobus.«
Die Halle füllte sich mit höhnischem Applaus.
»Hurra, endlich Urlaub! Let’s go! Gehen wir!«
»Wie weit ist es? Wir wollen nicht zu Fuß gehen!«, brüllte das Ungetüm Peggy.
»Es ist ganz nah. Wir sind in drei Minuten dort.«
»Wer trägt mein Gepäck?« »Ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit, das hier ist ganz wichtig: Für seine Koffer ist jeder selbst verantwortlich. Vergessen Sie deshalb nichts. Ein jeder nimmt seine Taschen! Wir bewegen uns jetzt gemeinsam zum Autobus. Wiederholen wir …«
Er blieb ruhig, weil er ganz genau wusste, dass es immer so ablief: Er würde ganz lang
sam sprechen, sich deutlich artikulieren und unendlich oft mit stoischer Ruhe jeden Satz wiederholen – ein Sisyphos der Tourismusindustrie. Wie der mythologische Held gab auch er nicht auf und zum hundertsten, wenn nicht zum tausendsten Mal fügte er sich in die Erfüllung seiner Aufgaben. Er ging los, über seinem Kopf hielt er ein buntes Signalfähnchen, und die Gruppe in seinem Rücken setzte sich langsam in Bewegung. Für die hundert Meter zum Parkplatz brauchten sie eine Ewigkeit.
Sie trugen breite Trainingshosen und durchgeschwitzte T-Shirts. Für die Reise hatten sie große, weiße Sportschuhe mit einer groben Sohle an oder leichte Sommerschlüpfer. Den Männern wuchs aufgrund ihrer Fettleibigkeit am Brustkorb ein mächtiger Busen, und an den Bäuchen hatten sie riesige Falten. Ein jeder trug zudem einen Fotoapparat um den Hals. Schon am Flughafen hatten sie dauernd Bilder und diverse Filmchen gemacht.
Beim Einsteigen gab es einen Tumult um die besten Plätze ganz vorn. Die Amerikaner befiel eine groteske Unruhe und Nervosität, sie veränderten sich, wurden zu Brülläffchen, benahmen sich kindisch, mitunter gar euphorisch. Jede Stufe war zu hoch, jede Halteschlaufe zu weit entfernt. Jeden ihrer Schritte begleitete ein kleiner Vortrag, was alles besser sein könnte. Martin hörte nur mit einem halben Ohr hin. Sobald sie alle saßen, stieg auch er ein. Er überprüfte, ob der Chauffeur die Lautstärke der Boxen aufs Maximum gestellt hatte, denn viele der Gäste waren nahezu taub. Er baute sich vorn unter dem Monitor auf.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Anreise, die Fahrt dauert etwa eineinhalb Stunden. Ihr Chauffeur, Heinz, bringt Sie sicher bis nach Regensburg. Ich freue mich auf unser Wiedersehen an Bord. Während der Fahrt können Sie eine Präsentation unseres gesamten Programms anschauen. Auf Wiedersehen!«
»Bye, bye, Martin! See you soon! Bleib doch hier!«
Er schaltete die DVD ein und stieg aus dem Bus. In die Halle strömten bereits die nächsten Passagiere.

  

2. DIE LANDKARTE   

Martin kam erst gegen acht Uhr abends in den Autobus, mit der letzten, dritten Gruppe. Der ganze Tag war überaus stressig verlaufen. Ab und zu gelang es ihm, hektisch einen Kaffee in sich hineinzuschütten, gerade mal gut genug, um später Magengeschwüre zu bekommen, er aß ein Kaloriensandwich mit einem Stück trockenem Käse und einem Salatblatt und schluckte eine Vitaminpille.

 

Aus der Pensionistengruppe stach eine schöne Vierzigjährige heraus, die sich als Foxy Davidson vorgestellt hatte. Sie trug ein lilaseidenes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt. Über die hohe Stirn fiel bordeauxrotes Haar. Sie musste noch vor kurzem schwarzes Haar gehabt haben. Auf den Lippen lag ein gewinnendes Lächeln, ihre weißen Zähne blitzten. Sie roch nach einem guten Parfüm und ledernen Flugzeugsitzen.

