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Vom Verlieren der Sicherheiten

von Katja Schickel


 

 

Terézia Mora, Das Ungeheuer
688 S., geb., Luchterhand Literaturverlag, 2013

€ 22,99 [D], € 23,70 [A],CHF 32,90*(* empf. VK-Preis)
ISBN: 978-3-630-87365-7



 







Man kann (muss aber nicht) die Hauptfigur aus Terézia Moras neuem Roman, der gerade den Deutschen Buchpreis 2013 gewonnen hat, kennen, den Informatiker Darius Kopp aus Der einzige Mann auf dem Kontinent, der einigermaßen unentschlossen und lethargisch durchs Leben tappt, Hindernissen (also eigentlich allem Unberechenbaren) auszuweichen versucht, sich so wenig wie möglich exponieren will, um ja nichts falsch zu machen: also durchaus das Portrait eines zeitgenössischen Mannes, dessen Geschichte extrem langweilen könnte, wäre sie nicht so scharfzüngig und bissig, so heiter und melancholisch erzählt. Er ist eigentlich kein Sympathieträger, aber symptomatisch für unsere Zeit. Man(n) ist weder auf- noch abgeklärt, man tut nur so, man hat alles im Griff, aber nichts in der Hand, schließlich blickt man gar nicht mehr durch, weil man schon vorher nicht richtig hingesehen hat. Das wiederum findet man weder erwähnens- noch beklagenswert. Man funktioniert im Business. Schlaf, Arbeit, Schlaf. Cash. Das ist die Konstante im Leben, die zählt. Schlimm wird es immer erst, wenn man unfreiwillig aus diesem Kreislauf herausfällt.

In den letzten Jahren haben schon so unterschiedliche Autoren wie Graham Swift, Jaroslav Rudiš, Emil Hakl oder die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ihre Protagonisten mit Särgen oder Urnen über Land (und Ländergrenzen hinweg) fahren lassen und sie auf wundersame Weise alltäglichen wie bizarren Begegnungen und Abenteuern ausgesetzt. Mora lässt ihren Helden mit der Asche seiner Frau im Kofferraum nicht nur durch halb Europa irren (Ungarn, Albanien, Armenien, Georgien). Flora begleitet ihn tatsächlich. Unterm Strich. Den hat die Autorin nämlich Seite für Seite durchs ganze Buch gezogen, um oberhalb von ihm die ziemlich heil- und ziellose Fahrt dieses Mannes zu erzählen, der nach dem Selbstmord seiner Frau, einer gebürtigen Ungarin, zunächst regelrecht in seiner Wohnung und seinem, lediglich von einem alten Freund und dem täglichen Pizzadienst unterbrochenen Selbstmitleid versackt, weil er ihren Freitod nur als jähen Einbruch in ihr gemeinsames Glück begreifen kann, sich dann aber doch mit der Urne auf den Weg macht, um einen Friedhofsplatz und irgendwie auch eine Erklärung für den Tod seiner Frau zu finden. Sozusagen in der Unterwelt lebt sie nun, seine tote Frau, und bekommt – posthum – eine wesentliche Stimme in der Geschichte eines Paares, das doch glücklich & zufrieden miteinander schien, aber offenbar in vollkommen verschiedenen Welten lebte. Was Darius immer noch und weiterhin zu verdrängen versucht, wird mit den nach Floras Tod gefundenen und vom Ungarischen ins Deutsche übersetzten Dateien freigelegt und kommentiert. Das sind Bruchstücke aus ihrem Leben in Tagebuchform und Schnipseln, das ihr Ehemann nicht einmal ansatzweise kannte, manchmal profane Alltagsnotizen, manchmal poetische oder sarkastische Beschreibungen eines ihm fremden Lebens, mit ihm, vor allem jedoch ohne ihn. 

Die Geschichte erinnert ein wenig an den alten Mythos von Orpheus und Eurydike, in dem der Sänger, um weiter leben und von der verlorenen Liebe singen und damit berühmt werden zu können, seine Geliebte verlieren muss. Darius hat Flora nicht 'gesehen', ihre Krankheit, die Depression nicht wahrgenommen, vermutlich nicht wahrhaben wollen. Es ging ihnen doch gut, sagt er sich, sie waren eingerichtet in „entsprechender Vollausstattung an Lifestyle und Technik“. So denkt Darius an die gemeinsame Zeit, „seine glücklichste“. Er hat keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellung und seinen Empfindungen.

Trotz aller (tatsächlichen oder behaupteten) Liebe haben sich beide nicht 'erkannt', im gemeinsamen Nebeneinander (zuerst bestimmt durch die Arbeit, dann die Arbeitslosigkeit) verfehlt, wie es so schön heißt. Erst im Weiterleben des Mannes und im Tod der Frau, in der klugen Parallelführung durch Terézia Mora, die die jeweiligen Erzählungen alternierend verstärkt, hervorhebt, konterkariert oder wieder zerstreut, werden die tatsächliche Spannungen zwischen den beiden, die Risse, die Spaltung sichtbar. Im Vergleich der (mindestens) zwei Welten tritt das eklatante Fehlen wirklicher Lebendigkeit, von Austausch und Begegnung in dieser Beziehung schmerzhaft, oft auch drastisch zu Tage. Moras bemerkenswerte Erzähl-Kunst besteht darin, dass man beim Lesen ein buchstäbliches Hin und Her im Oben und Unten und den verschiedenen Sprachen erleben kann und dennoch nie die Fäden verliert.

Das titelgebende Ungeheuer ist zum einen - und vor allem - die von der Frau selbst so genannte Depression, gegen die sie jahrelang erfolglos ankämpft; in Betracht kommt allerdings auch der Mann, der nicht sehen kann oder will, was um ihn herum geschieht, was mit seiner Frau passiert, schließlich all das Ungesagte, das monströs zwischen ihnen stand und steht, der Verlust liebgewordener Sicherheiten, letztendlich auch die (Arbeits-)Verhältnisse, die solche Konstellationen fördern und begünstigen und die "Lüge ... zur Weltordnung [machen]" (Kafka). Die Autorin verfügt über viele Stilmittel und Tonlagen, die Verluste zu benennen, sie tatsächlich zur Sprache zu bringen; Schmerz und Trauer zuzulassen, die oft in Fühllosigkeit und Schweigen enden; die Zerrissenheit in diesem Paralleluniversum zu zeigen; Ausflüchte präzise wie ironisch zu begleiten und sich über sie lustig zu machen, wenn sie drohen, allzu forsch oder sentimental zu werden; also menschliches Scheitern, jenseits der Marken Selbstoptimierung und Geschäftigkeit, wirklich ernst zu nehmen, gerade das in Liebesdingen. Eingebettet in eine erlebnisreiche Odyssee voller skurriler Begebenheiten ist die Geschichte von (Über-)Leben und Tod eine vertrackte Suche nach dem richtigen Platz  - wahlweise für eine Tote, für die Lebenden und ihre jeweilige Wahrheit.


07.10.2013


s. hier auch: Terézia Mora - Grenzen, Spots



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