Mit Foxy hatte Martin nunmehr 39 Passagiere beisammen, doch es fehlte die letzte Person – Clark Collis. Ob sie ihn so lange bei der Passagierkontrolle aufgehalten hatten? Martin begann langsam nervös zu werden. Was, wenn dem Mann etwas passiert war? Er rief bei der Zentrale der Fluggesellschaft an, doch der Reisende hatte seinen Flug nicht verpasst, er musste sich noch irgendwo in der Halle aufhalten. Die anderen Passagiere traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er konnte es ihnen nicht einmal übelnehmen, dass sie sich nach dem Schiff sehnten – er selbst wünschte sich ja sehnlichst dorthin. Er rief noch einmal bei der Zentrale an, doch man wusste keinen Rat. Die Ankunft der Maschine lag nun bereits fünfzig Minuten zurück. Martin hatte viel Zeit gehabt, sich die unterschiedlichsten Gesichter mit Hilfe seiner Liste einzuprägen.
Endlich zeigte sich Clark Collis. Vier Flughafenmitarbeiter trugen ihn auf einem Spezialstuhl für Menschen mit extremen Behinderungen, er thronte dort wie ein afrikanischer König – oder vielmehr wie ein Leichnam auf einer Bahre. Er gab sich jedenfalls majestätisch. Vierzig Augenpaare stierten den Nachkömmling an, dem der Bauch bis zu den Knien hing. Er war 65 Jahre alt, aufgequollene Wangen und Miniaturaugen, die die Welt verdächtig musterten. Er atmete schwer, und seine Gelenke quietschten, vermutlich waren sie ausgetrocknet.
Die Helfer stellten den Transportstuhl erschöpft am Boden ab. Clark reichte ihm umständlich die Hand, und Martin begrüßte den Gast. Nach einigen Höflichkeitsfloskeln wies er ihn auf eine wichtige Tatsache hin: »Werter Herr Collis, ich muss Ihnen mitteilen, dass unsere Reise kürzere und auch längere Märsche beinhaltet. Ich weiß nicht, ob Sie …«
»Keine Angst, Martin, ich werde dir keine Probleme bereiten. Ich will lediglich in der Kabine sein und die Fahrt auf dem Wasser genießen. Das ist alles. Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen, ich werde mich nicht von Bord rühren. Du wirst keinerlei Probleme mit mir haben …«
»So habe ich das nicht gemeint, aber … ich schätze Ihre Einstellung. Ich danke Ihnen.«
»Die Firma hat mich informiert. Sie sicherten mir zu, dass du Verständnis haben würdest.«
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie in der Kabine ein nettes Programm haben werden.«
Dieses gigantische Geschöpf sprach mit einer fipsigen Stimme. Clark stieß die Worte nur so von sich, wohl auch deshalb, weil die schnellen Schläge seines Herzens auf sein Sprechtempo Einfluss nahmen.
»Verehrte Passagiere, wir können aufbrechen!«, rief Martin.

Herr Collis stellte sich mit Hilfe von drei erwachsenen Männern auf die Beine. Es fiel ihm schwer, sich irgendwie aufrecht zu halten, die Anstrengung ließ seine Beine erzittern, auch der dunkelblaue Stoff seines Hemdes bebte. Martin befürchtete, dass ihm jeden Augenblick die Knie einknicken könnten. Entgegen aller Befürchtungen schob er sich jedoch unaufhaltsam vorwärts, selbst wenn er dabei kaum Luft bekam. Die Mitreisenden halfen ihm beim Einsteigen in den Bus, sie schoben ihn förmlich nach innen, damit er irgendwie durch die Tür passte. Er brauchte zwei Sitzplätze und war nicht in der Lage, den Sicherheitsgurt zu schließen. Man sah nun allen an, wie erleichtert sie waren. Martin zählte die Pensionisten durch. Danach fuhren sie auf der A9 nach Regensburg.
Er nahm neben dem Chauffeur Platz, griff sich das Mikrophon, und 40 Reisende lauschten aufmerksam. Er schmeichelte ihnen, bedankte sich ausführlich und lobte ihre Umsicht, dass sie den Reiseveranstalter American Danube Cruises gewählt hatten. Er war sich sicher, dass es glaubwürdig klang. Ihm war aufgefallen, dass Foxy direkt hinter ihm Platz genommen hatte. Sobald er sich ein wenig zur Seite neigte, konnte er sie in einem alten Spiegel erkennen.
»Ich bin davon überzeugt, die nächsten zwanzig Tage bringen keinerlei Stress und Müdigkeit, vielmehr Freude und Erholung. Ich gehe davon aus, dass Sie einen unterschiedlichen Grad an Interesse für Geschichte mitbringen, und wenn sich jemand nicht unbedingt für eine bestimmte Sache interessiert, verspreche ich, derjenige wird auf keiner schwarzen Liste landen«.
Der geradlinige Humor funktionierte.
»Es wird der Moment kommen, wo selbst ich keine Lust mehr auf eine weitere Barockkirche oder die nächste Pestsäule habe«, kündigte er an. »Uns erwarten ungefähr dreitausend Kilometer auf der Donau, was in etwa tausendsiebenhundert Meilen entspricht. Wir wollen, dass Sie die Reise genießen. Ich werde alles tun, damit Sie diesen Urlaub niemals vergessen.«
»Wie wird das Wetter?«
»Sie haben ausgesprochenes Glück. Ich sprach heute Morgen noch mit dem Kapitän, und er versicherte mir, dass uns in den nächsten Tagen ein wunderschöner mitteleuropäischer Sommer erwartet.«
Frenetischer Applaus brandete auf. Foxy klatschte nicht mit. Ihre Lippen umspielte weiterhin ein Lächeln, und sie warf ihm allerlei Blicke zu.
»Nunmehr können Sie gerne Fragen stellen. Selbstverständlich werde
n wir jetzt nicht allzu lange miteinander plaudern, Sie sollen sich doch endlich ausruhen können. Alles Wichtige kann ich Ihnen dann auf dem Schiff erzählen.«
Er stand auf und verteilte Mineralwasser an die Passagiere. Er hasste es jedes Mal, im Bus herumgehen zu müssen, doch er hatte keine Wahl.
»Wie kommt es, dass du so gut Englisch sprichst? Die Firma hat uns zwar zugesichert, dass die Leute vor Ort unsere Sprache beherrschen, doch ich hatte mir natürlich Sorgen gemacht, ob wir uns verständigen können«, fragte Ashley.
Eine dankbare erste Frage. Er antwortete ganz automatisch. Was er antworten sollte, dafür gab es in der Firma ein ganzes Handbuch. »Ich liebe die amerikanische Sprache. Ich habe sie lange in der Schule gelernt, im Gymnasium, später dann auf der Universität …« »Du hast einen Titel, Martin?«
»So ist es. Ich bin Magister, was bei Ihnen dem Master entspricht. Ich habe Italienisch studiert und Literatur sowie Englisch und amerikanische Geschichte.«
Das Letztere hatte er frei erfunden, doch die Wirkung war umso größer. Von überall war ein »Oh« und »Ah« und anerkennendes Pfeifen zu hören. Er wusste, diese Nachricht würde sich augenblicklich an Bord verbreiten, und er würde von Anfang an Respekt genießen. »Wir sind froh, dass uns die ADC einen solch qualifizierten jungen Mann zuwies!«
»Ich bin so gern für die Gesellschaft tätig. Es ist mir eine Ehre, dabei zu sein.«
Er log wie gedruckt. Überall in Mittel- und Osteuropa arbeiteten auf Martins Position Leute mit Hochschulbildung. Unter seinen Kollegen fanden sich Sprachwissenschaftler, Musikkritiker, Theaterdramaturgen und sogar Philosophen.
»Wie oft hast du die Reise bereits absolviert?«
»Das kann ich nicht einmal mehr sagen, viele Male«, antwortete er.
Die Route war ein neues Produktangebot im Katalog, und alle an Bord machten die Reise zum ersten Mal. Bis zum Donaudelta war bislang noch nie ein ADC-Schiff gefahren.
»Macht dir die Arbeit Spaß? Es muss mitunter schwer sein, mit Menschen unserer Generation.«
»Wer hat Ihnen das denn auf die Nase gebunden? Das kann ich gar nicht glauben … aber allen
Ernstes – wenn Sie erst mal all die Schönheiten und bezaubernden Orte sehen, die Burgen, das Kulturangebot, wenn Sie die neuen Sprachen kennenlernen, dann werden Sie gewiss verstehen, dass so etwas einen Menschen niemals langweilen kann. Auf der Donau gibt es immer etwas zu entdecken.«
Die müden Reisenden machten es sich in den Sitzen bequem, sie versuchten, die beste Position für ihre Beine zu finden, und dösten ein. Ab und zu gab es noch eine Frage, Martin beantwortete sie, dann ließ er ganz leise etwas Musik laufen. Ein paar Minuten lang würde er jetzt verschnaufen können. Er öffnete einen Autoatlas und verfolgte darauf die Fahrt.
Schon von seiner Kindheit an mochte er Landkarten. Stundenlang vermochte er sie zu betrachten, und in seinem Kopf rotierte die pure Abenteuerlust. Ein jedes Land hatte eine andere Farbe, rot, braun, grün, und das Wasser war blau. Es quälte ihn die Sehnsucht nach allem, das weit entfernt lag.
Die Donau erinnerte an eine lang gezogene Schlange, deren Kopf im Schwarzen Meer lag, ihr Körper breitete sich über den gesamten Kontinent aus, und die Schwanzspitze verlor sich irgendwo im Schwarzwald. Der Fluss faszinierte ihn. Dorthin musste er mal fahren! Die Schlange hatte ihn hypnotisiert.
Schon als Kind ging er zum Lesen an die Ufer der Donau. Er stellte sich vor, wie es um ihn herum nur so vor Gestalten aus diversen Büchern wimmelte – die Seelen verblichener Schiffer, Seeleute mit einem Eisenhaken, die Schatten von Erhängten auf ihren Galgen, verrückt gewordene Kapitäne, blutrünstige Piraten und ausgesetzte Säuglinge in ihren Wiegen.
In den Donaugeschichten mangelte es nicht an Gespenstern und Geistern, die während all der schrecklichen Zeiten den Fluss heimsuchten und die Menschen in unbekannte Tiefen zogen; die Wassermänner ersäuften nur zu gerne Kinder. Er träumte davon, unweit die Stimmen trauriger Mütter und Ehefrauen zu vernehmen, er hörte die Stimmen der Ertrinkenden, das Gewimmer der verlassenen Säuglinge, bis der Fluss ihre nächtlichen Klagen verschluckte.
Der Bus nahm nach hundertfünfzig Kilometern den letzten Teil der Etappe in Angriff. In der Ferne konnte man schon die Umrisse der alten Donaubrücke erkennen. Hier nahm die Donau drei weitere kleine Zuflüsse in sich auf: die Laaber, die Naab und den Regen. So kam es, dass Regensburg als die Stadt der vier Flüsse galt.
»Meine sehr geehrten Reisenden, demnächst werden wir gemeinsa
m das Schiff betreten. Wenn Sie durch die vorderen Fenster blicken, erkennen sie die Donau und die sogenannte Steinerne Brücke, sie wurde 1146 auf Geheiß des bekannten Fürsten Heinrich dem Stolzen fertiggestellt. Sie wurde zum Vorbild für viele andere europäische Brücken, auch die berühmte Karlsbrücke in Prag orientiert sich an ihr. Die Brücke lässt kleinere Schiffe unter sich passieren, doch die Wege der internationalen Schifffahrt stromaufwärts enden zumeist hier. Von den ursprünglich drei Türmen blieb nur einer erhalten, man nennt ihn das Brücktor. Wer es schafft, diesen Namen zu wiederholen, der hat bei mir einen Drink frei. Und rechts von Ihnen erwartet sie bereits die America!«
Sobald die Passagiere das Schiff sahen, verschlug es ihnen den Atem. Es dämmerte, doch auf dem Blechpanzer war ganz deutlich und leuchtend die Aufschrift »MS America« zu erkennen, aus eleganten Metallbuchstaben zusammengesetzt. Das Schiff erinnerte an ein lebendig gewordenes Gemälde, das aus den Tiefen aufgetaucht war, um dort irgendwann erneut unterzutauchen. Fachleute hielten die MS America für das schönste Donauschiff. Die Konstruktion überragte alles andere in ihrer Nähe. Obenauf befand sich die Kapitänsbrücke. Der Rumpf sah aus wie ein großes Wassertier, das nur darauf wartete, mit Menschen gefüttert zu werden.
Die America hatte vor einem Jahr sogar einen Fahrtrekord auf dem Weg von Melk nach Passau aufgestellt. Ihr Innenleben hatten die Ingenieure überaus innovativ und überlegt gestaltet: drei Stockwerke mit Kajüten, ein zwanzig Meter langer Pool, ein Restaurant, eine großzügige Wellnesszone, zwei Saunen, ein Rauchersalon, es gab sogar eine kleine Bibliothek.
Das Schiff war von einer weithin bekannten Werft im finnischen Hafen von Turku gefertigt worden. Es beeindruckte nicht durch Größe, die auf Flüssen per Verordnung geregelt blieb, sondern vielmehr durch seine Gesamtkonzeption und all die technischen Errungenschaften wie die energiesparenden Heizmodule oder das integrierte Warentransportsystem. In den Kajüten konnte man neunzig amerikanische Fernsehprogramme auf einem Plasmabildschirm verfolgen, Computerspiele für Pensionisten hochladen oder im Internet surfen. Das Display war extra für weitsichtige Menschen eingerichtet worden.
Die America verkehrte von März bis Mitte Januar, und danach verbrachte sie sechs Wochen in holländischen Docks, wo sie sorgfältig auf die nächste Saison vorbereitet wurde, Kontrollen, Zertifikate und Registrierungen – in der Branche herrschten strenge Regeln und Vorschriften.
»Bitte nehmen Sie Ihr Handgepäck mit. Die großen Taschen und Koffer wird Ihnen unser
wunderbares Team direkt in Ihre Kajüte bringen. An der Rezeption holen Sie sich einfach Ihren elektronischen Schlüssel, sowie Ihren Schiffspass ab, der dazu dient, dass ich und mein Team immer wissen, ob sich alle an Bord befinden. Bitte sehr, Sie können aussteigen.«
Martin ging voraus. Eine Rampe führte zum Eingangsbereich, sie war auf beiden Seiten mit genieteten Metallleisten gesichert. Durchsichtige Glasscheiben erlaubten einen ersten Blick ins Innere.
Das Begrüßungskomitee hatte sich nach einem genau festgelegten Protokoll am Eingang aufgebaut und nickte den Ankömmlingen zu. Den Amerikanern gefiel dieses Ritual. In der Mitte stand der rumänische Kapitän Atanasiu Prunea, in weißer Hose und Hemd, er trug eine dunkelblaue Weste und eine edle Seidenkrawatte. Seine Hand zierte ein großer goldener Ring mit einem schwarzen Edelstein, und auf seiner Kapitänsmütze war mit silbrigem Faden der Name des Schiffes eingestickt. Seine Uniform war sein wertvollster Besitz, sie kostete mehr als 3000 Euro, und er trug sie mit Noblesse. An sein Amt waren Seriosität und Haltung geknüpft, er legte auf beides Wert. Er erwartete sich von seiner Besatzung keinerlei übertriebenen Respekt, allerdings forderte er ein Mindestmaß an Anstand und Reinlichkeit. Dank seiner zahlreichen Fahrten auf den europäischen Flüssen war Atanasiu in der Lage, sich mit den Angehörigen der meisten Nationalitäten gebrochen in ihrer Muttersprache zu unterhalten. Seine Schwächen lagen beim Englischen und dem Alkohol – er hatte es nie geschafft, beides zu beherrschen. Sein fürchterliches Sprachdefizit konnte manchmal aber durchaus charmant wirken. Er begrüßte die Passagiere mit folgenden Worten:
»Also, ich willkommen to you! Haben Sie fun! You verstehen?! Danke! Thank you! Spaß, Spaß!«
Martin ging ins Innere des Schiffes, in die erste Halle, die nach Raumspray duftete, er begrüßte die Kollegen. Nach diesem ersten Tag fühlte er eine wohltuende Müdigkeit in sich aufsteigen, vergleichbar mit der von Schauspielern, die gerade ihre Premiere absolviert haben. Er war längst an das sanfte Schaukeln gewohnt, ein jeder Schritt bedeutete für ihn eine sachte, angenehme Rückkehr. Die Eingangshalle wurde von einem Stiegenabgang umfasst, den man bei Empfängen teilen konnte.
»Guten Tag, fühlen Sie sich an Bord wie zu Hause!«, erklärte der Erste Offizier Tamás Király. Bei der Begrüßung der Gäste standen ihm auch noch zwei Kollegen zur Seite, die Zweiten Offiziere Emil und Sorin.
»Seien Sie willkommen bei uns. Guten Abend. Erlauben Sie? Wir bringen Ihre Tasche gern zu Ih
rer Kajüte.« Weitere Besatzungsmitglieder gesellten sich dazu.
»Erlauben Sie, bitte schön, noch zwei Schritte, Madame, sehr gut!«
Am Schiff herrschte eine (für Amerikaner) ideale Temperatur, die, bedauerlicherweise, der europäischen Besatzung nicht gerade entgegenkam. Die eisige Kühle dämpfte immerhin die Ausdünstungen der Passagiere. Martin erteilte dem Ersten Offizier Tamás ganz genaue Anweisungen, welche Touristen Kinderportionen wünschten, wer welches gesundheitliche Handicap aufwies und beschrieb auch die Lage von Clark Collis, dem man das Essen würde servieren müssen.
Die Passagiere brauchten jetzt Schlaf. Sie tranken ein Glas Orangensaft, holten sich ihre elektronischen Schlüssel ab und gingen zu ihren Kajüten. Die VIPs erhielten die schönsten Zimmer am Oberdeck, die doppelt so groß waren wie alle übrigen. Die anderen mussten aufs Unterdeck. Martin fühlte sich erschöpft, ausruhen konnte er sich allerdings jetzt noch nicht.

  

3. WELLE  

Nach dem Abendessen, das Martin allerdings geschwänzt hatte, fand ein »Kennenlernabend« statt. Martin lief kurz in seine Kajüte. Dort krempelte er die Ärmel seines Hemdes hoch, wusch sich mit kaltem und warmem Wasser Hände und Handgelenke, dann beugte er sich vor und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn. Diesen Reinigungsakt führte er vor und nach jedem Ausflug durch, als ob er so auch seine Gedanken reinigen könnte. Unter die Achseln sprühte er sich ein Deo, er wechselte das Hemd und streifte sich ein Sakko über.
Er beeilte sich, in den Salon zu kommen, einen großen runden Raum mit Podium und Kuppel, alles war voller lärmender Amerikaner, Gespräche und Gelächter hallten durch das Schiff.
Die Decke war mit Stuck verziert und die Bar mit einem hochwertigen Marmorimitat verkleidet. In der Ecke stand ein Konzertflügel, vor dem ein junger ungarischer Klavierspieler, Gábor Kelemen, saß, vormals ein großes Talent, heute Alkoholiker. Nicht einmal in seiner Freizeit verließ er das Schiff. Als Klavierspieler mit außerordentlichem Imitationstalent pflegte er abends aufzuspielen. Liebend gern forderte er das Publikum auf zu erraten, wen er gerade zum Besten gab. Doch die Amerikaner, die meist schon recht angeheitert waren, wünschten sich ohnehin ständig Schlager und Evergreens aus ihrer Jugend: Elvis oder Frankie.
Auf ein Zeichen hin unterbrach Gábor sein Spiel, und Martin schaltete das Mikrophon ein. Konzentriert machte er die Amerikaner mit dem Programm vertraut, das sie in den nächsten zwanzig Tagen erwarten würde, erklärte in aller Kürze die Regeln der Schifffahrt, zählte die angebotenen Dienstleistungen auf und beantwortete Fragen. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der Stadtbesichtigung am nächsten Tag. Unauffällig hob er dabei die Bedeutung seiner Arb
eit hervor.
»Ich stehe Ihnen rund um die Uhr zur Verfügung. Ein jeder von Ihnen kann auf der Rückseite seines Namenschildes meine Mobilnummer finden. Ganz egal was passiert, ich bin da, um Ihnen zu helfen. Wenn Sie mich mal nicht sehen, so fürchten Sie sich nicht, das ist ein gutes Zeichen. Es heißt nämlich, dass alles funktioniert und ich mich gerade darum kümmere, dass es am nächsten Morgen auch so ist.«
Er klopfte mit einem Messer gegen das Glas und prostete dem Kapitän und dem ganzen Team zu, danach hieß er die Passagiere ganz offiziell willkommen. Die Korken flogen, und Applaus ertönte. Die uniformierten Kellner stoben auseinander.
An jedem Tisch standen ein silbernes Gefäß mit einer gekühlten Flasche Don Perignon sowie eine Wasserkaraffe mit Eiswürfeln. Aus der Küche brachte man auf gewärmten Platten und in diversen Porzellanschüsseln verschiedenste Kanapees. In einer Ecke servierte man Kaffee. Der Cognac wurde feierlich präsentiert.
Gábor setzte sich wieder ans Klavier und improvisierte. Die Gespräche und das Gelächter verstummten, die Zuhörer standen auf und hörten zu, mit Champagnergläsern in den Händen. Bunte Lichtlein wurden eingeschaltet. Draußen war es dunkel geworden, und die Kellner räumten das Tanzparkett leer. Die Pensionisten bildeten überraschend schnell einige Paare. Martin schritt zufrieden durch den Raum und sprach einige Gäste an, nachdem er auf ihr Namenskärtchen geschielt hatte.
»Guten Abend, Jeff!«, sagte er zu dem Mann, der nur Wasser trinken durfte.
»Ich würde so gern etwas trinken!«, ließ ihn Jeff mit knirschenden Zähnen wissen.
»Amüsieren Sie sich gut, werte Catherine?«, fragte Martin eine VIP-Reisende.
»Danke, Martin, es geht mir gut, ich hab allerdings schon viele Schifffahrten hinter mir, es ist demnach nichts Neues für mich, doch ich lasse mich gern überraschen«, antwortete sie. »Das ist meine Cousine, sie heißt Peggy Patterson. Ich möchte euch bekannt machen.«
»Peggy, es ist mir eine große Ehre, für Sie tätig sein zu dürfen«, sagte er und stellte sich auch diesem Monster vor.
Er wollte der Dame seine Hand reichen, doch sie machte ein finsteres Gesicht und streckte ihm nur widerwillig einen Finger entgegen. Offenbar drehte sich ihr bei seinem Anblick der Magen um. Sie fürchtete sich vor Osteuropäern und Bakterien und war prinzipiell sehr skeptisch, wenn sie a
ls amerikanische Staatsbürgerin einem Ausländer die Hand reichen sollte. Eine Haltung, die Martin liebend gern auf das ganze Schiff ausgeweitet gesehen hätte. Sie wirkte kühl, mit strengen Lippen und einer geraden Nase, doch hinter ihren schwarz geschminkten Augen vermutete er einen schlummernden Vulkan. Sie trug auffällige Kleidung und bemühte sich wohl darum, einen jugendlichen Gesamteindruck zu vermitteln. Ihre lackierten Nägel sahen aus wie Blutstropfen. Aufmerksam musterte sie das Martini-Glas, welches ihr der Kellner reichte, sie wischte den äußeren Rand mit einem Desinfektionstuch ab. Langsam öffnete sie ihre schmale Krokodillederhandtasche und zauberte eine längliche Börse aus dem Reptil hervor. Mit ernster Mimik reichte sie Martin einen Dollarschein.
»Das ist für den Transport vom Flughafen«, kommentierte sie.
»Vielen Dank, das wäre nicht nötig gewesen«, erwiderte Martin und verabschiedete sich.
Er kam vom Regen in die Traufe. Ein paar Minuten lang versuchte er, sich mit Gordon Murphy zu verständigen, einem Mann mit von Pockennarben entstelltem Gesicht, dessen Kopfhaut mit Schuppen übersät war. Wenn dieser den Mund öffnete, schien seine Sprache nur aus Vokalen zu bestehen.
»Gefällt Ihnen Ihre Kajüte?«, fragte Martin.
»Eeeee?«, rief der Mann.
»Sind Sie mit Ihrer Kajüte zufrieden?«, wiederholte Martin. »Aaaaa!«
Unwillkürlich zuckten Martins Wangen. Er rieb sie diskret mit den Fingerspitzen und gab sich alle Mühe, gefasst zu bleiben.
»Ich wünsche Ihnen eine gute erste Nacht am Schiff!«, verabschiedete er sich an der Tür. »In dieser Nacht werden angeblich alle Wünsche wahr. Ruhen Sie sich aus. Morgen erwartet Sie ein exzellentes Programm!«

»Auch dir eine gute Nacht. Danke für den wunderbaren Abend!«
»Ich danke Ihnen. Gute Nacht!«
Foxy blieb. Sie wedelte mit ihrem Fächer und sah ihn an. Dann forderte sie ihn zum Tanz auf, nach dieser Nummer waren sie die Einzigen auf dem Parkett. Sie lächelte, schaute ihm in die Augen und blinzelte. Er spürte ihren Puls an seiner Brust. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
»Woher bist du, wenn die Frage erlaubt ist?«, wollte er wissen. Englisch bot ihm die wunderbare Möglichkeit zwischen Du und Sie nicht entscheiden zu müssen; es klang weder unhöflich, noch zu zugeknöpft.
»Ich bin aus Donau«.
»Entschuldige, ich verstehe nicht«, sagte er lächelnd.
»Aus Donau in Amerika. Aus einer Kleinstadt im Norden der USA, Minnesota um genau zu sein, wenn dir das etwas sagt.«
»In Amerika war ich noch nie. Und doch bin ich jeden Tag dort. Wie viele Einwohner hat Donau?«
»Ungefähr fünfhundert. Jedes Jahr werden es weniger. Du kannst dir vorstellen, warum …«
»Nein. Wie lebt es sich denn so bei dir?«
»Super. Donau liegt am Highway 212, das ist eine ziemlich wichtige Straße.«
»Ich wusste, dass es in Amerika ein Paris, Moskau und St. Petersburg gibt. Doch ich hatte keine Ahnung, dass es dort auch ein Donau gibt.«
»Die Stadt wurde 1901 gegründet. Was sagst du zu den Alten? Es muss schrecklich für dich sein.«
»Auf den Schiffsreisen dominieren nun mal die Pensionisten. Dabei wäre es auch ein toller Urlaub für ein jüngeres Publikum.«
»Nur haben die in Amerika kein Geld«.
»In Europa erst recht nicht. Ich wäre aber nicht hier, wenn ich diese Arbeit so gar nicht aushalten würde. Was machst du denn?«
»Ich bin Juristin mit eigener Firma und vier Angestellten. Kinderlos. Geschieden. Und du? Bekommst du regelmäßig Heiratsanträge von alten Damen?«
Kokett wandte sie ihm den Kopf zu, und Martin fühlte sich unwohl. Ihre Augen loderten.
»Wie es eben so ist. Ich bin allerdings Single«.
»Das kann ich nicht wirklich glauben.« Mit der Hand fuhr sie ihm durchs Haar. Das war jetzt eindeutig zu viel. »Was machst du denn, wenn du frei hast und mal nicht allein auf Urlaub fährst?« Sie fasste seine Hand und drückte sie. Ihr Atem ging schneller. »Ich spiele Tennis und Golf. Und unterhalte
mich gern mit angenehmen Menschen, ich freue mich einfach, wenn ich jemand kennenlerne, der es wert ist … Martin … zu dir oder zu mir?«
Er war verblüfft, dachte zuerst, falsch gehört zu haben.
Es passierte ihm schon manchmal, dass ihn einsame Reisende provozierten, sich aufreizend verhielten und auf der Suche nach einer Gelegenheit waren. Er hatte auch schon erlebt, dass eine Alte, die ihn in einer angeblich dringenden Sache sprechen wollte, mit entblößten Brüsten erwartete. Doch auf diesen Angriff war er nicht vorbereitet.
Wellen prallten gegen die Bordwand, das Schiff schaukelte ein wenig, und er fluchte innerlich, weil er so viel getrunken hatte. Er folgte Foxy auf dem weichen Teppich im langen Flur. Sie betrat ihre Kajüte auf dem oberen Luxusdeck. Martin drehte sich vor der Tür um, ob ihn auch niemand sah, doch der Gang war leer.
Zwei Lampen verliehen ihrer Kajüte eine gemütliche Atmosphäre. Die oberen Fenster konnte man nicht öffnen, die Lüftung erfolgte hauptsächlich mittels Klimaanlage, das Zimmer hatte jedoch auch einen kleinen Balkon – laut einhelliger Meinung der größte Vorteil.
Das Lederfauteuil mit hoher Lehne stand bei einem kleinen Tisch. In der Ecke thronte ein ausziehbares Bett, das Foxy zielsicher ansteuerte. Blitzschnell zog sie sich ihre Bluse aus und öffnete den BH. Martin konnte seinen Augen nicht trauen und sagte nur:
»Du wirst es mir zwar nicht glauben, Foxy, doch ich hatte schon seit drei Jahren keinen Sex. Und das wird sich heute nicht ändern. Ich arbeite zwar auf einem Schiff und bin Osteuropäer, doch keinesfalls eine Hure. Du kannst dich ruhig über mich beschweren, das habe ich schon öfter erlebt. Gute Nacht.«
»Martin, glaub mir, ich meine es ernst …«, flüsterte Foxy.
Mit gekrümmten Fingern fuchtelte sie in der Luft herum, als ob sie ihm die Augen ausstechen wollte. Die ihrigen verdunkelten sich.
»Klar. Es gibt nur ein paar Details, die so nicht stimmen. Du hast vier Kinder und bist zum dritten Mal verheiratet. Dies ist dein zehnter Urlaub mit der ADC, und bei zwei anderen Reisen gab es schon Probleme; sagen wir mal, Beschwerden über unwillige Reiseführer.«
»Woher…? Das ist eine…!«
»Im Unterschied zu meinen Kollegen lese ich die Passagier-Dossiers auch. Man weiß ja nie, wen man trifft. Gute Nacht …«
Er übertrieb ein wenig, doch tatsächlich las er die Informationen, die ihm die ADC zukommen ließ.

Er konnte danach lange Zeit nicht einschlafen, deshalb übersetzte er noch zwei Stunden lang im Bett und schlief erst in den frühen Morgenstunden endlich ein.
 


© Leseprobe: Michal Hvorecký, Tropen bei Klett-Cotta; Fotos: Klett-Cotta; Vladimir Tatlin, Der Fischverkäufer, 1911; Reuters; Near Danube/Minnesota, atawalk.net.

 

 

Tod auf der Donau - Roman, aus dem Slowakischen von Michael Stavarič (Orig.: Dunai v Americe)
2. Aufl. 2012, 272 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-608-50115-5

 

s. hier auch : Empfehlungen Literature in Flux - Eine Reise auf und entlang der Donau 

 

 



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